DIE STIMME DER VERNUNFT

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Die zweite Pforte der Hölle

Selbst mit völliger Abstinenz eines religiösen Hintergrunds gewöhnt man sich an die Vorstellung, dass da draußen Dinge existieren, die sich mit Worten, Vernunft, Glauben oder gutem Geschmack nicht erklären lassen. Es muss eine Hölle geben, schon einfach deshalb, weil sich damit einige Dinge leichter ertragen lassen. Die in einer der letzten Ausgaben angeschnittene Theorie eines eigenen Orkus für verstorbene Musiker wird am Ende mit hoher Wahrscheinlichkeit etwas sein mit weit mehr als sieben Pforten, andererseits, wer kann das bei Glaubensfragen schon so genau sagen?

Ich habe den Teufel gesehen.
Er ist Musiklehrer und verbeamtet. Die zweite Musikerhölle befindet sich in einer beliebigen Schulaula, oder das, was man in brutalistischer Architekturtradition als solche deklariert hat. In regelmäßigen Abständen werden hier als Kulturveranstaltung getarnte dunkelgraue Messen abgehalten. Als Hohepriester fungieren ambitionierte Musiklehrer, die mit dem zur Verfügung stehendem Material (Schüler und Drohneneltern, die sich als Elternchor tarnen, um so ihren Sprösslingen unauffällig folgen zu können) ihre Spottverse auf musikalische Großtaten umsetzen. Die heimlichen Stars des Abends sind die Wiedergänger verstorbener Musiker, die sich in Gestalt verpflichteter Eltern und des Hausmeisters dem Schauspiel nicht entziehen können. Bei den Eltern ist es lediglich ein jährlich wiederkehrendes Fegefeuer, das über einen absehbaren Zeitraum bis zum Schulabschluss des Sprosses seine Wiederholung findet. Für den Hausmeister tritt erst mit dem Erreichen des Rentenalters oder seinem Selbstmord die verdiente Ruhe ein. Wenn es schlecht läuft, wird er allerdings in einem nicht enden wollenden Kreislauf erneut als Hausmeister wiedergeboren. Eine höchst perfide Vorstellung, die exakt aus diesem Grund höchstwahrscheinlich zutreffen wird.

Ein Blick in den Ort der Finsternis. Wer, wie ich, in Ermangelung eigener Kinder noch nie in das zweifelhafte Vergnügen einer Schulchorveranstaltung kam, kann einfach mitgehen. Alleinerziehende freuen sich unglaublich über jede Begleitung, auch wenn das mit dem „geteilten Leid“ eine Lüge ist, denn wie beim Sterben ist man am Ende doch ganz allein, zumindest wenn man Musik bis dahin wenigstens „mochte“.

Sippenhaft und Gruppenzwang: Du wolltest unbedingt ein Kind, dann trag gefälligst auch die Konsequenzen. Teilnehmende Kinder der Aufführung, deren Eltern mit zweifelhaften Ausreden (Ebola, Chemotherapie, Beugehaft oder Ableben) nicht erscheinen, werden fortan gemobbt. Die eigenen Mitschüler sind dabei das kleinere Problem, vielmehr lassen die verantwortlichen Lehrkörper (oben genannte Hilfsdämonen in Gestalt von Musiklehrern) ihrer Verachtung freien Lauf. Nicht selten enden solche psychologischen Exzesse im aufgenötigten Schulwechsel oder im Freitod. Schlaue Eltern verbieten ihren Kindern vorsorglich jegliche Betätigung im Chor, im Schulorchester oder in der Theater-AG, ganz schlaue schenken ihren Sprösslingen hingegen einfach eine Playstation.

Themenabend: Mittels eines Programmheftes, in das unauffällig kleine Fehler eingearbeitet wurden, die blasphemisch das Auge und den Intellekt beleidigen, wird ein sorgsam geplanter Abend suggeriert. Garantiert nicht so schlimm wie der vorhergehende, hundertmal besser organisiert und fehlerfrei. Ist man einmal drin, werden die Türen mit einer unsichtbaren großen Kette verschlossen und man erlebt exakt dasselbe Folterschauspiel wie beim letzten Mal, nur noch schlimmer.

Wir haben geprobt. Was nicht hilft, wenn sich die Teilnehmer aus takt- und stimmunbegabten Schülern zusammensetzen, die sich durch die krude Setliste des Mottoabends hangeln. Es gilt die Faustregel: je jünger, desto grausamer. Besonders alternativbegabte Sprösslinge werden bevorzugt als Solisten eingesetzt. Nicht weil sie es können, sondern weil sie zu dämlich sind zu reflektieren, wie sehr sie sich für alle Zeiten zum Affen machen. Den bei so einem Anlass erworbenen Spitznamen werden sie nie wieder los.

Ambiente ist alles. Was könnte als Austragungsort eines Sammelsuriums verpasster Einsätze und unermüdlich (hochkant!) handyfilmender Erbgutträger schöner sein als die mit einer Girlande und zwei Scheinwerfern liebevoll ausgeleuchtete, stickige Aula, deren Fenster man zur Frischluftzufuhr nicht öffnen kann, weil sie zum Schutze der Jugend für den Normalbetrieb zugeschweißt wurden. Um das Vergnügen in diesem Stahlbetonsarg, in dem grundsätzlich alles scheiße klingt, perfekt zu machen, wurden von der Ergonomiekommission des Kultusministeriums Stühle eingekauft, die bereits nach drei Minuten irreparable Rückenschäden verursachen.

Das Verursacherprinzip. Bei der Titelauswahl des englischen Themenabends* (*Ähnlichkeiten mit realen Begebenheiten sind rein zufällig) gilt als einzige Maxime, dass nichts jünger sein darf als vierzig Jahre, um zielgerichtet all jene schönen Erinnerungen zu zerstören, die sich für das Dilemma hier überhaupt verantwortlich zeigen, nämlich fortpflanzungswillige Eltern! Ohne sie gäbe es diese Veranstaltung nicht, also ist es nur fair, ihre positiven Konnotationen zu bestimmten Titeln ihrer eigenen Jugend für immer zu zerstören.

Der Weg ist das Ziel. Man freut sich schon, wenn die Stücke wenigstens so ähnlich klingen wie das Original oder wenn immerhin jeder zweite Ton einigermaßen getroffen wird. Bei einer abenteuerlichen Songauswahl wird das ganze perfide Ausmaß teuflischer Bösartigkeit erst richtig sichtbar, wenn man nach dem „Miss Marple Theme“ und dem „Lion King Medley“ schließlich „Bohemian rhapsody“ von einem Jungen verunstalten lässt, dessen Stimme allenfalls zur Synchronisation von Kermit dem Frosch taugen würde. Die Vorstellung, welche Qualen die Reinkarnation von Freddy Mercury als Hausmeister durchmachen muss, lassen sich in Worte kaum fassen, erst recht nicht als der Text – ironisch versteht sich – von „Mama“ abgewandelt als „Mutti“ von einem Muppet vorgetragen wird.

An einem schöneren Ort. Die Vorstellung, an einem besseren Ort zu sein, hilft nicht, schließlich wäre der Saal mit einem Schlag sehr leer, zumindest dann, wenn alle Anwesenden kurz ehrlich wären.

Pause. Irgendwann kommt sie, die unvermeidliche Pause. Gäbe es so etwas wie eine Dramaturgie in dieser wahllosen Aneinanderreihung von Songs (Andrew Lloyd Webber-Medley kurz vor ein paar Takten SEX PISTOLS), die sonst nichts miteinander zu tun haben wollen würden, wären wir hier wieder am Anfang. Aber nein, es geht nur um die Frage, wie lange das Ganze noch dauert. Die Verlängerung der Qualen wird offiziell auf zwanzig Minuten angesetzt, dauert dann aber doch mindestens eine halbe bis Dreiviertelstunde, weil der Kuchen- und Sektverkauf letztendlich doch wieder schrecklich unorganisiert ist. Die Pause ist beendet, wenn das letzte Kuchenstück verkauft und der letzte lauwarme Kupferberg ausgeschenkt ist.

Menschenwerk und Teufels Beitrag. Die Strategie, allen gewöhnlichen Eltern die Gewöhnlichkeit der eigenen Brut unmissverständlich vor Augen zu führen, ist so simpel wie perfide. Dazu haben die Incubi zwei tatsächlich begabte Kinder mit einem eigenen Solopart in dieses Schauspiel gemogelt. Nun müssen alle anderen dabei zusehen, wie es richtig geht. Da hilft auch keine Suche nach Papiertüten gegen die Hyperventilation, ihr musstet eure Blagen ja unbedingt im Alkoholrausch zeugen. Zwei Elternpaare reagieren völlig bescheiden mit stürmischem Applaus, während der Rest des Saales sie verflucht und am liebsten umgehend steinigen würde, was daran scheitert, dass die Türen immer noch verriegelt sind und man nicht an das Wurfmaterial kommt. Sie werden die Ersten sein, die nachher rennen, weil sonst jemand ihre Bremsschläuche manipuliert.

Nachspiel. Irgendwann ist es dann doch vorbei. Dreißig bis vierzig Jahre Musikgeschichte liegen geschändet mit blutigem Rektum danieder. Aber wer dachte, dass er jetzt aufspringen könnte, um Gehenna zu entfliehen und vor dem nahen Erstickungstod etwas Sauerstoff zu ergattern, sieht sich betrogen. Es folgen die Danksagungen an die Folterknechte, die sich gegenseitig Blumen und jede Menge überflüssiger schöner Worte zustecken. Vorbei ist, wenn die Klingelbeutel für die „freiwillige Spende“ an den Türen positioniert wurden, die einem bei ausbleibender Spende auch das Bein stellen dürfen. Freddys Reinkarnation darf den ganzen Dreck schließlich aufräumen, während Elvis als Liftboy in Las Vegas arbeitet und dort tagtäglich seine Top 20-Stücke in Endlosschleife als Easy-Listening-Version ertragen muss.