Schon seit einer ganzen Weile ist „flexible ticketing“ ein Thema, also das „Spiel“, dass gerade bei größeren und großen Bands die Preise nachfrageabhängig gestaltet werden. BLINK-182 war zuletzt so ein Thema, über 200 Euro konnte/sollte man da zahlen, wenn man wollte. Anderswo – gerade in den USA – verkaufen sogar Punkbands VIP-Tickets mit „Meet & Greet“-Option. Lumpengehabe von Rockmilionären? Pure Gier der Veranstalter? Einfach der Kapitalismus? Egal, weil das ja niemand mitmachen muss, denn keine Band „muss“ man sehen? Hier unsere Argumentation dazu ...
Dagegen
Ich weiß, wie Kapitalismus funktioniert. Zumindest behaupte ich das einfach mal. Angebot, Nachfrage, blablabla. Habe ich grundsätzlich nichts dagegen. Mangels Erfahrung in anderen Wirtschaftssystemen (Geschichtsbücher und Nachrichten zählen nicht, gemeint sind Erfahrungen aus erster Hand) hätte jede Kritik, wie angebracht sie auch sein mag, einen faden Beigeschmack. Ähnlich fad das dogmatische Beharren, nicht mehr als Summe XY für ein Ticket auszugeben. Mir fallen einige Bands ein, für die ich tiefer in die Tasche greifen würde, schlicht und einfach deswegen, weil bisher noch nicht live gesehen – bei einigen fehlte mir das Geld fürs Ticket, als sie das letzte Mal in der Gegend waren. Kontostände ändern sich, Ironie bleibt. Es gibt Künstler, die ihr Geld wert sind, ab einer gewissen Preisklasse sind das die wenigsten. Uninspiriert und austauschbar wie Lichtshows und Videoleinwände sind, ist das einzig Unterhaltsame die aberwitzige Vorstellung, wie viel man für ein Tourshirt nehmen kann. Aber wem es gefällt, gezwungen wird niemand. Wirklich ekelhaft ist dann der Versuch, einen Mehrwert zu kreieren (häufig marginal), um noch mal abkassieren zu können. Im Meet & Greet feststellen, dass der Schlagzeuger deiner Jugendhelden tränentreibenden Mundgeruch hat? Kostet extra. Du willst den Zeltplatz nicht teilen mit brandschatzenden Soziopathen, die auf die Klobrille pinkeln? Kostet extra. Der Zugang zu Plätzen mit okayem Blick (ohne Opernglas) auf die Bühne? Kostet extra. Kürzere Wartezeit am Bierstand? Kostet extra. Funktioniert anscheinend überall, ob Flugzeugsitze mit genügend Beinfreiheit, ein Freizeitparkbesuch ohne langes Anstehen oder eine bessere medizinische Behandlung. Die Gesellschaft macht Unterschiede; bemessen am Einkommen. Diese Unterschiede haben in unserer Kultur, auch ohne sich unter Wert zu verkaufen, nichts zu suchen!
Lars Koch
Dafür
Ich weiß auch, wie Kapitalismus funktioniert. Die einen bieten was an, die anderen kaufen es. Die einen verbringen für ihr Leben gern den Urlaub in einer All-Inclusive-Anlage oder mit 5.000 Mitpassagier:innen auf einem Schiff, die anderen hoffen, dass sie niemandem begegnen, und bevorzugen einsame Stellplätze für Zelt oder Camper. Und so ist es eben auch mit Konzerten. Die einen genießen es, mit 50 oder 150 anderen in einer netten Kneipe, einem AZ oder kleinen Club Bands mit direktem Kontakt zu dieser vor, während und nach der Show zu feiern und begreifen genau diese Nähe, günstige Getränke und familiäre Atmosphäre als Wert an sich. Bands, die man in so einem Kontext genießen kann, gibt es eine Menge. Manche bleiben ewig auf diesem Level, andere haben ihre Hochzeit und machen einen Ausflug in die großen Clubs und Hallen, und dann sieht man sie, bei entsprechender Abneigung gegen solche Locations, mal eben ein paar Jahre nicht. Und andere Bands entschwinden auf Dauer in solche Sphären. Da stellt sich dann die Frage, wie sehr mensch Fanboy oder -girl ist und diese Band sehen „muss“. Müssen tu ich gar nix, das war schon immer meine Devise. Wenn ich keine Lust auf Mensaessen und Handtuch-Battle am Pool habe, buche ich eben nicht All-Inclusive. Und wenn ich keinen Bock auf absurde Ticketpreise, alberne VIP-Packages, Meet & Greet-Peinlichkeiten, Shirts für 40 Euro und 0,4-Bier im Plastikbecher für 6 Euro sowie endloses Anstehen an Einlass, Garderobe, Bierstand und Klo habe, dann lasse ich das eben. Wenn all diese Umstände aber einer Band ermöglichen, für den Rest des Jahres ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dann ist das eben für beide Seiten der Preis, der dafür zu zahlen ist. Dann verurteile ich das nicht, sondern lasse – Hallo, Kapitalismus! – den Markt entscheiden. Und der Markt, das seid ihr, das sind wir.
Joachim Hiller
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