Schon im letzten Ox haben wir uns über das Problem von knappem Vinyl ausgetauscht, und diesmal geht es in eine ähnliche Richtung: Liest man dieser Tage von einer Albumveröffentlichung und will beim Plattendealer seines Vertrauens bestellen, kommt oft sehr schnell die Ernüchterung: Ach, diesen Freitag ist nur der Digital-Release ... Vinyl in ... einem halben Jahr?! Ernsthaft? Die einen haben sich auch aus diesem Grund längst von „physischen Veröffentlichungen“ verabschiedet, von der CD sowieso – und die anderen halten wacker an der LP fest, geben nichts auf Streaming und freuen sich auch noch Monate später darüber, endlich das „neue“ Album der Lieblingsband in der Hand zu halten.
Dafür
Ich warte gerne und streame kaum
Irgendwie haben alle das Warten längst verlernt. Was wären wir ohne ein Smartphone im Wartezimmer vom Hausarzt? Warum werden ständig neue Bahntrassen angelegt, nur um die Fahrzeit um ein paar Minuten zu verkürzen? Willkommen bei Amazon Prime! Im digitalen Zeitalter muss alles immer und sofort verfügbar sein. Klar nervt es, wenn das Album, auf das ich mich schon lange gefreut habe, noch ein paar Monate länger braucht. Klar würde ich gerne so schnell wie möglich den neuesten Klängen meiner Lieblingsband lauschen. Aber dafür eine Streaming- oder Download-Plattform bemühen? Nix für mich. Ich kann warten. Ich habe in meinem Leben noch keinen einzigen Song als Download erworben. Oldschool, Baby! Mir kommen nur Tonträger ins Haus. Am liebsten Platten und meinetwegen auch CDs. Ich will den Neuankömmling mit allen Sinnen in Empfang nehmen. Vorsichtig die lästige Folie entfernen, das Artwork von allen Seiten betrachten, die Platte aus der Hülle nehmen und in den Händen wiegen. Neue Platten haben diesen ganz eigenen Geruch, den wahrscheinlich nur Nerds wie ich wahrnehmen. Für ein neues Album nehme ich mir Zeit, setze mich aufs Sofa, eine dampfende Tasse Tee vor mir, alles andere wird ausgeblendet. Mein 19-jähriger Sohn Linus ist da anders. Der konsumiert Musik nur über Streaming-Portale. Das Smartphone über Bluetooth mit der Boombox verbunden und ab geht die Post. Ganze Alben kennt er gar nicht, die besten Songs werden in Playlists gesammelt. Könnte ich auch machen, Technik dafür wäre vorhanden. Will ich aber nicht, da höre ich mir lieber in der Wartezeit die älteren Alben noch mal an. Macht man in unserer Branche sowieso viel zu selten. Da zählt vor allem der neue, heiße Scheiß. Klar höre ich mir für ein Interview neue Musik vorab als Stream oder Download an, sonst wüsste ich gar nicht, was ich beim Interview fragen soll. Geht es aber um Musik, die ich ganz für mich haben will, will ich das zelebrieren. Und dafür kann ich auch mal warten. Selbst wenn es nervt.
Wolfram Hanke
Dagegen
Ganz oder gar nicht
Diese getrennten Veröffentlichungstermine nerven mich kolossal. Klar verstehe ich den Hintergrund seitens der Musiker:innen, Bands und Labels. Da haben diese das Album fertig, haben sich einen schönen Rereleasetermin ausgesucht, mit ausreichend Vorlauf für die Promo, passend (in normalen Zeiten) zur Release-Tour, und dann grätscht das Presswerk mit der Ansage dazwischen, dass die CDs natürlich passend fertig sein werden, aber das Vinyl ... später. Also irgendwann dann. Nein, ein belastbares Datum könne nicht genannt werden. Und nu? Dann läuft die Vorverkaufsmaschine eben mit einem irrsinnig langen Vorlauf an, so wie man früher seinen Sommerurlaub im November gebucht hat. Und irgendwann sind alle total ungeduldig, und das Vinyl verschiebt sich weiter nach hinten, und die Studiokosten und all das müssen ja auch wieder reingewirtschaftet werden, und warum denn jetzt noch warten, und warum ... nicht jetzt, bald, gleich digital veröffentlichen, das Vinyl „irgendwann“ nachreichen? Gedacht, getan! Und so sitze ich dann da, streame das Album emotionslos, ohne das Cover in den Händen zu halten, ohne das Artwork zu genießen, die Texte zu lesen, ohne all das, was mir an so einer Platte wichtig ist. Streamen ist wie Lieferando im Vergleich zur Pizza beim Lieblingsitaliener! Wie ein Geburtstagsgeschenk ein halbes Jahr später. Deshalb: Ganz oder gar nicht! Viel schlimmer als all das sind übrigens unverständliche Management-Entscheidungen: Mindestens zwei für das Ox-Universum wichtige Bands sitzen seit zwei (!) Jahren auf einem releasefertigen Album, veröffentlichen es aber weder digital noch physisch, weil die Regel „Kein Albumrelease ohne Release-Tour“ nicht gebrochen werden „darf“ – zwei Jahre, in denen andere Bands die Pandemiepause genutzt haben, um einfach noch ein oder zwei weitere Platten zu veröffentlichen.
Joachim Hiller
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