Platten haben oder Platten sammeln? Da verläuft die Wasserscheide in Sachen Vinyl. Einst waren Schallplatten Gebrauchsgegenstände, wurden auf besoffenen Punkerpartys entsprechend grob behandelt, und als Wertanlage sah die niemand an. Heute ist das anders: Was nach dem Kauf vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren pfleglich behandelt wurde, erzielt teilweise Spitzenpreise – Textblatt, Sticker, Poster, alles dabei in „mint condition“? Und wer heute Vinyl neu kauft, erwartet bei Preisen von über 30 oder sogar über 40 Euro perfekte Ware. Ein Konsument:innenrecht oder bekloppte Obsession?
Dafür
Das Vinylgeschäft boomt, also mehr oder weniger. Aktuell sind die Lieferzeiten wieder kürzer, weil Kapazitäten ausgebaut wurden, wegen massiver Nachfrage. Neue Maschinen, neue (junge) Mitarbeiter:innen, Kosten- und Termindruck ... man ahnt, weshalb in Vinylforen diskutiert wird über die Qualität von Pressungen. Alle wollen das Optimum für ihr Geld, und die Kundschaft nervt. Also einerseits die Labels, andererseits die Händler und natürlich die Endverbraucher (männliche Form, weil ... gefühlt 99% Männer). Wer 30, 35, 40, 45 Euro für eine aktuelle Platte ausgibt beim Tonträgerversandhändler seines Vertrauens, der erwartet erstens, dass die in einer dicken, vor Vandalismus durch Paketboten schützenden Verpackung ankommt (versandkostenfrei natürlich!), zum anderen in perfektem Zustand. Keine Ecke darf auch nur den Hauch eines Knicks aufweisen, auf keinen Fall darf der obere Rand der Hülle an- oder durchgeschubbert sein (passiert aber sehr schnell beim Transport), die Pressung muss perfekt sein (wozu hat man schließlich zigtausende Euro in seine Stereoanlage investiert, Goldkabel inklusive?), und es wird schon direkt auf diesen einen Knackser in der Auslaufrille gelauert. Womit? Mit Recht! Denn wer so viel Geld ausgibt für eine Platte, an der alle Beteiligten verdienen (wollen), inklusive der Musiker:innen, der erwartet eben einwandfreie Ware. So hat sich der Markt verändert, so hat sich die Attitüde gewandelt, so die Wertschätzung (!) von Vinyl. Wem das nicht passt, der hat das Glück, für seine „Gebrauchsplatten“ (zum Anhören, nicht als Wertanlage) auf die angemackten Rückläufer zum Sonderpreis zugreifen zu können.
Joachim Hiller
Dagegen
Der Begriff mint ist abgeleitet vom englischen Mint, der Münzpresse, und beschreibt den perfekten Zustand einer Scheibe. Unter Sammlern ist der Begriff „mint condition“ gebräuchlich, seit Schallplatten gesammelt werden. Aber erst seit der Mainstream-Renaissance des Vinyls und seit es Discogs gibt, ist „mint“ eine allgemein gebräuchliche Kategorie geworden. Als noch mehrheitlich im Plattenladen gekauft wurde, haben die Leute vielleicht mal die Platte aus dem Cover gezogen, um zu gucken, wie die Oberfläche aussieht, aber viel geredet wurde nicht darüber. Seit alle im Internet bestellen, ist die genaue Beschreibung des Zustands einer Platte wichtiger geworden. Mich interessiert der Zustand nicht. Ich bestelle auch nichts im Internet, was mir dann irgendwelche Liefersklaven bringen müssen. Ich kaufe im Laden. Nach wie vor auch sehr viele Gebrauchtplatten und mir ist es lieber, wenn die nicht in perfektem Zustand sind. Weil ich eine Platte, wenn sie gut ist, sehr oft abspiele. Dann ist sie schnell nicht mehr mint. Das ist vielleicht etwas anderes bei modernen Aufnahmen, zum Beispiel Fastcore-Bands mit vierzig Titeln pro Plattenseite, die die maximale Spieldauer voll ausnutzen. Da muss die Vinyl-Qualität gut sein. Der normale Krach, den wir lieben, muss sich aber um ein paar Hintergrundgeräusche nicht kümmern. Platten im Mint-Zustand zu sammeln, ist keine sehr punkige Angelegenheit. Eine gute Punk-Platte muss quasi leicht knistern, gerade weil sie gut ist und also oft aufgelegt wurde. Von jungen Punks, die ihre Platten nicht pflegten wie Briefmarken. Deshalb habe ich gerade Spaß ohne Ende. Da heute Platten, die nicht in einem exzellenten Zustand sind, als unverkäuflich gelten, habe ich begonnen, sie kistenweise zu kaufen. Das leichte Knistern macht doch gar nichts. Mint heißt außerdem fast immer teuer. Bedeutet: KBD-Rarität für 4.000 Euro. Solche Platten werden nicht gespielt. Die stehen als Wertanlage unbenutzt im Regal. Sie sind tot.
Andreas Michalke
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