Es gibt so einige Songs, bei denen mensch sich denkt: „Ey, damit würde heute keine Band mehr durchkommen, der Text ist ja ganz schön sexistisch/machistisch/gewalttätig/diskriminierend/missverständlich!“ Was sollen heute noch aktive Bands tun, die solche Lieder einst geschrieben haben, die am Ende sogar zu den live abgefeierten hören? Eisern bleiben und spielen? Oder ausrangieren, neudeutsch: canceln? Und: ist das (Selbst-)Zensur? Wir haben mal entsprechend argumentiert.
Dafür
Wenn Billy Bragg den Text zu „Sexuality“ verändert, um non-binäre Menschen explizit nicht auszuschließen, dann nervt mich das schon ein bisschen. Wenn es jemals einen Song gab, der für mich all-inclusive war, dann war es dieses Lied. Daran gibt es nichts zu deuteln und diejenigen, die das nicht hören können, wollen es vermutlich auch gar nicht. Anderes Beispiel: „Fairytale of New York“ von den POGUES. Es gibt jede Menge Coverversionen, bei denen der Text geändert wurde, aber jedes Jahr zu Weihnachten geht in England die Debatte wieder los, ob und warum die Originalversion zensiert werden sollte. „Fairytale ...“ ist die Geschichte eines älteren, betrunkenen Pärchens, das sich am Heiligabend gegenseitig Beschimpfungen an den Kopf wirft, während sie auf der Wache ausharren müssen. Und da kommt es halt auch zu der anstößigen Zeile: „Du miese, beschissene Schwuchtel!“ Es ist aber eine Geschichte, eine G-e-s-c-h-i-c-h-t-e! Die Band hat sich wiederholt gegen jegliche Art von Homophobie ausgesprochen. Verdammte Scheiße, ihr Gitarrist Phil Chevron (R.I.P.) war schwul und hatte vermutlich selber einiges auszuhalten als Teenager und junger Mann in Irland! Im Sommer habe ich während eines Q&A Glenn Tilbrook von SQUEEZE auf „Cool for cats“ angesprochen. Mir ist klar, dass der Song nie rassistisch gemeint war, aber ich wollte wissen, ob die Band sich darüber Gedanken macht. Seine Antwort war sinngemäß, er würde sehr viel darüber nachdenken. Und obwohl er sich weigert, dafür verantwortlich gemacht zu werden, in welcher Zeit seine Band aufgewachsen sei, fände er, dass einige ihrer Lieder mit einen Hinweis versehen werden könnten, wie es bei alten Hollywoodstreifen der Fall ist, zum Beispiel bei „Vom Winde verweht“. Fände ich super, würde mich sofort da einreihen. Denn das Etikett „weißer, alter CIS-Mann“ ist zum K.o.-Kriterium mutiert. Man wirft das jemandem an den Kopf und spricht diesem Menschen damit das Recht ab, eine abweichende Meinung zu äußern.
Kent Nielsen
Dagegen
Je älter man wird, desto schwerer tut man sich mit Veränderungen. Henry Rollins hat mal geschrieben, wenn beispielsweise Clint Eastwood sagt, etwas in seiner Jugend sei – im Gegensatz zu heute – nicht rassistisch gewesen, dass er eben in der Zeit jung war, in der die Schwerkraft noch nicht definiert worden war. Und dass er abhauen sollte, damit wir anderen uns weiterentwickeln können. Manche Bands bleiben dagegen eisern.
Die Münchner Schlager-Punkband LUSTFINGER spielt auf Konzerten beispielsweise auch heute noch ihren Smasher „Bitte lieber Staatsanwalt“ von 1990. Er handelt von einem 15-Jährigen Mädchen, deren „Knospe (...) so wunderschön“ war. Der Erzähler wollte auch „endlich an ihre Möpse ran“ – und ja, seine „Hose, sie schwoll ganz langsam an“. Hier steht ein wohl sechzig Jahre alter Mann auf der Bühne und singt sein Pädophilen-Lied und wird dafür bejubelt. Muss man das spielen? Musste man das vor Jahrzehnten überhaupt schreiben? Schon damals hätte man sich eigentlich gewünscht, sie hätten sich als Band komplett „gecancelt“. Wegen mir gerne auch PROPAGANDHI, die 1993 den Song „Haillie Sellasse, up your ass“ veröffentlicht haben, in dessen Refrain „Fuck Zionism“ vorkommt. Wenn sie das 25 Jahre später auf einem Konzert zusammen mit hunderten deutschen (!) Fans singen, wie man online bestaunen kann, darf es einem wirklich schlecht werden. Viele Fans wollen solche üblen Lieder aber auch heute noch hören, allein deshalb, um sich von einer herbei fantasierten Cancel Culture nichts wegnehmen zu lassen. Im Grunde genommen sind es stockkonservative CDU-Punks, die auf Teufel komm raus an allem Alten festhalten wollen. Wobei sogar deren Vorsitzender mittlerweile seinen Frieden damit gemacht hat, dass Vergewaltigung in der Ehe bestraft werden darf, während er in den Neunziger Jahren im Bundestag noch dagegen gestimmt hat. Aber gerade Punk muss sich auch weiterentwickeln (dürfen).
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