Jede:r von uns hat die „Vinylkrise“ schon erfahren müssen: Neue Alben erscheinen erst als Stream, Wochen oder Monate später kommt endlich das Vinyl und manchmal sogar noch die CD. Nur: Wer das Album nicht bei der Band oder – Tendenz fallend – im Mailorder seines Vertrauens vorbestellt hat, geht leer aus. „Wenn weg, dann weg“, mit etwas Glück kommt nach Monaten eine Nachpressung für nicht so visionäre „Blindkäufer“ und Pre-Order-Ablehner. Gut für Bands und Labels: Auflagen sind planbar, keine Restmengen mitzuschleppen, schlecht für all jene, die auch mal spontan kaufen wollen. Wir haben uns die Argumente mal angeschaut.
Dafür
Die Zeiten, als man spontan auf Konzerte ging und die Abendkasse nutzte, waren auch vor Corona schon lange vorbei. Selbst kleine Punkrock-Clubs setzen mittlerweile auf „VVK“, haben ihre Besucher:innen „erzogen“, sich frühzeitig Tickets zu besorgen. Wir haben uns irgendwie schon fast daran gewöhnt, auch wenn die Spontanität darunter leidet. In den letzten ein, zwei Jahren hat nun auch das Vinylgeschäft nachgezogen, den gleichen Weg eingeschlagen: Oft schon Monate im Voraus gilt es mitzubekommen, dass die Vorbestell-, die „Pre-Order“-Phase begonnen hat. Ohne Social Media geht da fast nichts, wer nicht folgt (oder zumindest den Bandnewsletter abonniert hat), verliert. Gut für das Label (wenn die Band überhaupt noch eines hat und nicht alles selber macht oder einen Dienstleister beauftragt hat), gut für die Umwelt (#greenwashing?), wenn die Stückzahlen besser planbar sind und nicht die Nachfrage überschätzt und das Lager mit hunderten oder tausenden LPs vollgestopft wird, die später verramscht werden müssen. Doof für jene, die gerne mal abwarten, wie gut ein Album denn ist, wie es ankommt, und erst später kaufen. All die quietschbunten (aber völlig entbehrlichen, wenn man mal ehrlich ist) Vinylvarianten sind dann alle, nur schnödes Schwarz mit etwas Glück zu bekommen, oder eben nicht: Viele Mailorder und Plattenläden gehen wie ihre Kund:innen im Rennen um die im Zweifelsfall zu geringen Stückzahlen leer aus. Schön für Band und Label, beschissen für alle anderen, die dann auch noch auf Discogs-Geier angewiesen sind, die dort die begehrte Platte mit heftigem Aufschlag anbieten. Aber: Unter den aktuellen Bedingungen einer „Vinyl-Mangelwirtschaft“ und vor dem Hintergrund einer guten Planbarkeit allerdings ist, deshalb auch mein „Dafür“-Votum, Pre-Order alternativlos.
Joachim Hiller
Dagegen
Nach dem Interview mit Billy von Unity Worldwide Records kann ich ja gar nicht mehr strikt contra Pre-Order sein, zumindest in den Fällen, die wir besprochen haben – auch was Majorlabels betrifft. Aus reiner Hörersicht nervt mich – nicht erst seit Corona – dennoch so einiges. Die Platten haben zunächst mal eine viel zu knappe Auflage. Mittlerweile sagen bei manchen LPs sogar schon Local Record Dealer, dass ich sie mir vorsichtshalber bestellen soll, da sie sie eventuell gar nicht mehr geliefert bekommen. Manchmal ist die LP dann nicht mal (mehr) im Versand vorrätig, so dass ich mittlerweile zig Kundenkontos habe. Dort bestelle ich sie dann, gleich noch ein oder zwei Pre-Order dazu und dann liegt dort das Paket zum Packen bereit. Eine der Pre-Order-Platten hat sich bei mir in einem extremen Fall dann zweimal um zwei Monate verschoben. Meine Bestellung lag deshalb acht Monate beim Mailorder rum. Als Liebhaber von Vinyl ist es leider auch zunehmend so, dass den LPs keine Download-Codes mehr beiliegen. Lag bei Epitaph zum Beispiel eine Zeit lang sogar die CD bei, so geht es digital nur noch über eine Streamingplattform, auf die ich schon alleine aus Zeitgründen verzichte. Womit wir beim nächsten Ärgernis sind. Ein Song bei Spotify muss – nach dem neuerdings angebotenen „Pre-Save“ – laut Statista 254 mal laufen, damit die Musiker dafür einen Euro bekommen. Nur die ganz großen Bands und Musiker:innen verdienen hier etwas. Und da haben sich die Majors für ihre Pop-Stars, von denen ich auch ein paar wenige höre, was ganz Besonderes ausgedacht: entweder gibt es eine Platte komplett nur noch als Stream und gar nicht mehr physisch. Oder aber das Vinyl wird bereits von Anfang an für bis zu anderthalb Jahre nach der Veröffentlichung angekündigt. Als zusätzliche Einnahmequelle – die Platte wird dann einfach in den Schrank gestellt. Und genau das ist die Pre-Order-Unsitte, die ich meine.
Roman Eisner
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