WORST OF THE WORST

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Gute Platten kann jeder – Vol. 8

BLONDIE – Predator müde!

Das erste Mal BLONDIE fand im Radio statt, als 1977 im „Schlafrock“ oder bei der Plattenvorstellung in der Sendung „Point“ auf SDR 3 „Denis“ lief. Instant verliebt in diese Stimme, diesen Beat, diesen Sound, noch bevor ich ein einziges Bild von Debbie Harry gesehen hatte und ein paar Wochen später vorpubertäre Gefühle hegte.


Ich war elf, in diesem Alter gaben die meisten meiner Freunde noch ihr gesamtes Taschengeld für Spuckrohre, Knete, Sammelbildchen oder „Fix und Foxi“-Hefte aus. Ich lernte sparen, um mir von vier Wochen Taschengeld eine LP leisten zu können. Neben AC/DC, ALICE COOPER (und ein paar anderen, die ich hier verschweige, zum Beispiel Kate Bush) gehörten BLONDIE zu meinen ersten eigenen Vinyl-Anschaffungen. Jede Musikzeitschrift mit BLONDIE-Poster warf die nächste Plattenanschaffung ein wenig zurück, denn Debbie Harry war die einzige Frau, die an die Wände in meinem Zimmer durfte. Die erste unerreichbare große oder eher kleine Liebe, denn so groß ist Debbie ja nun nicht.

Dass „Denis“ eine Coverversion aus der Feder von Neil Levenson war, kümmerte mich erst einmal nicht die Bohne, es hätte an der Faszination für diese Band ohnehin nichts geändert. Im Verlauf der Bandgeschichte tauchten dazu immer wieder Coverversionen auf den Platten auf, die sich ohne Lesen der Autorenliste kaum von ihrem Originalmaterial unterschied und meist nahtlos in das Gesamtkonzept der LPs einfügte, die immer als ein in sich geschlossenes Werk mit einem logischen Aufbau in Titelreihenfolge, Spannungsbogen, Überleitung und Finale funktionierten. „Hanging on the telephone“ von Jack Lee ist zum Beispiel so ein Song, der in seiner Version mit den NERVES mindestens so gut klingt wie das Cover von BLONDIE. Auf der „Parallel Lines“-LP sitzt es als Opener genau an dieser Stelle goldrichtig und keiner anderen.

Beim Schaffen von BLONDIE könnte man das erste Mal in seinem Leben nach der Schulzeit eine Kurvendiskussion anstrengen, die sich ähnlich verhält wie die Qualität der Veröffentlichungen. Im Prinzip sieht das Ganze wie ein Zuckerhut aus, wobei die erste LP nicht auf der Nulllinie liegt, also so weit unten wie die letzte LP vor dem Split und der Reunion. Mit jeder weiteren Platte ging es ein wenig höher, die Band immer am Puls der Zeit, offen für neue Musikstile, manchen erschreckend voraus und automatisch immer etwas davor, für alle, die nicht im großen Apfel lebten und ihre Abende damit verbrachten, durch die kleinen Kellerclubs zu ziehen, um das vielleicht nächste große Ding zu hören, bevor es hip sein würde.

Litten die ersten beiden LPs noch etwas unter der zu „netten“ Produktion von Richard Gottehrer, sind es dennoch Platten, die damals an keinem anderen Fleck der Welt hätten aufgenommen werden können. Sind „Blondie“ und „Plastic Letters“ noch voll mit Hits und ein paar zu vernachlässigenden Füllern, war und ist „Parallel Lines“ eine nahezu perfekte LP. Jeder einzelne Song ein Kandidat für eine perfekte Setliste, jedes Stück eine mögliche Single-Auskopplung, Top-Sound, absolut auf der Höhe der Zeit, wenn da nur nicht diese Schuhe von Debbie auf dem Cover gewesen wären und der Gesichtsausdruck, der mich an meine Mutter erinnerte, wenn ich mal wieder was angestellt hatte. Die absolut perfekte Platte ist dann „Eat To The Beat“, wieder eine LP, die ausschließlich Hits zu bieten hatte (sogar „Sound-a-sleep“, das auf nette Weise das Gegenstück zum „Schlaflied“ von DIE ÄRZTE darstellt). Wer sich übrigens das Hörvergnügen der beiden perfekten LPs versauen will, muss nur die Titelreihenfolge ändern.

1974 gegründet, seit 1975 permanent auf irgendwelchen kleineren Bühnen in New York unterwegs, unter anderem als eine der Hausbands im CBGB’s, spielten sich BLONDIE ab 1977 weltweit den Arsch wund und landeten mit „Heart of glass“ und mit „Atomic“ auf „Eat To The Beat“ schließlich ihre Überhits. „Heart of glass“ klang in der ursprünglichen Demoversion als „Once I had a love“ übrigens noch nicht so sehr nach Disco und Tanzfläche. Von „Atomic“ ist mir keine andere Version bekannt, es schallte dafür im Sommer 1980 aus jedem offenen Fenster und wurde im Radio zu Tode gespielt, ein Umstand, der mir schon damals jede Band verleiden konnte, egal wie laut das Fanherz schlug. Als ich mitten in Amsterdam stand und am selben Tag dreimal „Atomic“ als Kollateralbeschallung aus fremden Haushalten gehört hatte, war mir klar, dass ich meine heimliche Liebe mit sehr, sehr vielen Menschen teilen musste.
Im selben Jahr erschien dann „Autoamerican“, die ich mir zeitnah zur Veröffentlichung zulegte, aber sofort mit dem Cover haderte. Ich bastelte mir ein eigenes aus Zeitschriftenclips und Postern, mit denen ich das ursprüngliche Artwork überklebte. Super Idee, weil’s echt scheiße aussah! Weil ich so schlau war, das Originalmotiv zu überkleben, musste ich mir die LP ein zweites Mal kaufen, diesmal nur wegen des Covers. Auf „Autoamerican“ befand sich bereits jede Menge Füllmaterial. Die Scheibe wies erhebliche Ausfallserscheinungen auf, die selbst für einen 14-Jährigen mit dicker Fanbrille unüberhörbar waren. Mit „Rapture“ gab es eine erste zaghafte Adaption des aufkommenden NY-Rap, dem Dee Dee King/Ramone erst ganze neun Jahre später anheimfallen sollte. „The tide ist high“ war wieder einer dieser Radiohits, der mir die Platte schließlich final vergällte, weil ihn sogar meine Eltern mochten. „Ist das nicht die Blondie, die auch in deinem Zimmer hängt?“ „Das ist Debbie Harry, die Band heißt BLONDIE, nicht die Sängerin!“ – „Sag ich doch, Blondie, die Sängerin.“

1981 erschien schließlich Debbie Harrys erste Solo-LP „Koo Koo“, die ich bis auf das Coverartwork von HR Giger bis heute unterirdisch finde, auch weil die meisten Songs aus der Feder von Debbie Harry und Chris Stein stammen, die es eigentlich hätten besser können müssen. Die LP versucht krampfhaft, nicht nach einem BLONDIE-Abklatsch zu klingen, was ihr aber meistens nicht gelingt. Als hätte man irgendwelchen Strichermuckern die nähere Beschäftigung mit „New Wave“ (Niew Waif) ins Hausaufgabenheft für den Nachhilfeunterricht geschrieben, um wenigstens Fleißpunkte verteilen zu können.

Der Sargnagel kam dann mit „The Hunter“, womit wir beim eigentlichen Thema wären. Reale enttäuschte Liebe hätte nicht schlimmer ausfallen können. Eine LP mit einem grauenhaften Bandfoto als Cover, bei dem ein Blinder erkennt, dass es sich hier um eine idiotisch geschminkte Band mit abgelaufenem Verfallsdatum handelte. Eigentlich schon keine richtige Band mehr. Kaputt getourt, ausgebrannt, hier werden lediglich die „contractual obligations“ erfüllt. Die Band sieht schon auf dem Cover müde aus, Debbie Harry nicht mehr nach Debbie Harry, sondern wie die Schwester von IRON MAIDEN-Maskottchen „Eddie“, gesponsort by Gard-Haarlack. Eine weitere Produktion von Mike Chapman, der die beiden besten Alben produziert hatte und aus dem dürftigen Material wahrscheinlich noch das Maximum herausholte. Wie wenig das war, zeigt das Reissue, das im Gegensatz zu den anderen CD-Wiederveröffentlichungen, die mit reizvollem Zusatzmaterial glänzen, gerade mal über einen Bonussong verfügt, der lediglich aus der 12“-Version eines der Lieder besteht, bei denen man nicht gleich Würgereiz bekommt. Auf der kompletten LP gab es ganze zwei Stücke, die nicht klingen wie die Resterampe der „Autoamerican“. Der Zug war längst aus dem Bahnhof gefahren, das Hinterherrennen mit den schweren Koffern zwecklos.

„Island of lost souls“ und „War child“ sind die Songs, um die das Trümmerfeld herumgebaut wurde und die einzigen Single-Auskopplungen, die als solche noch halbwegs taugen. Die Band wirkt durchgehend wie ein Schatten ihrer selbst. Wie müssen die Verantwortlichen in den Chefetagen von Chrysalis beim Probehören geschwitzt haben? Schon der überlange Opener „Orchid fly“ ist ein nichtssagendes Stück, das, wie die meisten anderen auch, so klingt, als hätte man aus mehreren alten halbguten Ideen irgendwas mit Uhu zusammengeklebt, um mit den zwei mittelmäßigen Stücken irgendwie auf LP-Länge zu kommen. Selbst die obligatorische Coverversion (ja, es gibt eine, „The hunter gets captured by the game“, im Original von der Motown-Girl-Group THE MARVELETTES) reiht sich nahtlos in das Gesamtelend ein. Die Platte floppte und war schneller im Ramsch, als man die Cut-Outs schneiden konnte. Dass die Auflösung kurz darauf folgte, war so konsequent wie überfällig.

Hätten BLONDIE es bei „Autoamerican“ belassen, wäre der Abschied wenigstens noch einigermaßen würdevoll ausgefallen, mit „Hunter“ jedoch haben sie aber einen echten Stinker hinterlassen, der mich bis zur einigermaßen versöhnlichen Reunion (Altersmilde!) noch warnend aus dem Regal angezwinkert hat. Warum? First Love, die gibt man nicht so einfach auf, deswegen steht auch alles, wirklich alles hier, inklusive einer beschämend großen und nahezu kompletten Anzahl an BLONDIE-Bootlegs.