QUEEN
Zu jeder guten Scheibe gehört ein „Plattenauflegeerlebnis“, die die erste Begegnung mit einer prägenden und wichtigen musikalischen Erfahrung darstellt. Fünf Sekunden, nachdem sich die Nadel das erste Mal in die bis dahin jungfräuliche Rille gesenkt hat, weiß man instinktiv, dass hier eine Liebe fürs Leben geboren wird. Erkennbar an der sich aufstellenden Körperbehaarung, Entenhaut und dem einen oder anderen kleinen multiplen Orgasmus (nur für Fortgeschrittene).
Gerne verschwiegen wird, dass es das umgekehrt auch gibt, das negative Plattenauflegegefühl, verbunden mit dem Eindruck, im völlig falschen Film zu sein. Die Anzeichen hierfür können Brechreiz, ein säuerlicher Geschmack im Mundraum, Nasenbluten und akute Trockenheit im unteren Lendenbereich sein. Der große Unterschied zum positiven Pendant besteht lediglich darin, dass es hier häufig wesentlich länger bis zur Gewissheit braucht, oft mit mehreren Versuchen, weil man es einfach nicht fassen kann, dass man dafür sein Taschengeld geopfert hat, statt sich eine Scheibe zu kaufen, die wirklich etwas taugt.
1980, als diese Platte erschien, waren für uns einige Dinge noch selbstverständlich, die heute wahrscheinlich merkwürdig anmuten.
1. Mit dem Fahrrad am Freitag nach der Schule mit kurzem Umweg über daheim, um den Ranzen ab- und etwas Mittagessen einzuwerfen, direkt nach Ludwigsburg radeln, um dort am Veröffentlichungstag heiß ersehnte Platten quasi „noch warm“ pressfrisch in der Music-Box zu erstehen. Platten erschienen immer „freutags“, genau wie das „Fix & Foxi“-Heft.
2. Die Einkäufe anschließend gemeinsam anhören und unserem fachmännischen Urteil (kritisch, gewogen, hart, eloquent, wortgewandt und stets fair) unterziehen. Mit 13 oder 14 kann man das durchaus machen, wenn man keine Freundin hat.
3. Die gewonnenen Eindrücke am nächsten Tag in der Schule als Pre-Influencer auf dem Pausenhof verbreiten.
4. Ahnung suggerieren, auch wenn man eigentlich keine hatte.
5. Großzügig Tape-Aufnahmen anbieten. Obwohl ich rückblickend zugeben muss, dass wir damals eindeutig noch so dämlich waren, Platten zu verleihen, um sie, wenn überhaupt, mit Gebrauchsspuren wiederzubekommen.
Als „Flash“ erschien, waren wir aufgeregt wie ein Dutzend Backfische vor dem ersten Schulball, schließlich hatte die Band mit „Live Killers“ nur ein Jahr zuvor eines der wenigen Live-Alben abgeliefert, das man wirklich besitzen sollte. Davor hatten sie neben einer coolen Platte mit „Jazz“ auch ein bedeutendes Poster für das Jugendzimmer abgeliefert. Wenn man von der ersten LP absieht, hatten QUEEN bis dahin nur Scheiben veröffentlicht, deren Kenntnis und Besitz in der einen oder anderen Form (die eine = Vinyl, die andere = Tapekopie) verpflichtend war. Ich war gerade mal elf, als ein Mitschüler die „News Of The World“ mit in die Schule brachte, um uns am Objekt (ohne Plattenspieler) die Genialität des Openers einzutrichtern, der so simpel ist, dass ihn selbst inselbegabte Rundballspieler mitsingen können. Wir konnten ihn trommeln, noch bevor wir „We will rock you“ das erste Mal gehört hatten. Übrigens der einzige mir bekannte Song über die Solidarität mit Pilzen.
Danke Frank! Danke auch für die Kuhaugen, die du auf dem Lehrerpult drapiert hast, den Wurf nach dem Lehrer in die bis dahin intakte Tafel mit dem Holzclog, das regelmäßige Einsperren willkürlicher Opfer im Bücherschrank und deinen vorzeitigen Abgang von der Schule, denn abgesehen von der Musik hattest du keinen wirklich guten Einfluss auf deine Mitschüler. Auch wenn ich mit 14 bereits andere musikalische Pfade beschritt und ganze Nachmittage damit verbrachte, AC/DC-Songs auswendig zu lernen, um sie bereits nach dem ersten Riff zu identifizieren – was bis heute immer noch erschreckend gut funktioniert – ,Alice Cooper, BLONDIE und die ersten Bands mit merkwürdigen Frisuren verschlang, war eine neue QUEEN-LP immer noch so etwas wie ein Ereignis.
Das Szenario: Freitag, früher Nachmittag, drei Jungs mit schwitzigen Fingern und offenen Ohren, gerade zurück aus der Music-Box mit den noch presswarmen Neuerscheinungen, sitzen in einem kleinen Jugendzimmer und lauschen gebannt, wie sich die Plattenspielernadel in die noch knisterfreie, jungfräuliche Rille senkt. Knappe 37 Minuten später sitzen immer noch drei Jungs im selben Zimmer, die Unterkiefer ausgehängt, die Augen weit aufgerissen, und sind einfach sprachlos. Es fehlte am geeigneten Vokabular, um in Worte zu fassen, was sie da gerade für eine unglaubliche Scheiße gehört hatten. Scheiße, für die einer von ihnen auch noch sein Taschengeld für die komplette Woche verplempert hatte. Ich war’s zum Glück nicht. Wir haben an diesem Mittag keine weitere Platte mehr gehört, sondern lieber Fußball gespielt. Keine Lust auf noch einen Reinfall, denn noch so was und wir wären für immer taub gewesen, hätten niemals eine Freundin, dafür aber schlimme Akne gekriegt.
Wahnsinn, eine lausige Single, die man auf LP-Länge aufgepumpt hatte, um sie für den drei- bis vierfachen Preis verkaufen zu können. Noch mal kurz zur Erinnerung: Die Platte davor war eine Doppel-LP, vollgepackt mit Hits, bombastischem Sound in einem edlen Gatefoldcover. Optisch wie haptisch einfach perfekt, für die Ohren nicht weniger als ein Luxusmenü, und dann: „Flash“. Alleine die Tatsache, dass in deinem Kopf nach der Erwähnung von „Flash“ jetzt automatisch ein „Aaaahaaaaaaaa ...“ ergänzt wird, ist das schönste Geschenk, das man dir heute machen kann. Wer liebt sie nicht, die Kackohrwürmer, die einen mitten in der Nacht vom Schlaf abhalten? Super Wiedererkennungswert, mega eingängig, aber eben auch nervig wie die Sau. „Flash“ ... Ahaaaaaaaaa!
„Flash“ (aaahaaaa – ich hör ja schon auf) war und ist alles andere, nur nicht QUEEN. Dass es sich um einen Soundtrack handelte, wussten wir schon vorher, aber nicht, dass man uns als Musikliebhaber gleich mehrfach mit diesem Machwerk über den Tisch ziehen würde. Dazu noch dieser Film. Nichts gegen Trash, aber „Flash Gordon“ stank erbärmlich gegen nahezu alles ab, was damals an Weltraumabenteuern im Kino lief (außer vielleicht „Das schwarze Loch“ – der Disney-Streifen, nicht der Schmuddelfilm, du Ferkel). Sogar Kampfstern Beknacktika hatte mehr Action und vor allem Handlung. Wer sich nach „Krieg der Sterne“ (1977) drei Jahre später mit so einem Schund ins Kino wagte, konnte in unseren Augen und Köpfen nur verlieren. Wer in dem Alter vorgibt, Trashfilme zu verstehen, lügt einfach rotzfrech. 1980 hatten wir „Das Imperium schlägt zurück“, dagegen sah „Flash Gordon“ aus wie ein billiger Puppenfilm mit fingerdicken Schnüren. Ja, heute kann ich mir den Film ansehen und muss nicht brechen, aber mit 14?!
In meinem Kopf geistert immer noch die Vorstellung herum, wie die Jungs von QUEEN Freddie Mercury darüber in Kenntnis setzen, dass sie einen Soundtrack zu einem Science-Fiction-Film machen wollen.
Brian/Roger/John: Freddie, wir machen neben der neuen LP noch einen Soundtrack zu einem billig aussehenden Science-Fiction-B-Movie nach einer Comicvorlage.
Freddie: Wus?
BRJ: Keine Sorge, du musst da nicht dabei sein, halbe Stunde im Studio reicht. Vier Zeilen Text, bisschen Singen, den Rest machen wir und schnippeln das zusammen.
Freddie: Okeh.
Exakt so klingt es dann auch. Netto gibt es auf der gesamten Platte gerade mal zweieinhalb Stücke, die als QUEEN-Songs durchgehen. „Flash’s theme“, „Battle theme (1/2)“ und „The hero“. Der Rest besteht aus Dialogfetzen, die bis heute niemand eindeutig zuordnen kann, außer er/sie war so bescheuert und hat sich den Film mehrmals angesehen, um ihn auswendig zu lernen. Als Gewürze noch ein wenig Ambient- und Elektrosound sowie ein paar Filmgeräusche obendrauf, fertig, ab ins Presswerk. Der Rest ist immer wieder recycletes Material aus dem Titeltrack, der einem mit seinem „Aaaaaaaaaahaaaaa“ schon nach dem zweiten Hören schlimmer auf den Sack geht als alles, was Axl Rose jemals gequäkt hat.
QUEEN haben im selben Jahr immerhin noch „The Game“ rausgebracht, was dazu führte, dass man „Flash“ automatisch noch widerlicher fand, schließlich gab es dort Hits zu hören und nicht nur einen Song. In diesem Jahr endete dann auch mein Interesse für die Band. Es gab Wichtigeres, bessere Musik, andere Bands und Platten, für die es lohnte, sich am Freitag nach der Schule aufs Fahrrad zu schwingen, um in der Music-Box das Taschengeld auf den Kopf zu hauen. Warum ich sie dennoch besitze? Sie bettelte mich auf einem Flohmarkt für 50 Cent an, ihr eine zweite Chance zu geben, schließlich lagen doch über drei Jahrzehnte dazwischen. Wir hatten einen schlechten Start, man entwickelt sich doch weiter, außerdem hast du ja sonst noch nix gefunden ... blablabla. Was soll ich sagen? Ich finde sie heute immer noch genauso scheiße wie damals, und so hält sie die Erinnerung an diesen Nachmittag 1980 quicklebendig. Dum Dum Dum Dum ... Flash!
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