Tim Kasher ist fasziniert von der Tatsache, dass es an seinem Ende der Leitung noch Morgen ist, während die Sonne am anderen Ende schon wieder untergeht. Zunächst möchte er wissen, wie der Tag wird und ob es eventuell exklusive Informationen aus der Zukunft gibt. „Ach, behalte es lieber doch für dich“, unterbricht er sich lachend. „Ich bin gespannt, es selbst rauszufinden.“ Somit ist direkt zum Einstieg das Klischee des schwarzmalenden, schlechtgelaunten Künstlers zerstört, obwohl das neue CURSIVE-Album gerade dies doch wieder so herrlich zu untermauern versucht.
Wie ist es gekommen, dass „Vitriola“ länger als vorherige Werke gebraucht hat, die in einem steten Zwei-Jahres-Rhythmus das Licht der Welt erblick haben?
Zunächst einmal sind wir keine Band, die langfristige Pläne schmiedet, das ergibt sich immer. Wir schreiben ein Album, nehmen es auf, gehen damit auf Tour und irgendwann ist der Zyklus abgeschlossen. Für uns ist es wichtig, an diesem Punkt erst mal keine weiteren Pläne mit der Band zu haben. Nach „I Am Gemini“ 2012 war ich zunächst sehr mit anderen Projekten beschäftigt, ich habe wirklich eine Menge Zeug veröffentlicht. Darüber hinaus haben wir das Label 15 Passenger gegründet und die Perspektive, was wir nun alles veröffentlichen können, war für uns zunächst unfassbar spannend. Nichts hätte natürlich mehr Sinn gemacht, als auf dem Label möglichst schnell das nächste CURSIVE-Album herauszubringen, das war uns klar, wir haben den Gedanken trotzdem noch ein wenig herumschwirren lassen. Außerdem gab es anlässlich der Neuauflage von „The Ugly Organ“ 2014 auch noch mal eine komplette US-Tour. Gerade diese Konzerte haben uns verdeutlicht, was für eine enge Bindung nach all den Jahren noch zwischen uns besteht. Bei uns gibt es keine Zankereien, wir tragen keine Kämpfe untereinander aus und wir haben immer noch großen Spaß. Was die Sache dann endgültig aber ins Rollen gebracht hat, war die überraschende Rückkehr unseres ehemaligen Drummers, Clint Schnase.
Im August habt ihr eine Serie von Social-Media-Posts veröffentlicht, mit der ihr auf eure Alben zurückblickt und den für euch jeweils wichtigsten Track. Eine tolle Idee, allerdings war es überraschend, CURSIVE als eine derart nostalgische Band zu erleben.
Okay, ich gebe es zu, in letzter Zeit bin ich wirklich recht nostalgisch. Da haben wir diesen Katalog mit Alben aus den letzten zwanzig Jahren, in deren Verlauf ich ein komplett neuer Mensch geworden bin. Wir haben uns einen Moment gegönnt, diesen Katalog zu feiern, auch angesichts dessen, dass ihm bald ein neues Werk hinzugefügt wird.
Wie ist euer Verhältnis zu den alten Stücken?
Es gab Phasen, in denen es für mich persönlich nicht einfach mit den alten Sachen war, aber zur Zeit habe ich keine Probleme mit ihnen. Würde ich mich aber in einer finsteren Phase wiederfinden, wie als ich beispielsweise in einer Scheidung steckte, und einen der alten Songs hören, würde ich mich wohl schon fragen: „Jesus, habe ich denn überhaupt nichts gelernt?“ Momentan genieße ich es aber sehr, die alten Nummern zu spielen, schon alleine aus dem Grund, dass sie vom Publikum so geschätzt werden.
Während viele Bands mit den Jahren Frieden mit sich, der Welt und ihrer Musik schließen, wirkt euer neues Album sehr düster, wütend und desillusioniert.
Ich habe auch viele Künstler erlebt, die sich mit der Zeit so verändert haben, wie du es beschreibst, aber das entspricht einfach nicht meinem Naturell – ich musste schon immer mit allem hadern. Jeder soll das tun, was er für richtig hält, aber manchen merkt man eben auch an, dass sie ihr Feuer als Songwriter verloren haben. Viele Leute haben mir schon bescheinigt, dass ich, was das ruhiger und gelassener Werden betrifft, wirklich eine schlimme Entwicklungsstörung habe. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich bereits als Teenager als Musiker unterwegs war. Jetzt stecke ich in meinen Vierzigern und habe manchmal das Gefühl, dass ich in gewisser Hinsicht wirklich nicht die Chance hatte, erwachsen zu werden. Dass das Album wieder etwas düsterer und härter erscheint, mag überraschen, aber das sind wir zu diesem Zeitpunkt. Aus künstlerischer Sicht macht es unseren Katalog wieder ein Stück weit lebendiger und es freut mich, dass es bei dir beziehungsweise dem Publikum anscheinend so ankommt, wie wir es beabsichtigt haben.
Es macht den Eindruck, dass sich die Perspektive beim neuen Album geändert hat. Während es früher oft um introspektive und persönliche Inhalte ging, beobachtet ihr nun das Zeitgeschehen und die Entwicklungen in der Welt.
Das ist richtig. Es war nicht meine Absicht, über politische oder soziale Dinge zu schreiben, das ist einfach passiert. Die Art und Weise, wie wir quasi täglich von den Medien mit neuen Hiobsbotschaften bombardiert werden, hat sich so prominent bei mir festgesetzt, ich musste quasi darüber schreiben. Ich denke aber, dass es immer noch ein gewisses Maß an Introspektion gibt. Es geht ja auch darum, wie wir persönlich mit den Dingen umgehen, die passieren.
Fällt es dir leichter oder schwerer, CURSIVE-Songs zu schreiben?
Ich glaube, dass es schwieriger für mich wird, aber trotzdem war die Arbeit an „Vitriola“ eine tolle Erfahrung, da ich so lange nichts für die Band geschrieben hatte. Es gab so viele Dinge und Richtungen, die ich ausprobieren wollte, und so viel Freiheit – für mich war das ein sehr positives Erlebnis. Aber warum wir nicht so oft CURSIVE-Alben veröffentlichen, liegt daran, dass ich mich sehr an Details aufreiben kann und somit keine frischen Ideen mehr entstehen – es fließt viel Zeit in die Ausarbeitung und die Stücke gehen durch viele verschiedene Phasen. Dann ist es besser, wenn ich mich mit einem anderen Projekt beschäftige.
CURSIVE-Songs klingen tatsächlich nicht so, als könnten sie im Vorbeigehen geschrieben werden. Simple Pop-Songs sind wohl nicht euer Ding.
Nein, solche Songwriter sind wir nicht, auch wenn ich diese Art von Musik sehr bewundere. Es kommt aber auch darauf an, wie kritisch man sein eigenes Schaffen betrachtet. Natürlich kann es einfach sein, einen simplen Pop-Song zu schreiben, es stellt sich nur die Frage, ob er auch gut ist.
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