CURSIVE

Foto© by Bill Sitzmann

Leben in der Welt der Bequemlichkeiten

Unser täglicher Wohlstand in den reichen Industrieländern basiert auf Ausbeutung. Soweit für die (selbst-)kritischen Subkulturellen unter uns nichts Neues. Dennoch schaffen CURSIVE im dreißigsten Jahr des Bandbestehens es, diesem Thema ein ganzes Album abzuringen, bei dem nicht nur der Spagat zwischen dem leichteren Sound und den düsteren Texten funktioniert, sondern das auch die persönliche Ebene beleuchtet. Denn imperialistisch sind wir leider alle und jeden Tag, sagt Frontmann Tim Kasher.

Herzlichen Glückwunsch! Zum einen habt ihr mit „Devourer“ ein tolles neues Album herausgebracht, zum anderen gibt es CURSIVE mittlerweile dreißig Jahre. Was von beidem ist dir aktuell wichtiger?

Sicherlich ist die Veröffentlichung von „Devourer“ im Moment wichtiger, da es unser neuestes Album ist und wir die Musik den Leuten vorstellen möchten. Aber natürlich ist es für uns als Band auch erstaunlich, dass es uns schon seit dreißig Jahren gibt. Aber mehr Bedeutung hat das Ganze eigentlich nicht.

Wo hätte sich denn der Tim Kasher von damals in dreißig Jahren gesehen?
Ich bin gerade fünfzig Jahre alt geworden. Die zwanzigjährige Version von mir hätte sich wohl kaum vorstellen können , was es bedeutet, fünfzig Jahre alt zu sein, oder wie das Ganze konkret aussieht. Meine Eltern müssen gerade etwas über fünfzig Jahre gewesen sein, als ich mit CURSIVE anfing. Zwei Erwachsene mit Vollzeitkarrieren, die bereits sechs Kinder großgezogen haben. Ich selbst ging meistens davon aus, dass ich eine Handvoll Dinge in meinem Leben, einschließlich Musik, halbwegs erfolglos probieren würde, bevor ich mich schließlich an einem College niederlassen würde. Und ehrlich gesagt habe ich bis heute noch die krumme Vorstellung, dass es da draußen eine Stelle an der Universität geben könnte, sollte ich jemals darauf zurückgreifen müssen. Ziemlich dumm eigentlich.

„Devourer“ heißt das neue Album und darauf geht es viel um Konsum und den daraus resultierenden Imperialismus. Wie kam es zu diesem Leitmotiv?
Zunächst einmal vielen Dank, dass du das Wort „Leitmotiv“ verwendet hast. Es ist ein neues Wort für mich! Es ist im Wesentlichen das, was ich vermutete, aber ich habe es trotzdem genossen, es nachzuschlagen. Diese Idee tauchte immer wieder in den Texten auf und ich nehme an, sie rührt von verschiedenen Sorgen her, die mich in den letzten Jahren umgetrieben haben. Es gibt eine gewisse Schuld, der man sich stellen kann oder die man ignorieren kann, wenn man in der Ersten Welt lebt. Dieser ziemlich verschwenderischen Welt der Bequemlichkeiten. Ich kann nicht behaupten, dass ich weiß, wie man dieses Dilemma beheben kann. Und leider kann ich auch nicht behaupten, wie ein Kreuzritter gegen diese Probleme zu kämpfen. Aber ich möchte diese Probleme zumindest ins Scheinwerferlicht holen, wie es auch viele andere tun. Und vielleicht hilft das, zumindest eine größere Diskussion darüber anzuregen.

Ich war zunächst geneigt anzunehmen, dass Konsum ein brandaktuelles Thema ist. Doch eigentlich konsumieren wir in der westlichen Welt seit der „Erfindung“ des Supermarkts vor fast 100 Jahren. Wie siehst du das?
Haha, das ist ein guter Punkt. Ich denke, wir dürfen alle von unseren jüngsten Vorfahren enttäuscht sein. Und zwar von denen des 20. Jahrhunderts, die keine Skrupel hatten, unglaublich verschwenderische Einwegprodukte und andere Gräuel zu entwickeln, die mittlerweile jede Mülldeponie überfüllen. Die Hersteller, die sich so fieberhaft auf Kunststoffe und andere nicht biologisch abbaubare Produkte stützten, um unsere Supermarktregale zu füllen. Und sicherlich müssen wir dies auch in Bezug auf unsere eigene Branche diskutieren, zum Beispiel bei der Herstellung von Vinyl im Zeitalter der digitalen Musik. Auch wenn ich denke, dass Tonträger weit davon entfernt sind, „Wegwerfgegenstände“ für den einmaligen Gebrauch zu sein und tatsächlich eine Form der Konservierung von Kunst sind. Einfacher gesagt: Ich denke, dass wir als Menschen immer noch das Recht haben, solche „Objekte der Schönheit“ zu schaffen, die uns so viel Freude bereiten. Und Schallplatten machen mir Freude.

Du sprachst auch vom individuellen Imperialismus. Was ist damit gemeint? Das Überschreiten von Grenzen im Sozialleben?
Genau das. Es mag zunächst ein bisschen schräg klingen, aber im Kern ist Imperialismus ja eine Art von Übergriff. Und sind wir nicht alle die ganze Zeit übergriffig zueinander?

Eine Frage zum kreativen Prozess: Wenn du so ein Leitmotiv für die Texte eines Albums hast, hast du diese Idee dann schon im Vorfeld? Oder ist das etwas, das dir erst beim Schreiben eines Albums auffällt?
Bei den meisten Alben bin ich mir nicht bewusst, was das Leitmotiv sein könnte, bis ich etwa zu drei Vierteln mit dem Schreiben des Albums fertig bin. So war es auch bei „Devourer“. Eine Platte wie „I Am Gemini“ wiederum war im Voraus geplant, da es sich um eine besondere Erzählung handelte.

Ich finde, das Besondere an CURSIVE ist, dass ihr euch musikalisch keine Grenzen setzt. Wäre es für dich denkbar, noch mal in eine bestimmte Musikrichtung abzutauchen und sich dabei selbst Schranken aufzuerlegen?
Ich hoffe, dass wir uns bei dem, was wir tun, weiterhin keine Grenzen setzen. Manchmal erkenne ich, wie bestimmte Merkmale beim Schreiben auftauchen und sich wiederholen. Und manchmal verfolge ich diese Ideen weiter, wenn es für das Album notwendig ist, aber meistens versuche ich, sie zu vermeiden oder dagegen anzuarbeiten.

Was hörst du selbst für Musik? Hast du aktuelle Lieblingsinterpreten?
Ich habe einen ziemlich breiten Musikgeschmack. In letzter Zeit höre ich auf Spaziergängen entweder Prog-Metal wie MESHUGGAH oder KING CRIMSON oder ich wähle das genaue Gegenteil und höre Folksängerinnen wie Judee Sill oder Angel Olsen. Im Hintergrund läuft bei mir gerade Julia Jacklin. Unabhängig davon gibt es aber natürlich einfach viele Musikgenres und die meisten von ihnen sind auf irgendeine Weise fesselnd. Und abgesehen davon bin ich mit „alternativer“ Musik aufgewachsen. Und in dieser Welt bewege ich mich gern. Ansonsten liebe ich MILITARIE GUN, FONTAINES D.C., GLADIE, HORSE JUMPER OF LOVE oder TRUTH CLUB.

Du warst an unzähligen Musikalben beteiligt und hast auch schon Drehbücher geschrieben. Gibt es eine Kunstform, die du gern mal ausprobieren würdest, für die es bislang aber noch keine Gelegenheit gab?
Nun, ich habe das Drehbuch für einen Spielfilm namens „No Resolution“ geschrieben und auch Regie geführt. Er wurde 2017 veröffentlicht. Und gerade bin ich dabei, einen zweiten Spielfilm fertigzustellen, „Who’s Watching“, von dem ich hoffe, dass bald alle die Gelegenheit haben werden, ihn zu sehen. Abgesehen davon träume ich davon, ein Musical zu schreiben.

Im Vergleich zu den Vorgängeralben wirkt „Devourer“ etwas „verspielter“ und „luftiger“. Und es steht damit auch im Kontrast zu den sehr eindringlichen Texten. War das Absicht?
Ich kann nicht sagen, dass das Ganze beabsichtigt war. Meistens schaue ich nur bis zum letzten Album zurück, wenn ich über die Ausrichtung für einen neuen Albumsound nachdenke. Wenn ich jetzt drüber nachdenke, waren „Vitriola“ und „Get Fixed“, die als Geschwisteralben gelten, eher düster und nachdenklich. Und das hat sicherlich jetzt die Richtung beeinflusst, in die wir jetzt mit „Devourer“ gegangen sind. Weil wir diesmal einen anderen Sound gesucht haben.

Zwischen den Zeilen lese ich bei vielen Songs einen ziemlichen „Endzeitcharakter“ heraus. Wie nihilistisch bist du? Hat die Menschheit noch eine Chance, das Blatt zu wenden?
Ich wünschte wirklich, ich hätte eine optimistischere Antwort darauf. Aber die Menschheit ist als Spezies viel zu gierig. Ich mache mir Sorgen, dass wir nie wirklich auf einen richtigen Weg kommen können, um uns selbst und den Planeten zu reparieren. Meine letzte Hoffnung wäre eine Art Ehrfurcht gebietende Erleuchtung, die uns noch kommen müsste, um die Kurve zu kriegen. Könnte es so was geben? Das Zeitalter einer wiederbelebten Aufklärung, in dem die Menschen aufhören, ausschließlich egoistisch nach innen zu schauen, und beginnen, die Welt um sich herum zu sehen?

Letzte Frage: Wenn du dich für den Rest deines Lebens für eine Sache entscheiden müsstest: Würdest du dann lieber Songs schreiben oder Konzerte spielen?
Definitiv Songs schreiben – aber ich würde es vermissen aufzutreten!