Niemals kann das 14 Jahre her sein, dass ich Tim Kasher, dem CURSIVE-Frontmann, vor dem Kölner Gebäude 9 im Bandbus gegenübersaß und wir ein höchst angenehmes Interview führten. Ist es aber, in Ox #55 war es nachzulesen, 2004. Beide erinnern wir uns daran, beide machen wir heute noch das, was wir damals machten – er CURSIVE, ich Ox. Ox ist mittlerweile bei Ausgabe 140 angelangt, CURSIVE beim achten Studioalbum, „Vitriol“, das erneut den Ausnahmestatus dieser Band bestätigt. Indie-Rock? Post-Hardcore? Egal. Los geht’s.
Tim, du wirst immer mit Omaha, Nebraska in Verbindung gebracht. Tatsächlich hast du dort aber in den letzten Jahren gar nicht mehr gewohnt. Wo lebst du heute? Und wobei störe ich dich jetzt morgens um halb neun?
Ich lebe schon seit einer Weile in Los Angeles. Ich bin aber gerade auf Solo-Tour im Bundesstaat Washington unterwegs und habe heute einen Fahr-Tag. Ich bin um 6:30 Uhr aufgestanden und habe gefrühstückt, so dass ich rechtzeitig für dieses Interview bereit war. Wenn ich nicht auf Tour bin, schreibe ich sehr viel. Dabei bin ich recht diszipliniert, zumindest im Vergleich zu anderen, die ich kenne. Ich setze mir selbst ambitionierte Deadlines und dadurch bekomme ich eine Menge geregelt. Unrealistisch gesetzte Termine bringen mich dazu, wirklich viel zu schreiben. Wenn man eine solche Deadline dann mal reißt, ist man immer noch ziemlich gut in der Zeit.
Andererseits können einen solche Deadlines auch unter Stress setzen, was für die Kreativität nicht gut ist.
Stress bereitet mir eigentlich nur, mich endlich hinzusetzen. Wenn ich dann einmal angefangen habe zu schreiben, genieße ich es. Das Problem ist also wirklich, sich endlich hinzusetzen und anzufangen. Ich versuche möglichst konzentriert zu arbeiten, und wenn dann ständig das Telefon brummt und ich mir gestatte ranzugehen, bringt mich das total raus. Das Leben besteht aus ständigen Ablenkungen, denen man nicht nachgeben darf. Ich bin noch nicht soweit, beim Schreiben einfach das Internet abzustellen, und so lasse ich mich doch von den täglichen Geschäften ablenken oder von Nachrichten etwa von meiner Frau.
Das neue Album ist das erste seit sechs Jahren. Zwischendurch warst du aber nicht untätig, es gab andere Projekte, und du arbeitest unter anderem auch an Drehbüchern.
Ich versuche, immer etwas zu tun zu haben, denn wenn ich etwas zu tun habe, habe ich bessere Laune. Und in letzter Zeit bin ich noch etwas beschäftigter gewesen, eben weil ich einen Film produzierte. Eigentlich arbeite ich immer parallel an mehreren Projekten, etwa einen Filmskript und einem Album. Habe ich nichts zu tun, fühle ich mich rastlos. Ich arbeite und schreibe lieber an etwas, als nichts zu tun und mich zu langweilen. Zwischen zwei Projekten erwische ich mich dabei, ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll. Soll ich Tagebuch schreiben? Soll ich in dem Buch weiterlesen, an dem ich gerade bin? Zwei Stunden Zeit ... Soll ich mir einen Film anschauen, den ich immer schon mal sehen wollte? Ich kann mich durchaus entspannen, aber Langeweile habe ich nie. Mir ist bewusst, dass ich mich in einer privilegierten Situation befinde, dass ich mein eigener Chef bin. Dass ich mir aussuchen kann, woran ich gerade arbeiten will. Und ich habe allergrößten Respekt vor der großen Mehrheit der Menschheit, die dieses Privileg nicht haben. Wenn die acht oder zehn Stunden gearbeitet habe, sind sie einfach geistig erschöpft. Und vor diesem Hintergrund muss man dann auch ein Phänomen wie Bingewatching sehen. Irgendwann muss man sein Hirn dann einfach abschalten. Ich bin gerade auf Solo-Tour, was ich noch nie gemacht habe, und ich habe festgestellt, dass das sehr viel Arbeit ist. Teilweise fahre ich neun Stunden am Tag, und nach so einem Pensum ist mir dann auch nicht mehr nach Lesen zumute, da will ich mein Hirn einfach nur runterfahren und mich ausruhen. Und dennoch weiß ich auch dann sehr zu schätzen, dass ich in der Position bin, mein eigener Herr zu sein.
Nun bist du nicht einfach nur Musiker und Sänger, was für viele Künstler völlig erfüllend ist. Du bist auch Autor und Labelbetreiber. Warum reicht dir das Musikerdasein nicht?
Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Und mir ist ganz klar, worin ich mich im Detail von meinen vielen Musikerfreunden unterscheiden: am meisten Spaß macht mir ganz generell das Schreiben. Ich bin Musiker und ich mag das Musizieren, aber ich komme eben aus einer anderen Richtung. Am Musikmachen mag ich den Aspekt des Schreibens am meisten. Viele meiner Freunde wiederum machen Musik, weil das Musikmachen ihnen am meisten Spaß macht. Das leben sie bis ins Detail, und ich kenne Leute, die haben nicht mal einen Fernseher zu Hause, weil sie immer nur Musikmachen im Kopf haben. Wenn sie nicht selbst welche machen, hören sie Musik. Das ist also der Unterschied zwischen ihnen und mir. Ich begeistere mich für alle Arten des Schreibens, und Musik ist nur eine davon.
Zur Vorbereitung dieses Interviews bat ich meine Praktikantin, einige Interviews mit CURSIVE rauszusuchen. Sie schickte mir eine Liste und bemerkte dazu: „Offenbar gibt alle Interviews nur Tim Kasher.“
Hm, nun, wenn Matt und Ted ein paar Interviews übernehmen wollten, dürften sie das gerne. Aber im Laufe der Jahre übernimmt eben jeder in der Band bestimmte Aufgaben, und es stellte sich heraus, dass meistens Fragen gestellt werden, die sich auf mich beziehen, und es deshalb am einfachsten ist, wenn ich die beantworte. Aber Ted und Matt machen durchaus auch das eine oder andere Interview, einfach um mich zu entlasten.
Macht es dir Spaß, Interviews zu geben, und liest du die auf Englisch gegebenenfalls auch mal?
In der Regel lese ich die nicht, es ist ja meist nur die Abschrift eines Gesprächs, das ich geführt habe. Und andere liest man und ist dann frustriert, weil man feststellen muss, dass man missverstanden wurde. Generell sind Interviewsituationen wie jedes andere Gespräch auch: manche machen Spaß, andere nicht. Vor allem dann, wenn man gleich mehrere Interviews an einem Tag gegeben muss. Aber das machst du eben, denn du willst ja, dass die Leute die Platte hören und wissen, was in deinem Leben so passiert.
Schon euer letztes Album, „I Am Gemini“ von 2012, war nur in den USA auf Saddle Creek erschienen, in Europa aber auf Big Scary Monsters. Diesmal macht ihr es genauso, obwohl ihr mit 15 Passenger mittlerweile sogar euer bandeigenes Label habt, auf dem 2017 eure ersten beiden Alben neu aufgelegt worden waren.
Das erste Mal arbeiteten wir mit Big Scary Monsters bei „I Am Gemini“, richtig. Wir haben eine gute Beziehung zu ihnen aufgebaut und wir haben zwar unser eigenes Label, aber wir können eben da drüben in Europa Hilfe brauchen und sie waren auch diesmal wieder daran interessiert, mit uns zu arbeiten.
Seit „I Am Gemini“ war es releasemäßig ruhig bei euch, nun ein neues Album. Viele Bands setzen mittlerweile auf das kontinuierliche Veröffentlichen von Singles, das Albumformat verliert an Bedeutung. Für euch aber offensichtlich nicht.
Wenn es darum geht, nur noch Singles zu veröffentlichen, dann muss ich sagen, dass das nicht mein Ding ist. Ich verstehe dieses Konzept nicht. In der Hinsicht bin ich dann wohl zum Dinosaurier geworden. Ich kann dann eben nicht mit den in Entwicklung mithalten. Das ist für mich auch eine Frage der Langlebigkeit. Ich sehe da Parallelen zur Literatur, zu Kurzgeschichten – Alben sind in gewisser Weise eine Sammlung von Kurzgeschichten. Wenn nun ein geschätzter Autor zum einen eine Kurzgeschichte im New Yorker veröffentlicht und zum anderen eine Sammlung seiner Kurzgeschichten in Buchform, dann ist für mich das Buch die „richtige“ Veröffentlichung. Das ist die Veröffentlichung, die sich im Lebenslauf wiederfinden wird. Beides hat nicht die gleiche Wertigkeit für mich. Und genauso kann ich eine Single einer Band genießen, aber die hat nicht die Bedeutung eines Albums, und so glaube ich ich weiter an das Albumformat. Und ich glaube nicht, dass sich das ändern wird.
Auf dem neuen Album findet sich der herausragende Song „Life savings“, im Refrain geht es um „money, money, money“. Geht es also immer nur ums Geld?
Ich habe den Song geschrieben unter dem Eindruck, dass wir alle ständig irgendwas tun, irgendwas produzieren müssen. Womit ich nicht sagen will, dass mir das Schreiben keinen Spaß macht. Aber viele Menschen empfinden es als Bürde, jeden Tag aufstehen zu müssen, um irgendeinen Job zu machen, und stellen die Sinnfrage, denn selbst mit ihrem Job schaffen sie es gerade so, über die Runden zu kommen. Die große Frage ist also, was wir uns da eigentlich antun mit dem Kapitalismus.
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