Das Angebot, ein Interview mit Fat Mike zu führen, lehne ich nie ab. Allerdings ist sein Tagesrhythmus ein anderer als meiner. Abends um elf bin ich „durch“, morgens um elf ist er übernächtigt. Vor allem, wenn er nach einer NOFX-Show – die Band ist gerade auf Abschiedstour durch die USA – noch nachts durch Las Vegas gezogen ist, wo er mittlerweile wohnt. Der Grund: Das Punk Rock Museum, sein beeindruckendes Projekt der letzten zwei Jahre. Quasi-Anlass für das Interview war aber sein neues Album „Fat Mike Gets Strung Out“ – ein Album mit Streichinstrumentenmusik. Was es damit auf sich hat und warum Mike immer die Wahrheit sagt, erfährst du in diesem Interview. Was du nicht erfährst: Wie Mike die teils missglückten Europa-Konzerte im Sommer kommentiert, bei denen er nicht singen konnte wegen kaputter Stimme. Darüber sprachen wir nicht.
Wie geht es dir?
Ich bin müde, war gestern lange wach und musste wegen des Interviews jetzt aufstehen. Aber mir geht es super. Das Museum läuft bestens. Und es kommen Menschen dorthin, die weinen, wenn sie da sind.
Sie weinen? Warum?
Die Leute weinen, weil sie hier Dinge aus ihrer Jugend sehen können, und das ist wunderbar. Das Museum ist toll, es läuft finanziell, und es bereitet vielen Menschen viel Freude, gerade auch wegen der Führungen. Ich mache selbst auch hin und wieder Führungen, heute zum Beispiel. Jeder, der die Führungen macht ...
... du hast dafür ein großes Repertoire an Punk-Legenden, die in gewissen Abständen Führungen durch die Ausstellung machen ...
Ja, und alle habe andere Storys, die sie erzählen, denn es geht darum, dass du hier persönlichen Geschichten über all diese Artefakte erfährst. Es ist ein wunderbarer Ort.
Ich habe neulich mit Casey Royer von D.I. gesprochen, er zeigte sich ebenfalls sehr begeistert. Mir gefällt die Idee, dass du Zeitzeugen als Guides anheuerst. Natürlich wurde aber auch hier und da kritisiert, dieses Element der Nostalgie und der Musealisierung von Punkrock wurde angemerkt.
Weißt du was? Es gab nicht eine einzige Person, die bereits selbst dort gewesen ist, und die etwas Schlechtes über das Museum gesagt hätte. Niemand übt Kritik, außer den Leuten, die selbst noch nicht hingegangen sind. Und die sollen sich ficken, echt. Das Museum ist ein verdammt magischer Ort ist und es nichts „unpunkig“ daran, ein Punk-Museum zu haben. So ein Museum ganz grundsätzlich zu kritisieren, das macht keinen verdammten Sinn!
Mir gefällt die Idee, dass so ein Museum aus der Szene heraus entstanden ist, dass Menschen aus Bands dahinterstecken und nicht irgendwelche externen Museumsleute, die dann unsere Szene dokumentieren. Wie wichtig ist dieser Aspekt für dich?
Genau darum geht es. Das Ganze wurde von Punkrockern aufgebaut. Es gibt keinen verdammten Konzern dahinter. Ich persönlich habe über eine Million Dollar von meinem Geld reingesteckt, insgesamt haben wir 4,5 Millionen Dollar investiert.
Ich habe gerade die Erfahrung gemacht, wie positiv sich eine Veranstaltung wie das Rebellion Festival in Blackpool anfühlt. Man ist da ein paar Tage völlig unter seinesgleichen, trifft viele Menschen, führt gute Gespräche, und es es fühlt sich einfach schön an. Siehst du diesen Effekt auch bei deinem Museum, das die Leute tatsächlich besuchen können?
Ja, und das meinte ich gerade, als ich sagte, die die Leute weinen, wenn sie im Museum sind. Es ist eine sehr nostalgische Erfahrung, die sie daran erinnert, wie wichtig Punkrock für ihr Leben ist.
Aber wie wichtig ist Punkrock heutzutage noch für die ganze Gesellschaft? Junge Menschen unter 25 hören eher keinen Punkrock mehr, sie hören Rap und Dance Music. Punkrock ist eher zu einem Randphänomen geworden. Wie siehst du also den Status von Punkrock, wie lebendig ist Punk?
So lebendig wie eh und je. NOFX ziehen in den USA immer noch 10.000 Leute pro Show. Es gibt tonnenweise neue Bands. Keine Ahnung, ob Punk vielleicht in Deutschland tot ist, anderswo in der Welt ist Punk definitiv nicht tot. Zu unseren Shows kommen sowohl Kids als auch ältere Leute. Als ich damals zu Punk kam, gab es an meiner Highschool 13 Punks unter 3.000 Schüler:innen. Punk war nie populär, nur mal kurz ab 1994 für ein paar Jahre. Aber wen interessiert das? Punk ist immer noch sehr lebendig, das merkt man, wenn man sich all die neuen, jungen Bands anschaut.
Vor etwa einem Jahr hast du mich und unsere Leser:innen kalt erwischt, als du im Interview das Ende von NOFX angekündigt hast. Wie hast du die Reaktionen darauf erlebt? Und nun, da eure weltweite Abschiedstournee läuft, wie waren die Reaktionen bis jetzt? Ist den Leuten klar, dass sie eure Band wohl zum letzten Mal sehen werden?
Es wird das letzte Mal sein und ja, deshalb sind die Konzerte so voll. Weißt du, wir hatten 14.000 Leute in Tacoma, Washington. Wir haben 10.000 Tickets für San Francisco verkauft. Wir hatten 12.000 in Orlando, Florida. Wir haben aktuell die mit Abstand größten Zuschauermengen, die wir je hatten, und die Reaktionen waren unglaublich, denn wir haben noch nie so hart geübt und wir gehen in Bestform aus dem Spiel.
Und was macht das mit euch, persönlich und als Band, emotional?
Es ist hart. Bei vielen der Shows haben wir geweint. Es ist sehr emotional und der Grund dafür ist, dass es unsere letzte Tour ist. Und ja, nächstes Jahr bin ich durch mit NOFX. Die anderen können wegen mir weitermachen, aber ich bin dann raus.
Es scheint, dass dir in deinem Nach-NOFX-Leben definitiv nicht langweilig werden wird. Sowieso warst du schon in den letzten Jahren extrem aktiv, ich nenne als Beispiele nur dein Musical, das Museum – und ganz aktuell das „Fat Mike Gets Strung Out“-Album mit Instrumenten wie Violine, Bratsche und Cello. Auf dem Cover bist du als „menschliche Geige“ abgebildet, du spielst da aber nicht selbst. Wie viel von Mike ist auf und in diesem Album?
Das bin alles ich. Ich hatte jemanden, der meine Songs in Streicherarrangements umgewandelt hat, aber jeder Songpart war schon da. Jede Gitarrenlinie wurde also beispielsweise in eine für Cello umgewandelt. Die Melodieführung wird von der Geige übernommen, die Harmonien von der Bratsche. Es gibt ein paar neue Rhythmen, aber es sind meine Songs. Und Bastien „Baz“ Brisson und ich haben dann am Computer noch ein paar Teile hinzugefügt, wie man das eben so macht. Ich hatte für die Aufnahmen Musiker angeheuert, aber nur weil ich die Instrumente nicht selbst gespielt habe, heißt das ja nicht, dass ich die Songs nicht geschrieben habe. Es ist mein fucking Album. Übrigens bin ich auf dem Cover keine „menschliche Geige“, sondern es soll so aussehen, als würde ich mich gerade mit dem Geigenbogen spritzen.
Gehörst du zu der Sorte Mensch, die ständig ein neues Projekt in ihrem Leben braucht?
Ja, ständig! Ich brauche permanent was Neues. So ist mein Leben. Ich arbeite aber auch an Projekten, die nichts mit Musik zu tun haben, an Kunst, an Sachen, die der Welt mehr Freude bringen sollen. Aber dazu kann ich gerade noch nichts sagen, nur so viel: es hat nichts mit Musik zu tun.
Und das Museum? Fertig, läuft, auf zu neuen Ufern? Bist du zufrieden und verlierst das Interesse, wenn du erst einmal etwas geschaffen und in die Welt entlassen hast.
Ja, klar, jetzt brauche ich was Neues! Klar, ich bin jetzt immer wieder im Museum, ich bin nach Las Vegas gezogen, um nahe beim Museum zu sein. Ich bin ja auch ständig dort. Ich habe es geplant, es wurde „geboren“ und jetzt muss ich mich darum kümmern, als wäre es mein Kind. Und natürlich werde ich kein weiteres Museum bauen. Ich habe das getan, es ist gut. Ach ja, am Samstag bekommen wir Joe Strummers Telecaster. Wir werden eine große Geburtstagsparty für ihn ausrichten, und Linda Ramone kommt und Billy Idol und Shepard Fairey und CJ Ramone wird ein paar THE CLASH-Songs spielen.
Henry Rollins eröffnet in Nashville demnächst sein eigenes Punk-Museum. Was hältst du davon?
Das ist in Ordnung. Was er nicht haben wird, ist all das Zeug aus den Neunzigern, den Zweitausendern, den Zweitausendzehnern. Wir sind hier ein Museum für fünf Jahrzehnte Punk.
Ist das der große konzeptionelle Unterschied zwischen euren beiden Projekten?
Ich weiß nicht genau, wie sein Projekt aussehen wird, aber ich kann mir vorstellen, dass die meisten seiner Sachen aus den Siebziger und Achtziger Jahren stammen. Das ist schon in Ordnung, ich möchte das aber etwas inklusiver aufziehen, ich will, dass alle mitmachen können, alle vorkommen. Ich will, dass jeder ein Teil des Museums sein kann.
Ihr seid also keine Konkurrenten in dieser Hinsicht.
Ich bin kein Rivale, er ist einfach ein verdammter Vollidiot.
Aber er kann gut Geschichten erzählen.
Ja und? Er ist kein guter Mensch.
Warum? Was macht in deiner Welt einen guten Menschen aus?
Das ist jemand, der Freude in die Welt bringt. Jemand, der nett zu den Menschen ist. Jemand, der glücklich ist. Jemand, der sich um andere Menschen kümmert. Er tut das nicht. Er setzt ein falsches Gesicht auf für die Presse, aber ich habe seine schlechte Seite gesehen und die ist schlimm.
Wenn du sagst, das ein guter Mensch jemand ist, der Freude in die Welt bringt, dann sprichst du von dir selbst, zumindest in Hinsicht auf dein Museum. Wie schwer war es, an diesen Punkt im Leben zu gelangen? Wir werden alle älter und wir sollten einander nicht danach beurteilen, wer wir in unseren Zwanzigern waren. Menschen sind in der Lage, sich zu verändern, anders zu werden. Was für ein Fortschritt ist in deinem Leben zu erkennen, was war vielleicht nicht gut und was konntest du besser machen?
Ich habe noch nie in meinem Leben gelogen, Joachim. Ich habe in meinem Leben noch nie jemanden beschissen. Ich habe noch nie eine Frau betrogen. Ich war immer ein ehrlicher, hart arbeitender Mensch. Also weiß ich nicht, was ich besser machen könnte. Ich bin nicht wie andere Menschen. Ich kann nicht lügen. Und ich habe auch nie Rache genommen an irgendwem. Ich versuche immer, das Richtige zu tun, aber die Leute sehen das nicht, weil ich oft sarkastisch bin und Witze mache und mich auch mal über Leute lustig mache. Nimm die „Rock against Bush“-Kampagne, der eigentliche Grund dafür war damals, dass ich Leute hasse, denen andere egal sind.
Kannst du sagen, woher dieser moralische Kompass kommt?
Ich kann es nicht sagen. Es liegt sicher nicht an der Religion, es liegt nicht an meinen Eltern. Meine Mutter war eine gemeine Lügnerin und Diebin und mein Vater war ein Arschloch, dem seine Kinder und alle anderen egal waren. Von denen habe ich das also nicht. Ich habe es vom Punkrock, denke ich. Mein Vater hat sich nur einmal für mich eingesetzt, als seine Frau mich beschuldigt hat, Drogen zu nehmen. Ich habe damals aber keine Drogen genommen, ich habe erst in meinen Dreißigern Drogen ausprobiert. Ich habe meine Stiefmutter damals als „cunt“ beschimpft, weil sie mich fälschlich beschuldigt hat, Drogen zu nehmen, und sie hat gesagt: „Du kannst deinen Vater verarschen, aber nicht mich!“ Er kam und schnappte mich und sagte: „Du hast meine Frau als F*** beschimpft?!“ Ich sagte zu ihm: „Sie nannte mich einen Lügner, aber ich lüge nicht.“ Und er ging zu ihr hoch und sagte: „Nenn meinen Sohn nie wieder einen Lügner. Ich habe ihn noch nie beim Lügen ertappt und solange das nicht der Fall ist, ist er für mich kein Lügner.“ Und das blieb bei mir hängen und seitdem habe ich nie wieder gelogen. Nie wieder.
Interessant. Ich wüsste nicht, ob ich das von mir selbst sagen könnte. Die Frage ist: Was ist eine Lüge? Ist das auch ein taktischer Umgang mit der Wahrheit? Oder wenn man etwas nicht sagt, weil man niemanden verletzen will?
Etwas nicht zu sagen, ist sicher keine Lüge. Es ist das Weglassen der Wahrheit, warum auch immer. Du gehst eben nicht auf Leute zu – außer du bist Deutscher – und sagst ihnen, dass ihre Musik scheiße ist oder dass sie fett sind. Das machen Deutsche gerne.
„The German compliment“ nennt man das ...
Genau. Aber wenn man jemandem nicht sagt, dass er fett ist, ist das keine Lüge.
Lass uns noch mal auf die moralischen Werte des Punk eingehen. Kannst du dich an eine bestimmte Zeile aus einem Song oder einem Album erinnern, die deine Sicht auf die Welt und deinen moralischen Kompass geprägt hat?
Fast alles an Punk. Worüber singen Bands denn? Über die Ungerechtigkeit in der Welt, von Anfang an. Punkrock hat eindeutig den besten Moralkodex aller Musikstile. Das ist unbestreitbar. Also ja, wenn du Punkrocker bist, hast du mit Sicherheit einen besseren Moralkodex als andere Leute. Als Punk wirst du den ganzen Tag mit Texten bombardiert, die politisch korrekt sind.
Und dann kam es vor ein paar Wochen zur schlimmste Katastrophe, die man sich vorstellen kann: ANTI-FLAG haben sich aufgelöst, weil wohl einer von ihnen gegen diesen Moralkodex verstoßen hat.
Ein Typ aus der Band hat es für die anderen in der Band versaut, das will ich klarstellen. Wir reden hier nicht davon, dass „die Band“ etwas getan hat – nur einer aus der Band war es. Chris #2 hat mich angerufen, er konnte nicht aufhören zu weinen, als ich mit ihm am Telefon gesprochen habe. Er ist völlig am Boden zerstört. Er hat sein ganzes Leben lang für die Band gearbeitet. Die Band war sein Leben, seit er 15 Jahre alt ist, und das wurde ihm alles genommen von diesem Arschloch. Ach ... lass uns das Interview hier beenden. Ich bekomme gerade richtig schlechte Laune wegen all dem. Ich bin müde, ich habe nicht genug geschlafen und ich bekomme so einen wütenden Unterton in der Stimme, der mir nicht gefällt.
Mike, dann danke ich dir bis hierhin.
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