Dass die Post-Hardcore-Band TOUCHÉ AMORÉ um Sänger Jeremy Bolm große Songs über die Stolpersteine des Lebens schreiben kann, müsste mittlerweile eigentlich bekannt sein. War es auf „Stage Four“ noch eine Krebsdiagnose in Jeremys Familienumfeld, so hat sich zwei Alben später die Stimmung vielleicht ein wenig aufgehellt. Immer noch weit weg von klebrigem Pop-Punk, aber mit der gereichten Hand und an manchen Stellen schon fast hymnisch, ist „Spiral In A Straight Line“ nicht nur eine weitere Stufe für TOUCHÉ AMORÉ. Die elf Songs haben wieder das Potenzial, bei manchen fast wie eine Psychotherapie zu wirken. Warum das bei Bolm so war, und wie sich „Spiral In A Straight Line“ vom Vorgänger „Lament“ von 2020 unterscheidet, erfahren wir hier.
Spiral In A Straight Line“ ist ein faszinierender Titel – was bedeutet er und wie repräsentiert er die Themen des Albums?
Der Titel stammt aus dem ersten Song, den wir für das Album geschrieben haben, der „Altitude“ heißt. Er definierte den Ton, wo ich mental zu der Zeit stand, was leider immer noch zutrifft: das überwältigende Gefühl von Angst oder lähmender Panik, das einen plötzlich überfallen kann und den ganzen Tag durcheinanderbringt. Die Vorstellung, dass die Dinge um dich herum sich völlig instabil anfühlen, während du selbst weitermachst, als ob in deiner Welt alles in Ordnung wäre.
Der Titel des Albums suggeriert eine Spannung zwischen Bewegung und Stillstand. Wie erkundest du dieses Konzept in den Texten und dem Sound des Albums?
Das ist eine großartige Frage. Es gibt viele wiederkehrende Themen wie Windungen, Verstrickungen usw. Wir sind stolz darauf, eine Band zu sein, die weiß, wie man in einer bestimmten Weise sanft hin zu laut steigert, und bei diesem Album, denke ich, haben wir wirklich den richtigen Punkt zwischen den Lautstärken getroffen, um die sehr greifbaren unangenehmen Themen, die projiziert werden, zu verstärken.
Ist es möglich, dass ihr eure Herangehensweise an die Musik seit „Lament“, eurem letzten Album, verändert oder sogar erweitert habt? Wie spiegelt sich das im neuen Album wider?
Ich möchte nicht wie eine kaputte Schallplatte klingen – weil ich das oft sage –, aber wir glauben fest daran, dass wir jedes Album erst vollständig erschließen müssen, bevor wir zum nächsten übergehen können. Das bedeutet, alle Lektionen aufzunehmen, die wir von jedem Schritt seiner Entwicklung lernen können – vom Schreiben über das Aufnehmen bis hin zu Live-Auftritten. Wir mussten das bei „Lament“ tun, bevor wir überhaupt daran denken konnten, neues Material zu schreiben. Auch wenn es ein paar Jahre dauern mag, haben wir festgestellt, dass die Ideen viel schneller kursieren und immer jemand im Raum eine Idee hat, wohin ein Song gehen könnte, wenn wir uns entscheiden, ein neues Kapitel zu beginnen. Das steckt nun mal in uns drin, ob wir es merken oder nicht.
Mir gefällt der inhaltliche Ansatz eurer ersten Single „Nobody’s“: In einer Welt, die vom Lärm der sozialen Medien dominiert wird, in der wir alle um Aufmerksamkeit konkurrieren, fühlt es sich an, als ob es nicht gut genug ist, „normal“ zu sein. Das kann uns krank machen und unser Wohlbefinden beeinträchtigen. Ist es nicht besser, „nichts Besonderes“ zu sein und sich darauf zu konzentrieren, gut für sich selbst zu sorgen? Geht der Song in eine ähnliche Richtung, oder liege ich völlig daneben?
Das ist eine ziemlich interessante Interpretation des Songs, und ehrlich gesagt habe ich nicht wirklich das Recht, jemandem zu sagen, was ein Song bedeutet, sobald er seine eigene Version der Interpretation gefunden hat – aber für das Interview werde ich sagen, dass es ein Song darüber ist, die Dinge zu schützen, die dir am wichtigsten sind.
Wie hat sich die Dynamik der Band während der Entstehung dieses Albums entwickelt? Hat jemand neue Rollen übernommen oder neue Ideen eingebracht?
Das Hauptbeispiel, das heraussticht, ist, dass „Nobody’s“ ein Song ist, für den ich die Riffs bereits 2009 geschrieben habe, da sie ursprünglich für THURSDAY gedacht waren. Damals war ihr Sänger Geoff nach L.A. gekommen, weil er an ihrem neuen Album arbeitete und ein paar Ideen mit mir austauschen und ein bisschen jammen wollte. Diese Riffs wurden damals nicht verwendet, aber ich habe sie all die Zeit für mich behalten. Ich habe seit dem Demo keine Songideen mehr in die Band eingebracht, aber vielleicht wird das jetzt, da ich ein bisschen mehr Selbstvertrauen in dieser Angelegenheit habe, häufiger passieren. Ich bin begeistert davon, wie der Song geworden ist. Bei allen Songs, die wir in den Proberaum bringen, durchläuft die ursprüngliche Idee einen enormen Prozess, bei dem sie auf der anderen Seite völlig anders herauskommen, wenn alle ihren Beitrag geleistet haben.
Deine Texte waren schon immer sehr persönlich und introspektiv, aber hast du festgestellt, dass du auf „Spiral In A Straight Line“ mehr politische Themen oder gesellschaftliche Kommentare einbringst? Ich frage das, weil Trumps Präsidentschaftswahlkampf für starke Spannungen in den Staaten und irgendwie auch in der ganzen Welt sorgt.
Ich neige bei TOUCHÉ AMORÉ ziemlich selten dazu, politisch zu sein. Vielleicht mal eine Zeile hier oder da. Vieles davon spare ich mir für meine andere Band HESITATION WOUNDS auf. Aber selbst in dieser Band schreibe ich selten über spezifische Themen, weil sich die Narrative so oft ändern, dass ein Song ziemlich schnell veraltet sein kann. Es ist eine beängstigende Zeit, würde ich sagen, global gesehen, nicht nur in den USA.
Einer meiner Lieblingssongs auf dem Album ist „Hal Ashby“, wegen seines typischen TOUCHÉ AMORÉ-Sounds und eines Funkens Hoffnung. Ich kenne Hal Ashby wegen seines Films „Harold und Maude“, den ich wirklich liebe, weil er so originell, lustig und düster ist. Was steckt hinter diesem Song?
Hal Ashby hat mehrere Filme über tragisch missverstandene Charaktere gemacht. Auf der Idee von Missverständnissen – subtil oder nicht so subtil – basiert das Thema dieses Songs.
In einem deiner Instagram-Videos erwähnst du, dass ihr das Album „eilig rausgebracht“ habt. Warum das?
Wir waren anderthalb Monate über der Deadline – wir hatten eine Tour geplant, um es zu supporten, also mussten wir es wirklich hinbekommen. Zum Glück konnte Rise, unser Label, den Veröffentlichungstermin trotzdem noch einhalten, obwohl wir so spät dran waren. Es war alles schrecklich stressig.
Ihr habt kürzlich eine Liste von Songs veröffentlicht, die euch beim Schreiben dieses Albums beeinflusst haben. Darunter sind Stücke von THE POLICE, MASSIVE ATTACK, aber auch ZZ TOP und HOPESFALL, die ich wirklich liebe. Ich denke, dass man so etwas wie „The bending“ in „Subversion“ hören kann, einem Song, den ihr mit Lou Barlow gemacht habt. Kannst du mir etwas über diesen Song erzählen?
Wir waren auf Tour in Australien, und ich hörte den Song „Brand new love“ von SEBADOH, als wir in Adelaide landeten. Ich entschied mich, darüber zu schreiben, und dabei wurde mir klar, dass der Refrain von „Brand new love“ interessanterweise über unser Outro passte – also fragte ich Lou Barlow, ob er seinen eigenen Song über unseren singen würde. Ich kann immer noch nicht glauben, dass er es gemacht hat. Es ist mein Lieblingsmoment auf dem Album.
Ein weiterer Gast ist die großartige Julien Baker von BOYGENIUS bei „Goodbye for now“. Kannst du uns was über die Intention hinter diesem Feature erzählen?
Julien ist wirklich zu einer Art Geheimwaffe geworden, da sie nun schon auf drei Alben in Folge zu hören ist. Dies war das erste Mal, dass sie ins Studio kommen und mit uns persönlich singen konnte, und es war eine erstaunliche Erfahrung. Mir hatte die ganze Zeit etwas am Ende des Songs gefehlt, aber eines Abends machte es klick, und ich fragte sie, ob sie Lust auf eine dritte Runde hätte – und sie war so cool, ein paar Tage später vorbeizukommen. Sie ist wirklich eine so brillante Sängerin, es ist faszinierend, ihr zuzusehen.
Mit deinem Podcast „The First Ever“ bist du ähnlich nah am Puls der Szene wie Norman Brannon mit seinem Fanzine Anti-Matter. Inwieweit hat dich die Kommunikation mit den Künstlern, die da zu Gast sind, beeinflusst?
Der Podcast dient mir jede Woche als große Inspiration. Von den bescheidenen Anfängen zu erfahren und die Dankbarkeit zu hören, die die Leute für ihren Weg und die Momente empfinden, die ihre Geschichte definiert haben, ist etwas, das ich sehr schätze. Man darf einfach nichts als selbstverständlich betrachten.
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