Spätestens seit ihrem Album „Flucht nach vorn“ von 2013 sind ROGERS ein Teil jener – wenn man so will – neuen Düsseldorfer Punkrock-Welle, die vor etwa vier Jahren mit dem ersten Charterfolg der BROILERS einsetzte und auf der unter anderem auch KOPFECHO, MASSENDEFEKT und wieder aufgetauchte Szeneveteranen wie 4 PROMILLE schwimmen. Noch sind die Läden, in denen das Quartett spielt, nicht riesig, aber Frontmann Chri und Co. klappern stur die wichtigen Szenefestivals ab, ziehen mittlerweile Fans aus dem ganzen Land an – und wollen es jetzt, mit „Nichts zu verlieren“, endlich wissen.
Album Nummer zwei wurde jüngst auf People Like You veröffentlicht, jenem Label, das schon den BROILERS als Sprungbrett diente. Die Promo-Maschine für die neue Platte hatte entsprechend länger, rasanter und lauter als je zuvor gerattert. Und nach der Einladung zu einer ersten Listening-Session im Studio folgte schließlich eine zum Gespräch mit Chri und Bassist Artur an einen Ort, der für ein Interview doch eher ungewöhnlich ist, der aber irgendwie symbolisch für das steht, was diese umtriebige und offensichtlich hoch motivierte Band ausmacht.
Sie wären dann soweit. Ein schöner Satz. Sie haben ihn zwar nicht gesagt, die ROGERS aus Düsseldorf. Aber sie könnten ihn sehr gut gesagt haben. Denn irgendwie spricht er aus jedem Statement, das die Düsseldorfer Punks derzeit abgeben: Sänger Christian „Chri“ Hoffmeier, Bassist Artur Freund, Gitarrist Nico Feelisch und der neue Schlagzeuger Dominic „Dom“ Sbarcea scharren mit den Füßen. Der nächste Schritt steht an. Das Sprungbrett dazu ist ein neues Album, das erstmals mit allem Brimborium arrangiert, aufgenommen und beworben wurde. Und sein Titel ist gleichzeitig Programm und Lüge: „Nichts zu verlieren“.
Denn natürlich haben sie etwas zu verlieren, diese vier, die sich vor neun Jahren – da gingen sie alle noch zur Schule – zunächst als NOTAUFNAHME gründeten, später zu JOLLY ROGER wurden und seit 2011 ROGERS heißen. Das zeigt ja schon der Rahmen, in dem Chri und Artur zum Gespräch bitten: Ein recht teures Restaurant auf Düsseldorfs neuer In-Meile, den Schwanenhöfen. Und Chri, der Sänger, die Rampensau, steht hier hinter einer Theke, an der Artur mit einem Bier in der Hand lehnt, und schiebt eine Pizza nach der anderen und Flammkuchen um Flammkuchen in den Ofen.
Was das zeigt? Die ROGERS stehen zwar in den Startlöchern und wollen mehr. Um jeden Preis. Aber das Geld zum Leben muss nebenbei eben noch anderweitig rangeschafft werden. Nicht im Büro mit einem Nine-to-five-Job, der das Touren und Aufnehmen von Musik auf die Wochenenden beschränken würde. Sondern mit derlei Knochenjobs, die mit der Leidenschaft des Lebens – der Musik, dem Punk – unbedingt kompatibel sind. Und würde die neue Platte jetzt floppen, dann wären Pizzen und Flammkuchen eben die Zukunft. Dann bekäme der Traum, den das Quartett derzeit träumt, einen gehörigen Dämpfer. Dann hätten sich ROGERS zuletzt umsonst die jungen Hintern abgespielt während der zig Konzerte in Hallen und bei Festivals – alleine im vergangenen Jahr seien es über 120 gewesen, wie Artur sagt. Aber: „Wir haben so viel erlebt und so viel Arbeit und Herzblut in dieses Album gesteckt“, erklärt Chri, während er den Teig rollt, „dass wir uns mit dem Scheitern gar nicht befassen.“ Nichts zu verlieren eben.
Hauptsache raus aus diesem Leben. Rein ins Reich der professionellen Musik. Was Mut macht und Zuversicht schenkt: Die neue Platte klingt wie aus einem Guss. War der Vorgänger „Flucht nach vorn“ noch ein wenig holprig mit seinem Mix aus Rock und Punk, gibt es jetzt Punkrock pur. Keinen angestaubten Siebziger-Jahre-SEX-PISTOLS-Gedächtnis-Krach, sondern die zeitgemäße Variante dieses Genres, das so unverwüstlich ist: Die Gitarrenriffs von Chri und Nico driften auch mal in entgegengesetzte Tonlagenrichtungen. Die Basslinien von Artur gehen über das im Genre weit verbreitete, stupide Nachzupfen der Grundakkorde hinaus. Dom, der Neue am Schlagzeug, der im vergangenen Jahr Gründungsmitglied und Bandkumpel Simon ablöste, hat den Druck, den Punch erhöht. „Er ist ein Glücksfall für uns“, sagt Chri. Dom verwandelte Krise und Sorge in Kreativität und Freude. „Als Simon uns sagte, dass er aussteigt, da hatten wir alle Panik“, erinnert sich Artur. Und am panischsten sei Nico gewesen, der traditionelle „Oberpaniker“ der Truppe. Was sich als hilfreich herausstellte: „Er setzte sich nämlich umgehend hin und suchte nach einem Nachfolger, der nicht nur bereit war, zwei Wochen später ein paar Festivals mit uns zu spielen“, wie Chri sagt, „sondern der auch sofort den unbedingten Willen besaß, die ROGERS-Zukunft mitzugestalten.“ Dass es mit Dom jemand wurde, der den Sound der Band derart extrem prägen würde, hätte trotzdem niemand zu träumen gewagt.
Auf „Nichts zu verlieren“ sitzt jede Zutat. Von der Musik bis zu den hartnäckig im Gehör bleibenden Mitsingrefrains- und Chören, die den einen oder anderen Kritiker zweifelsohne zum in Düsseldorf mittlerweile schon obligatorischen TOTEN HOSEN-Vergleich bringen werden. Aber das muss ja nichts Schlechtes bedeuten. Das kann auch durchaus einmal als Qualitätsmerkmal durchgehen. Zusammengesetzt wurden die Zutaten in den Rock Or Die-Studios im Herzen der Landeshauptstadt von Nordrhein-Westfalen. Dort, unweit der Königsallee, ließ die Band einen Teil ihrer Vergangenheit hinter sich und machte den ersten Schritt in die Zukunft: „Beim vorigen Album ,Flucht nach vorne‘ hatten wir uns noch hingesetzt, wahllos Akkorde gespielt und einfach drauflos gezockt“, erinnert sich Artur. Das hört sich zunächst einmal vielleicht ganz charmant an – zumal für eine Band, die sich selber eher als Live- denn als Studio-Kapelle versteht. „Aber es fehlte die Struktur“, wie Artur meint. Deshalb habe man diesmal nicht ohne Ziel und im Rausch weiter geschrammelt, sondern ausprobiert, verändert, hinzugefügt, experimentiert. Geschrammelt wurde erst, wenn der Song auch fertig war. Wenn Fleisch am Song-Skelett hing. „Dadurch klingen die Stücke dieses Mal wesentlich stringenter“, sagt Artur. Der viel beschworene rote Faden zieht sich durch das Album. Und das erklärt auch den TOTEN HOSEN-Einschlag: „Die Platte ist poppiger als alles, was wir vorher gemacht haben.“ Wären die Songs auf „Nichts zu verlieren“ mit ihren Geschichten über das konsequente Leben nach eigener Vorstellung lebendig – sie würden jedermann ins Gesicht springen. Ob dieser jemand wollte oder nicht.
Ebenso auffällig wie die musikalische Wandlung sei jedoch die Art und Weise, wie sich ROGERS heute präsentieren. Wer sie vor Jahren live auf der Bühne erlebte oder ihre alten Alben hörte und sie jetzt noch mal erlebt und hört, der stellt fest: Die Naivität ist weg. Diese vier Jungs Mitte bis Ende zwanzig sind keine Jungs mehr, sondern ernsthafte Musiker. Man selber merke die Entwicklung gar nicht einmal so sehr, „sondern sieht nur, dass einem hier und da ein paar technische Sachen viel leichter von der Hand gehen als früher“, wie Artur es beschreibt. Aber das Feedback von Menschen außerhalb der Band, die Reaktionen des Publikums seien ein Indiz dafür: „Wenn die Leute plötzlich deine Texte mitsingen, wenn sie sich sichtbar in ein Konzert ,hineinfallen‘ lassen – dann merken wir, dass sich etwas getan hat“, sagt Chri. Den plakativen, unvermeidlichen Satz dazu haut Artur mit einem Lächeln im Gesicht raus: „Stillstand ist der Tod!“
Bleiben allerdings die Texte auf „Nichts zu verlieren“ ... Die sind einmal mehr recht pathetisch geraten, setzen sich zumeist mit der Verwirklichung des eigenen (Band-)Traums auseinander. Und sie könnten dem einen oder anderen potenziellen Hörer vor den Kopf stoßen, wenn sie nicht ein wenig erklärt werden. Immerhin macht sich Chri unter anderem über Menschen lustig, die am Wochenende mit der „Familienkutsche“ durch die Gegend fahren. Sprich: Über Menschen, die Familie mit Kindern haben. Dürfen die also keinen Punkrock hören? Sind Mütter und Väter weniger Punk als der Konzertstammgast mit grünem Irokesenschnitt auf dem Kopf? Ist es uncool, einer geregelten Arbeit nachzugehen, um die Familie zu ernähren? Sind diejenigen, die mit ihrer Band auf der Bühne stehen und diesem Leben Dinge wie Mann, Frau, Kind, Lebenspartner und Freundschaften unterordnen, die besseren Menschen, weil sie sich als Freigeist und Ausbrecher aus dem Gerüst der gesellschaftlichen Zwänge inszenieren?
„Entschieden: Nein!“, sagt Chri sofort und hört für einen Moment damit auf, den Teig in seiner linken Hand mit Tomaten zu belegen. „Ich kann zwar durchaus nachvollziehen, wenn manch einer beim Hören der Songs so denkt. Aber: Es ist nicht so gedacht.“ Die Texte auf „Nichts zu verlieren“ sollen die Menschen, die zuhören, einfach nur dazu bringen, über das nachzudenken, was sie in ihrem Leben vielleicht alles so einengt. „Dabei geht es nicht darum, Frau und Kind stehen zu lassen. Nein! Es geht um all diese gesellschaftlichen Zwänge, all diese Kleinigkeiten, die uns von anderen aufgebürdet werden und die uns in unserer Freiheit einschränken.“ Da gebe es so viele Dinge. Menschen lebten abgeschottet voneinander in ihrer eigenen, kleinen Welt – obwohl sie doch lieber rausgehen und auf andere zugehen sollten. „Und vielleicht merken wir das gerade extrem, weil wir uns da ganz raushalten. Weil wir uns dem verweigern und unseren Band-Traum leben.“
Artur betont, dass „Arbeit dich ja auch nicht ankotzen muss“. Wenn man sie gerne mache und Spaß dabei habe, dann sei es doch gut. „In unseren Texten geht es nicht im Vorwürfe und das Lange-Nase-Machen. In unseren Texten geht es darum, den Leuten zu zeigen: Sieh zu, dass du glücklich bist! Schau, was du gerne machst – und tue es!“ Man müsse sich nur trauen. Das Geheimnis sei Zufriedenheit. „In der Straßenbahn sind es die vom Leben verbitterten Rentner, die dir den Stock über den Kopf ziehen, wenn du aus der Rolle fällst. Denjenigen, die mit sich im Reinen sind, passiert das nicht.“ Das Plädoyer der ROGERS auf „Nichts zu verlieren“ ist eines für Selbstverwirklichung und gegen das Aufgeben der Persönlichkeit.
Apropos „Nichts zu verlieren“: Warum heißt diese Platte eigentlich so, wie sie heißt – wenn doch jeder etwas zu verlieren hat, und eine Band wie ROGERS sogar gleich einen ganzen Traum, einen konsequenten Lebensentwurf? „Das“, sagt Artur und grinst, „ist eine echt gemeine Frage!“ Dass sie irgendwann kommen musste, sei ihm allerdings klar gewesen. „Also kläre ich mal auf: Dahinter steckt natürlich nicht die Einschätzung, dass wir als Band nichts zu verlieren hätten. Im Gegenteil: Wir wissen, was wir erreicht haben. Wir sind unfassbar stolz darauf und werden das ganz sicher nicht kleinreden. Insofern haben wir sehr wohl etwas zu verlieren.“ Indes: „Es geht uns mit dem Titel dieser Platte um Trost. Wir wollen damit sagen: Egal, wo du stehst – du bist und bleibst ein Mensch. Und die Menschen, die mit dir da stehen und dich lieben, werden das auch immer tun. Also: Mach dein Ding! Probiere aus! Habe Mut!“
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