Zwei Jahre nach „Mahnstufe X“ schieben OIRO mit ihrem fünften Album „Coole Narben“ bereits den Nachfolger hinterher. Waren sie letztes Mal bereits zum Quartett geschrumpft, wurde die neue Platte nur noch als Trio eingespielt. Wir treffen Sänger Jonny in seinem Atelier in Düsseldorf-Flingern.
Du hast mich ja ganz schön unter Druck gesetzt, als du bei der Verabredung des Interviews sagtest: „Bring bloß gute Fragen mit.“
Haha, ja?! Ich führe im Moment selber viele Interviews für ein Magazin, das Meteorit heißen und im Herbst erscheinen wird. Da geht es um Utopienforschung. Gesellschaftliche Utopien. Künstlerische Utopien. Die Kritik dessen, was ist, und die Darstellung dessen, was sein soll. Wie wollen wir – utopisch gedacht – leben. Grundsätzlich ist für gute Fragen wichtig, dass du dich eingelesen hast und dich etwas auskennst, damit nicht Fragen kommen wie „Seit wann gibt es euch?“ oder „Wie ist die neue Platte, erzähl mal?“.
Für das Blurr-Fanzine hast du früher schon Interviews geführt.
Wir haben beim Blurr irgendwann angefangen, Themenmagazine zu machen – Liebe, Hobby, Alter – und mit Bandinterviews aufgehört, weil uns das extrem gelangweilt hat. Ich habe mal Dick Dale interviewt, den Surfgitarrentyp. Er hielt sich für einen Riesenstar und machte auf naturverbunden. Wir haben vom vorherigen Interview aufgeschnappt, dass er Snowboarden war und unsere erste Frage dann: „Wir sind ja gegen Snowboarden wegen der Umwelt und Erhaltung der ursprünglichen Natur.“ Er ist sofort eskaliert. Das war super. Ist natürlich ganz toll, wenn jemand die Fassung verliert.
Auf dem Cover zu „Coole Narben“, soll das Evil Knievel sein?
Eine Abwandlung davon, ja. Es ist von Heinz Hausmann, dem gleichen Künstler, der auch das Cover von „Mahnstufe X“ gemacht hat. Es geht um Jugendzimmerträume. Wenn ich Jugendlicher bin, wie denke ich über die Welt? Welche Einflüsse haben auf mich eingewirkt? Es ist ein wenig die Jungsperspektive mit Autos und Helden. Welches Ideal setzt mir die Gesellschaft da vor? Das Genderthema. Rollentypen. Feuerwehr- und Polizeiautos. Klischees halt.
Was sind denn coole Narben? Die Harry-Potter-Narbe auf der Stirn für Zehnjährige? Oder der zünftige Schmiss einer schlagenden Studentenverbindung? Seelische Narben?
Frei interpretierbar. Erste Klasse, zweite Klasse, dritte Klasse, Klassenbeste, Klassensprecher, Klassenlehrerin. Ich muss kotzen. Ein Freund von mir hat mit knapp über fünfzig einen Schlaganfall gehabt. Glücklicherweise sieht das inzwischen wieder sehr gut für ihn aus. Er war immer der Typ, der sich nie helfen ließ. Nun wurde ihm vom Schicksal aufgezwungen, dass er Hilfe zulassen musste, was er erst einmal ganz schrecklich fand. Als Mensch muss er lernen, dass er nicht nur geben muss, sondern dass Freunde auch dazu da sind zu helfen. Übertragen ist das eine coole Narbe. Aber ich interpretiere meine Texte nicht. Das musst du schon machen, haha.
Wie habt ihr ein neues Album in nur knapp zwei Jahren zustande bekommen? Die Abstände vorher waren immer viel länger.
Pandemie. Das macht kreativ. Ich kenne viele Leute, die so wahnsinnig viel in diesen zwei Jahren gemacht haben. Wir hatten „Mahnstufe X“ gerade veröffentlicht, zwei Konzerte gespielt, dann wurde alles abgesagt. Das fanden wir scheiße und hatten keine Lust, neue Songs zu schreiben, denn wir hatten doch gerade erst ein Album voller geiler Songs gemacht. Drei Monate haben wir dann gar nichts gemacht. Bevor wir uns weiter langweilten, entschlossen wir uns, eben doch ein weiteres Album zu machen. Dazu kam auch noch, dass unser Drummer ausgestiegen ist. Wie sollte es weitergehen? Wir haben also einen alten Drumcomputer, den wir noch hatten, einen Roland 505, entstaubt und die ersten Songs programmiert. Das war witzig. Die Stücke wurden immer reduzierter und exakter. Die ganzen Schwankungen und Dynamiken waren weg, aber es gefiel uns. Du musst nur akzeptieren, dass es eine Maschine und kein Drummer ist. Und dann ging es zack-bumm. Das Thema der Platte ist die Pandemie, was sich nicht so einfach erschließt, wie eigentlich immer bei meinen Texten, die eh keiner versteht, haha. Mit allem Negativen und dem Positiven im Negativen. Ich wohne im Stadtzentrum von Düsseldorf. Plötzlich Endzeitstimmung, keine Autos, Stille. Man hörte Vögel zwitschern, wo vorher keine waren. Die Natur eroberte sich die Urbanität zurück. Das war irgendwie utopisch schön. „Wie sähe die Nacht tagsüber aus?“
Gibt euer Alltag, das normale Leben wieder mehr Zeit zum Schreiben einer neuen Platte her?
Beide Platten gehören trotz des Drumcomputers thematisch und vom Sound her zusammen. Wir hatten wieder etwas zu sagen. Durch die Pandemie gab es plötzlich wieder Stimmungen, zu denen man etwas sagen konnte, die dich beklemmen, mit denen du dich auseinandersetzt. Du hast Freunde verloren. Menschen, von denen du dachtest, dass du sie kennst, haben sich so entwickelt, wie du es nie für möglich gehalten hättest. Verhalten, Kontroversen richtig oder falsch. Es gab viele Extremsituationen und plötzlich hast du als Punkband wieder etwas zu sagen, ist doch schön. Wir sind heute alle um die fünfzig Jahre alt, was wir natürlich nicht sein wollen, aber die Kinder sind größer und die Band bekommt wieder mehr Raum in unserem Leben.
Muss das dennoch akribisch durchgeplant werden?
Wir sind ja nur noch zu dritt, da geht das recht leicht, was sehr geil ist, haha.
Im letzten Interview sprachen wir über euren ehemaligen Kulturverein „Brause“, dessen Gebäude, eine alte Tankstelle, abgerissen wurde. Fränkie Disco hat neulich ein Foto des neuen Gebäudes gepostet, das jemand mit „JVA Mittelstand“ kommentiert hat.
Haha, ja, das trifft es doch ganz gut. Das ist wirklich so eine Knastarchitektur, genau wie die Hochschule hier. Diese erstickende Architektur auf diesem Platz, der so schön offen war, mit dem alten Fünfziger-Jahre-Tankstellengebäude, vorbei geplant an den Bewohnern. 800.000 Euro für ein 120-qm-Appartement.
Für Düsseldorf fast noch günstig.
Stimmt leider. Knapp unter einer Million ist günstig. Erschreckend, oder?! Wir haben ja damals über Denkmalschutz gesprochen. Es gab ein großes Medienecho, aber es ist genauso gebaut worden, wie die das geplant haben. Das ist denen vollkommen egal, ob es Gegenargumente oder sogar Strafen gibt. Es ist doch inzwischen Strategie der Baugesellschaften, die Anwohner pro forma mit ins Boot zu holen und vermeintlich an der Planung teilhaben zu lassen, und dann wird doch so gebaut, wie es vom Auftraggeber gewollt ist.
Das neue Album ist zunächst nur als Tape erschienen. Warum?
Das Vinyl erscheint Anfang Mai wie immer bei Flight 13. Bereits im Oktober 2021 ging es ins Presswerk und mit Mai sind wir fast noch schnell. CD wäre schneller gegangen, aber da haben wir keinen Bock drauf. Jetzt gibt es das Album vorab in kleinster Auflage bei Raccoone Records. Dass überhaupt noch jemand ein Tapedeck hat, ist cool. Ich habe eins im Auto. Heute ist die Reinigungskassette mit der Post gekommen, dann hört das Leiern vielleicht auch auf. Das Album gibt es vorab nicht digital. Erst, wenn das Vinyl da ist.
Ich habe noch ein paar Fragen zu Songs des neuen Albums. „Bus 780“, das ist die Linie von Haan zur Heinrich-Heine-Allee in der Innenstadt.
Der Song spielt eigentlich im Reisholzer Hafen, einem Industriegebiet. Ich bin in Düsseldorf mit dem 780er immer in die Innenstadt gefahren. Als meine Eltern mich nachts noch nicht rausgelassen haben, bin ich oft abgehauen und mit einem Skaterkumpel nach Bochum ins Logo gefahren. Das war eine Punk-Skate-Disko. Da war ich 14, haha. Bochum ist von Düsseldorf aus schon weit. Irgendwann bin ich auf dem Rückweg mit dem ersten Bus vom Hauptbahnhof um 5:30 Uhr nach Hause gefahren und im Bus eingepennt. An meiner Haltestelle hat mich der Busfahrer geweckt und meinte zu mir: „Ey, du musst doch hier raus?!“ Das fand ich geil. Ich, 14, Bochum, große weite Welt, Punk und Skaten, und dann weckt mich der Busfahrer, weil der weiß, wo ich wohne.
In „In der Höhle ist noch Platz“ gibt es die Zeile „Die ganzen Freaks, die man nicht mehr trifft“.
Das bezieht sich wieder auf die Situation in der Pandemie, auf den Lockdown. Wenn nichts stattfindet, triffst du auch die Freaks nicht. Es gibt total viele Freaks, die mir was bedeuten, die nicht meine engen Freunde sind. Aber wenn ich die auf Konzerten treffe und quatsche, mit denen saufe und feiere, dann sind die mir total wichtig und ich habe viel an diese Menschen gedacht, die ich überhaupt nicht mehr gesehen habe. Die andere Erzählung des Songs beinhaltet meine Gedanken zum Tod von Françoise Cactus von STEREO TOTAL letztes Jahr. In den Text habe ich Zitate eingebaut. Wenn ich draufgehe, will ich auch in die Höhle kommen, in der Françoise und die anderen Freaks jetzt rumhängen.
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