DRITTE WAHL

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In Rostock verwurzelt

Ein neuer Keyboarder, ein neues Album, eine Jubiläumstour und als trauriger Anlass der zehnte Todestag des Bassisten Buschn – Zeit, mal nachzuhören, was die Rostocker Deutschpunk-Granaten ohne Blatt vorm Mund da gerade so treiben, die wir ausgerechnet auf einer IN EXTREMO-Tour treffen.

Seit über 26 Jahren seid ihr nun im Geschäft und macht nach wie vor alles selbst. Und wenn mal ein Groschen übrig bleibt, wird dieser in wohltätige Projekte gesteckt. Obendrein seid ihr dankbare Gäste, ohne herumzuquengeln.


Gunnar: Na ja, irgendwann sind wir an dem Punkt angelangt, ab dem wir von dem, was wir so tun, leben. Daher ist es uns auch sehr wichtig, unseren „Job“ zu behalten. Dazu gehört für uns totale Loyalität gegenüber den Fans und Veranstaltern. Und wenn mal ein Abend scheiße läuft, dann ist er eben für beide Seiten scheiße gelaufen.

Dietmar: Das Schöne dabei ist aber auch, dass wir uns da überhaupt nicht verstellen müssen. Das ist schon alles echt, was da auf der Bühne passiert.

Und was spielt ihr auf der Bühne? Eine Setliste hattet ihr lange nicht.

Stefan: Die brauchten wir auch nicht, weil wir weitestgehend auf Zuruf gespielt haben. Bei größeren Support-Shows, wie jetzt mit IN EXTREMO, letztens DIE TOTEN HOSEN oder dazwischen mit den BROILERS, geht man dann doch schon etwas geplanter an die Sache.

Gunnar: Im Rahmen der letztjährigen 25-Jahre-Tour haben die Fans unsere Setlist ja mitgestaltet: Es gab ein Ranking im Internet, bei dem sie für Songs für die Tour voten konnten, und die haben wir dann gespielt. Die Crew, also der Licht- und der Ton-Mann, hat sich natürlich darüber gefreut, sich auch technisch darauf einstellen zu können.

Wenn nötig, übernehmt ihr ja sogar den Part der Security – und wollt das auch so. Bei Zwischenfällen im Publikum besteht ihr darauf, dass zuerst euer Zwei-Meter-Hühne Stefan ins Publikum geht und die Sache klärt, bevor die Instanz in schwarzen Bomberjacken eingreift. Ist das schon mal vorgekommen?

Stefan: Oh ja, selten, aber leider ab und zu schon. Auch wenn es wirklich kaum nötig ist, gehe ich aber lieber selbst dazwischen, sage den Leuten, dass das doch Quatsch ist, was sie da machen, wenn sie sich zanken. Dann lächeln alle, trinken Bier und haben wieder einen entspannten Abend. Und das ist allemal besser, als wenn sich dann noch eine weitere Instanz einmischt, die sich sowieso nicht allzu großer Beliebtheit erfreut.

Gunnar, vor rund zwei Jahren warst du in derWDR-Lokalzeit im Fernsehen zu sehen. In dem Beitrag ging es darum, dass eure Hausgemeinschaft eine nachhaltige Heizanlage installiert hat. Ist das dein Beitrag, um gegen den Klimawandel Verantwortung zu übernehmen?

Gunnar: Als das Ding installiert wurde, habe ich noch gar nicht in dem Wohnprojekt gelebt, aber auch wir als Band machen uns schon unsere Gedanken. Unseren Merch beziehen wir zum Beispiel aus fair gehandelten Quellen.

Höre ich da Verantwortungsbewusstsein für kommende Generationen, für eure Kinder heraus? „Eure Zukunft, die gönn ich euch“, heißt es in einem Text von der aktuellen Platte.

Gunnar: Ja, auch wenn der Song eher auf das Finanzwesen und die Bankenkrise zielt. Ich höre überall die Leute jammern: „Finanzkrise, Finanzkrise“, aber gemerkt habe ich selbst so viel nicht davon. Denen, die da aber über Beträge jammern, die so groß sind, dass es sie reell gar nicht gibt, denen gönne ich, dass sie an eben dieser „Armut“ zugrundegehen. Auch wenn sie angeblich versuchen, den Aktienmarkt zu regulieren, indem sie sich darauf geeinigt haben, dass Waren mindestens eine Viertelsekunde gehalten werden müssen, sprengt das absolut den Rahmen meines Verständnisses, wenn letztendlich nur der Bauer in Neuguinea darunter leidet. Dann gönne ich denen das aus ganzem Herzen.

Wo wir beim kommenden Album „Geblitzdingst“ sind: In welcher Situation würdet ihr euch im Moment gerne blitzdingsen?

Gunnar: Nachdem ich die Zeitung gelesen und erfahren habe, was im Moment so abgeht. Dann denke ich mir: Selig sind die geistig Armen, die sich darüber überhaupt keine Gedanken machen. Kann ich nicht auch so ein Gerät haben, damit ich mir über das Tagesgeschehen keinen Kopf machen muss? Das kann aber auch sein, wenn mal wieder das Internet nicht geht, ich da seit drei Stunden rumfummle und mich gerne mal blitzdingsen würde, um die Nerven, die ich am fucking WLAN verloren habe, wieder zu beruhigen, haha!

Würdest du dich auch lieber blitzdingsen, wenn du an den aktuell von Schließung bedrohten M.A.U. Club in Rostock denkst?

Gunnar: Ja, auch wenn das Team gerade wieder ein paar wenige Gelder bewilligt bekommen hat. Schlimm ist, dass es in den Städten immer wieder Menschen gibt, die denken, Kultur müsse sich finanziell tragen, während sie sich selbst nur noch in prunkvollen Musical- und Varieté-Sälen zu horrenden Eintrittspreisen herumtreiben. Im M.A.U. hingegen finden soziale Projekte statt, man kann zum Beispiel seine Ausbildung und Praktika dort machen. Um das alles bei adäquaten Preisen zu stemmen, müssten dort mehr Konzerte stattfinden, als Rostock Konzertbesucher hat.

Stefan: Hinzu kommt, dass der Laden in einem Sahnestückchen von Stadtviertel, nämlich direkt an der Waterkant liegt und so mancher darauf schielt, dort einen Yachtclub oder ähnlichen Yuppie-Laden hinzusetzen.

Gunnar: Auch wenn das nächste Jahr gesichert ist, wollen wir den Club auch weiterhin mit diversen Aktionen unterstützen. Denn da kannst du dir sicher sein: In ein bis zwei Jahren stehen wir wieder vor demselben Problem.

Ihr fühlt euch, obwohl ihr nur noch teilweise in Rostock lebt, aber noch immer als Rostocker, spielt Oden an die Stadt wie „Hoch in’n Norden“ – up Platt.

Gunnar: Ich wohne in Münster, mag sowohl die Stadt als auch den SC Preußen Münster. Stefan und Dietmar wohnen im Umland, aber mein Bruder Krel und unser Elternhaus sind noch immer in Rostock, da sind wir verwurzelt.

2001 habt ihr im Ox-Interview gesagt, dass ihr „Mainzer Straße“ nicht mehr spielt, weil der Song keine Relevanz mehr hat. Der Text bezieht sich auf die Räumung der Mainzer Straße in Berlin-Friedrichshain bei einer Straßenschlacht um 13 besetzte Häuser im November 1990. Es gilt als einer der massivsten Polizeieinsätze Berlins in der Nachkriegszeit und führte zur Auflösung der rot-grünen Koalition seitens der Alternativen Liste und zum Rücktritt von drei ihrer Senatorinnen. Neuerdings hört man ihn bei Konzerten aber wieder.

Gunnar: Irgendwann legt man Titel auch einfach mal beiseite. Gerade wenn wir in Berlin spielen, fordern die Leute den Song oft aber noch ein. Auch wenn viele leider gar nicht mehr wissen, was da 1990 überhaupt los war. Heute spielen wir ihn eher als Relikt aus einer anderen Zeit, die man aber auch nicht vergessen darf. Das ist wie bei SLIME oder TON STEINE SCHERBEN, deren Titel ja auch nicht unbedingt mehr aktuell sind. Die ganze Hausbesetzergeschichte ist in Deutschland bis auf wenige Ausnahmen ja leider ziemlich durch.


Ein Song auf „Geblitzdingst“ nennt sich „Noch einmal“. Was wollt ihr noch einmal erleben?

Gunnar: Wir haben ja alle Kinder. Und wenn du mit deinem achtjährigen Bengel „Men in Black“ siehst, du die Szenen aber alle schon kennst, merkst du, dass es schön wäre, selbst noch einmal mit dieser Begeisterung neu an den Film heranzugehen. Oder meine erste AC/DC-Platte noch einmal zum ersten Mal hören, „Pulp Fiction“ noch einmal zu sehen, ohne zu wissen, was an welcher Stelle passiert.

Ein Versprechen für ein erstes Mal steht noch aus: DRITTE WAHL unplugged.

Gunnar: Ja, davor haben wir uns aber bisher immer erfolgreich gedrückt. Aktuell wieder mit der neuen Platte. Wir haben es auch schon ein, zwei Mal ausprobiert, aber es ist ja super anstrengend, plötzlich sauber spielen zu müssen! Das Projekt schwirrt noch in unseren Köpfen und wer Unplugged-Sachen überhaupt nicht mag, kann auch durchaus ein ängstliches Gefühl bekommen. Aber weil es sich auch lohnen soll und dafür öfter stattfinden müsste, will es gut geplant sein. Wahrscheinlich scheitert es aber daran, dass uns kein Burgtheater reinlässt. Bock haben wir aber echt drauf.

Kramt ihr das KOLLEKTIV HEIN BUTT, unter dessen Namen ihr eine EP über Hansa Rostock eingespielt habt, auch noch mal aus der Truhe?

Gunnar: Nee. Das Maximale wäre eine Aktion für Hansa Rostock. Aber Imre ist ja erst mal mit seinen Vorbereitungen fürs nächste Force Attack eingebunden, da will ich ihn nicht stören.

Dietmar, du verlässt die Band – was wird aus dir? Du wurdest am Keyboard ersetzt?

Dietmar: Ich bin jetzt 66 Jahre alt und will noch immer neue Sachen ausprobieren. Natürlich bleibe ich den „Wahlen“ aber noch erhalten, musikalisch werde ich mich nach fünf schönen Jahren aber wieder ans Theater zurückziehen.

Gunnar: Er wurde ja nicht ersetzt, sondern hat um seine Freistellung gebeten. Als wir aber letztens mit Dietmar und Holger, seinem Nachfolger, der ab und an auch die zweite Gitarre spielt, geprobt haben, mussten wir feststellen, dass das viel zu gut klappt und klingt. Wir überlegen, ob wir die Kündigung wirklich annehmen, haha!

Und wer ist Holger?

Stefan: Holger ist ein Kumpel von uns aus Münster. Holger spielt quasi jedes Instrument, zuletzt die Gitarre bei THE ROSETTES und demnächst die Orgel und zweite Gitarre bei uns.

Ihr geht also im Guten auseinander?

Gunnar: Wir gehen ja nicht mal auseinander! Dietmar bleibt uns als Freund des Hauses und immer noch Aushilfsmusiker erhalten. Schließlich sind wir froh, in den 26 Jahren Bandgeschichte nur zwei Mitgliederwechsel durchlebt zu haben, beide am Bass, und das war 1991 der Ausstieg Holms und dann, als Bassist Buschn gestorben ist. Wir haben schon großes Glück, dass wir eine so harmonische Truppe sind – auf Tour hängt man viel aufeinander rum, was ja schon eine extreme Situation ist. Mit Dietmar hatten wir eine gute Zeit, jetzt bricht eben eine neue an.

Dietmars Keyboard hat eure Musik stark geprägt ...

Dietmar: ... von einer ausschließlichen Gitarrenband zu Folk- und Pop-Rythmen und von zwei Liedern mit Keyboard auf „Gib Acht!“ zu einem festen Bestandteil bei Live-Auftritten.

... sogar zu Gesangseffekten auf der neuen Platte.

Gunnar: Ja, wir waren ja in den Principal-Studios, in denen unter anderem auch DIE TOTEN HOSEN, DONOTS und KREATOR aufgenommen haben. Dort haben wir nach Uwe von DAILY TERROR zum ersten Mal mit einem richtigen Produzenten gearbeitet. Vorher war es so, dass wir selbst alles vorbereitet und eingespielt haben. Jetzt hat der Produzent Joerg Umbreit uns sogar mit einem Text wieder nach Hause geschickt und uns empfohlen, da noch mal drüber zu schauen. Das war ungewohnt, basierend auf der Erfahrung und dem Blick von außen, die die Leute haben, aber mal nicht unangebracht.

Was ihr aber immer beibehalten habt, ist auf jedem Album mindestens ein Song, der sich mit dem Thema Tod und Vergänglichkeit auseinandersetzt.

Gunnar: Das ist auf „Geblitzdingst“ mit „Stillstehn“ auch wieder der Fall. Auch wenn der Tod unseres Vaters der Anlass für das Lied war, passt es ja letzten Endes auf jeden. Natürlich auch auf Buschn, dessen Todestag sich gerade zum zehnten Mal jährt. Für ihn war der Titel „Auf der Flucht“ vom Album „Fortschritt“, an dem er selbst noch mitgearbeitet hat. Den spielen wir aber kaum noch, weil wir nicht ständig dieses Klagelied anstimmen wollen. Noch weniger wollen wir in irgendwelche Kitsch-Ecken abdriften oder uns gar nachsagen lassen, dass wir den Anlass nehmen, um das Album damit zu promoten. Es ist nun mal so, dass wir hier sind und Buschn woanders ist, daran kann man nichts ändern. Tröstend tut es gut, Stefan als großartigen Nachfolger – und ich spreche bewusst nicht von Ersatz – zu haben. Wir haben es schon im Hinterkopf, Buschn gegenüber eine Verantwortung zu tragen. Er soll dann, wenn wir uns mal wiedersehen, sagen: „Jungs, das war cool, wie ihr da weitergemacht habt.“