WIRE

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Wir sind keine Punkband

„WIRE ist eine Band, die 1977 gegründet wurde. Sie wird manchmal als Art-Punkband beschrieben. Die Wurzeln liegen im Punkrock, aber wir haben uns sehr schnell von diesem Konzept entfernt. Es ist eine konzeptionell orientierte Gruppe, bei der eines wichtig ist: Einfachheit bei der Herangehensweise und Einfachheit in den Resultaten. In der Vergangenheit wurden wir als verlogene Minimalisten bezeichnet. Aber wir sind verrückte Typen, bei denen sich das Endergebnis unserer Arbeit ständig verändert. Und wir sind eine Band, die viele Generationen von Musikern beeinflusst hat.“ So weit Colin Newman (Gesang und Gitarre) zur Geschichte und Bedeutung von WIRE im Kurzdurchlauf. Vor ihrem fantastischen Auftritt in Hamburg hatte ich Gelegenheit, mit Colin und Graham Lewis (Bass und Gesang) über die alten und neuen WIRE zu sprechen.

Wieso benennt ihr 1977 als Gründungsdatum, ihr kamt doch bereits 1976 zusammen?

Graham:
Die Band kam im Oktober 1976 zusammen, aber die wahren WIRE erblickten am 1. April 1977 das Licht der Welt.

Wurden an diesem Tag nicht „Lowdown“ und „12XU“ für die Compilation „Live At The Roxy“ aufgenommen?

Colin:
Genau, und es war unser erster Auftritt als vierköpfige Band. Ursprünglich waren wir fünf. Im Februar haben wir dann den Bandgründer George Gill rausgeschmissen. Im Grunde begannen Graham und ich an diesem Zeitpunkt, Stücke zu schreiben. Es standen einige Konzerte an und dafür brauchten wir halt Material.

Es gab zwei WIRE-Konzerte im Roxy, am 1. und 2. April. Beide Konzerte wurden von Pinkflag im letzten Jahr erstmals komplett veröffentlicht.

Colin:
Hier stehen WIRE an der Schwelle zur Entstehung einer Band. Denn die Leute denken, dass wir mit „Pink Flag“ entstanden sind. Tatsächlich war „Pink Flag“ eine Weiterentwicklung von „Live At The Roxy“. Das Live-Album ist roher und härter als „Pink Flag“, es ist so, wie wir eigentlich klingen. Neben den Songs von „Pink Flag“ sind auch einige Überbleibsel aus den Anfangstagen dabei, „Mary is a dyke“ stammt zum Beispiel aus der Zeit mit George, „Too true“ ist ein ganz früher Song von mir.

Für Punk-Verhältnisse wart ihr damals ja schon recht alt.

Graham:
Darum haben wir auch keinen Punk gemacht, haha.

Colin: Es gab schon Auseinandersetzungen in der Band, immerhin war Bruce damals bereits dreißig. Wir haben zwar 1976 die SEX PISTOLS gesehen, haben aber gemerkt, dass wir die nicht kopieren wollen. Ich denke, das war so eine zwei Jahre andauernde Periode, in der viele Bands überall in der Welt versuchten, die Pistols zu kopieren. Wir hatten da eine andere Position, für uns war es spannender, unser eigenes Ding zu machen.

Graham: Da war uns jedenfalls klar, dass es nicht das ist, was uns interessiert. Da hat uns eher die Musik interessiert, die aus New York kam. Das war im Gegensatz dazu Kunst. Die Musik kam aus einer Kunsttradition, wenn du VELVET UNDERGROUND, TELEVISION, Patti Smith, Jonathan Richman oder PERE UBU hörst, das ist etwas Ernsthaftes.

Colin: Und du darfst die RAMONES nicht vergessen, das war ein hoch entwickeltes Konzept. Wenn du das erste RAMONES-Album für sich alleine betrachtest, dann hätten sie danach keine weitere Platte mehr machen brauchen. Sie hatten das ganze Paket: Sie haben Surfmusik reduziert, sie ließen es mit Bubblegum kollidieren und haben darüber verzerrte Gitarren gelegt. Es war absolut scharf, es war stumpf, es war komisch und intelligent, unwahrscheinlich intelligent.

Graham: Ich erinnere mich daran, wie es war, als wir die RAMONES sahen, und dachten: Gut, warum bedienen wir uns nicht hier, wir spielen nur etwas schneller.

Colin: Die Reduktion ist die Kunst. Wir sind sehr glücklich, dass uns bei der Idee der Reduktion die RAMONES inspiriert haben. Allerdings hatten sie für meinen Geschmack noch zu viele Akkorde. Wir wollten weniger Akkorde.

Ich finde es sehr interessant, wie schnell ihr nach dem ersten Album „Pink Flag“ eueren Stil geändert habt.

Colin:
Wir wollten keine Punkband sein und es gab für uns auch keinen Grund, am Punk-Klischee kleben zu bleiben.

Graham: Wir haben keine Beziehung zu irgendeiner Bewegung oder einem Genre. Alles, was wir gemacht haben, war, das zu machen, was wir machen wollten. Das ist unsere Vorstellung von Anarchie. Die Idee, das zu tun, was du willst, und dafür auch die Verantwortung zu übernehmen, und genau das haben wir weiter gemacht.

Colin, in einem Interview hast du mal gesagt, „154“ sei ein schwieriges Album gewesen, einiges daran großartig, anderes schrecklich. Siehst du das immer noch so?

Colin:
Ja, „154“ war das zweitschwierigste WIRE-Album, das wir gemacht haben. Nur „Ideal Copy“ hat alles übertroffen. „154“ war in der Produktion wirklich eine ganz schwierige Platte. Es gab viele Kämpfe, weil wir alle dicht beieinander waren, aber dennoch enthält dieses Album großartige Musik.

Folgte daraus die erste von zwei Unterbrechungen in der Bandgeschichte?

Colin:
Das war nicht beabsichtigt. Es gab sogar drei. Zwischen 2004 und 2006 gab es auch eine Unterbrechung, nur sie wurde noch nicht als solche erkannt. Wenn man es genau betrachtet, weiß niemand genau, warum wir 1980 aufgehört haben. Warum wir dann Mitte der Achtziger Jahre wieder angefangen haben, können wir hingegen nachvollziehen. Anfang der Neunziger haben wir irgendwie den Boden verloren, da war es schon etwas seltsamer. Ich denke, damals haben wir uns verrannt. Wir haben uns in Situationen begeben, in denen wir nicht mehr weiterkamen. Wir konnten uns nicht weiterbewegen und brauchten eine Denkpause. Dafür brauchten wir dann die Neunziger.

Es hat mich sehr beeindruckt, dass ihr dann wieder Platten gemacht habt und auf Tournee gegangen seid, ohne die alten Songs zu spielen. Beim letzten Konzert 2002 in Hamburg gab es nur die Songs von dem Album „Send“.

Colin:
Haha, wir sind nun mal keine Nostalgiker.

Graham: „Send“ war ein Album, das wir gemacht haben, nachdem wir lange Zeit nicht zusammengearbeitet haben. Wir haben es seinerzeit in einer Form präsentiert, bei der niemand sagen sollte, wir seien alte Männer mit fehlender Energie. Das Tempo war sehr hoch, es war alles sehr lautstärkebezogen und nicht melodisch. Eigentlich gab es kaum richtige Songs, auch wenn die Leute die Illusion hatten, es gebe welche. Aber jetzt machen wir etwas anderes. Als wir das Set für diese Tour zusammenstellten, haben wir mit dem neuen Material begonnen und sind dabei auf Analogien zu den alten Aufnahmen gestoßen. Als sich das gefestigt hatte, haben wir begonnen, darüber nachzudenken, welches Material aus der Vergangenheit das neue ergänzen könnte. Es geht aber nicht darum, die Stücke in ihrer alten Art und Weise zu spielen, um den alten Platten nachzueifern, sondern darum, den Kern der Stücke zu erhalten.

Ihr hättet aber zum Beispiel doch auch das „Pink Flag“-Album spielen können und alle wären zufrieden gewesen ...

Colin & Graham:
Haha, genau das haben wir gemacht!

Graham: Allerdings haben wir es auf eine andere Art gemacht. Es gab 2003 ein großes Konzert im Barbican Center in London. Da passen etwa dreitausend Leute rein. Da sind wir aufgetreten und im ersten Teil der Show haben wir mit den Künstlern Jake und Dinos Chapman gearbeitet, die haben das Set gestaltet und wir haben „Pink Flag“ gespielt, genau in der Reihenfolge wie auf der Platte. Im Anschluss daran haben wir „Pink Flag“ in einer zeitgenössischen Version gespielt, so wie wir aktuell spielen. Das war der erste Teil. Im zweiten Teil des Konzertes gab es ein speziell von Es Devlin kreiertes Set namens „Flags:Burning“. Er ist ein ganz besonderer Designer und wir haben dazu „Send“-Songs gespielt. So ließ es sich machen, aber nicht als ein unsinniges Nostalgie-Ding, so etwas ist nicht unsere Sache.

Also liefern WIRE keine Shows wie U.K. SUBS ab, die seit über zwanzig Jahren mit nahezu der gleichen Setlist auf Tour gehen.

Graham:
Ich werde niemanden vorschreiben, was er tun soll, aber damit würden wir uns nicht auf eine Bühne stellen.

Colin: Wir sind zwar im selben Business tätig, aber so etwas müssen wir nicht machen. WIRE ist in der Frage, wie wir ein Konzert gestalten, selbstorganisiert und selbstbestimmt. Niemand steckt Geld in unsere Tourneen. Wir sind es, die es ermöglichen, und wir machen damit Geld. Wir bestimmen die Richtung, den Rhythmus und woran wir uns wieweit beteiligen. Wir treffen unsere Entscheidungen aus einer künstlerischen Sichtweise und manchmal auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten.

Was ist eigentlich mit Bruce Gilbert? Er ist auf dem neuen Album „Object 47“ nicht mehr dabei.

Colin:
Er hat sich 2004 zurückgezogen. Bruce hatte persönliche Gründe, die wir gar nicht so genau kennen. Er ist ja um einiges älter und sehr um seine Bequemlichkeit bedacht, also nicht unbedingt das, was du mit einer Rockband unter einen Hut bringen könntest. Es war eine sehr schwierige Phase und es kamen da viele Sachen zusammen, etwa Probleme mit dem Ex-Manager, und auch wir waren in keiner guten Verfassung. Es war kein richtiges Ende, aber man wurde mit dem Gefühl einer grässlichen und tiefen Enttäuschung konfrontiert. Wir fielen regelrecht auseinander. Wir brauchten zwei Jahre, dann haben wir damit begonnen, wieder miteinander zu reden. Und als Graham und ich uns 2006 wieder trafen, kamen wir zu dem Schluss, wenn wir es machen, dann aus vollem Herzen. Wenn du nicht hundertprozentig dabei bist und es nicht genießt, warum sollst du dich damit belasten? Natürlich gibt es auch eine geschäftliche Seite, aber das ist nicht der Kern der Sache. Es geht darum, etwas Interessantes zu machen.

Wer übernimmt jetzt den Part von Bruce?

Colin:
Wir arbeiten als Trio weiter. Live brauchen wir aber natürlich eine zweite Gitarre und die übernimmt zur Zeit Margaret Fiedler McGinnis, bekannt durch Bands wie LAIKA und MOONSHAKE.

Meine letzte Frage bezieht sich auf den Albumtitel „Object 47“ wirklich auf die Anzahl eurer bisherigen Veröffentlichungen?

Colin:
Wir haben nach einem Titel gesucht und fanden „Object“ als Wort passend. Ich habe dann auf unserer Website die bisherigen Veröffentlichungen durchgezählt, damals waren es 46, und meinte, warum nennen wir es nicht „Object 47“? Aber wenn du dir eine andere Diskografie anschaust, wirst du vielleicht auf eine andere Zahl kommen.