MELVINS

Foto© by Chris Casella

Traditionalisten

Die MELVINS sind Traditionalisten insoweit, als sie sich auch im vierzigsten Jahr des Bestehens immer noch jeglicher Kategorisierung entziehen und genau das tun, was ihnen gerade in den Kram passt. 52 Alben und 115 Singles hat die Symbiose aus Roger „Buzz“ Osbornes markantem Drop-D-Tuning und Dale Crovers Powerhouse-Drumming mittlerweile hervorgebracht, unter Beteiligung nahezu sämtlicher Bassisten der westlichen Hemisphäre diesseits von Bootsy Collins. So wird man nun Gegenstand einer Diplomarbeit, deren treffender Titel lautet: „The Melvins. Geschichte, Analyse und Neubewertung eines (außer-) musikalischen Phänomens.“ (Clemens Marschall, 2009). Forschungsobjekt Buzz Osborne stellte sich meinen Fragen.

Eure Europatour steht unmittelbar bevor. MELVINS sind immer für eine Überraschung gut. Laut Dale darf man diesmal ungeahnte Dinge erwarten.

Warten wir es mal ab. Am Ende der Tour werden wir uns Dynamit um den Kopf wickeln und in die Luft sprengen, haha.

Zur Feier des vierzigjährigen kreativen Schaffens von Dale und dir will Steven auf der Tour einen rubinroten Bass spielen.
Das ist wirklich nett von ihm. Für mich ist Steven McDonald der gegenwärtig unterbewertetste Bassist weltweit. Er ist unglaublich talentiert. Die Tatsache, dass Steven und Dale noch nicht in einer dieser gigantisch großen Bands spielen, beweist, wie dumm die Menschen sind. Steven McDonald kann alles spielen, was du von ihm verlangst, und wird es auf seine Art und Weise verbessern. Ich bin immer schon ein großer REDD KROSS-Fan gewesen, und wenn du mir 1982 gesagt hättest, dass ich irgendwann einmal mit ihm zusammen in einer Band spielen würde, wäre das für mich unvorstellbar gewesen. Aber auf einer vierzigjährigen Reise passieren manchmal seltsame Dinge. Unsere ursprünglichen Erwartungen an die Band waren äußerst gering. Wir wollten erst einmal eine Auftrittsmöglichkeit bekommen. Schon die Idee, eine Platte aufzunehmen, war absurd.

Es ist faszinierend, wenn man sich die Bilder von ihm, Ron Reyes und Greg Hetson auf dem Cover der „Red Cross“-EP anschaut. Steven war damals noch in der Junior High School.
Ich glaube, das erste RED CROSS-Konzert war 1979 mit BLACK FLAG. Seine musikalische Laufbahn ist unglaublich. Ich sehe die Werte, ich sehe die Weisheit und all die musikalischen Fähigkeiten als deren Resultat. Ich kann die Leute nicht verstehen, die das nicht erkennen. Ich bin glücklich, dass er bei uns spielt, aber ich kann nicht nachvollziehen, warum er nicht schon längst von einer sehr viel größeren Band abgeworben wurde. Wenn ich an deren Stelle wäre, hätte ich längst zugeschlagen. Dasselbe gilt für Dale. Es ergibt keinen Sinn. Die Welt ist ungerecht. Ich jedenfalls fühle mich gesegnet und privilegiert, dass ich mit den beiden in einer Band sein darf. Wenn du mit Musikern zusammenarbeitest, solltest du idealerweise Vertrauen in ihre Fähigkeiten haben. Eine meiner Lieblingsband sind THE WHO, und Pete Townshend hat ihren Erfolg genau damit begründet. Er hatte die Songs im Kopf, dann hat er Bass- und Drum-Parts für John Entwistle und Keith Moon geschrieben, die diese dann maßgeblich verbessert haben. Er hat ihnen nicht vorgeschrieben, was zu tun war, sie wussten das selber ganz genau. Und genauso ist es bei uns. Ich mache Dale und Steven keine Vorschriften. Ich mag ein paar Anregungen geben, aber dann sollen sie damit anfangen, was sie wollen. Als Songschreiber bin ich überzeugt, dass du bessere Ergebnisse erzielen wirst, wenn du deinen Bandmitgliedern vertraust und sie selber ihre Aufgaben erledigen lässt.

Beim Blick auf das Cover der King Buzzo-EP „Six Pack“ habe ich festgestellt, dass du an deinem Deutsch gearbeitet hast.
Wegen „Scheisse Bräu“? Ja, das war meine Idee. Wieso hat das bisher noch keiner gemacht? Oder „Shit Beer“? Für mich ist das alles Shit Beer. Ich habe zum letzten Mal in den Achtzigern Alkohol getrunken. Es ist wichtig, Sinn für Humor zu haben. Deshalb liebe ich THE FUGS, Frank Zappa und CAPTAIN BEEFHEART. Absurdität, Dadaismus, all das kannst du bei ihnen finden. Besonders unterhaltsam finde ich Heavy-Metal-Bands, die auf ernsthaft machen. Die Schwerter, die Outfits, komm schon! Alberner geht es doch kaum. Ich spiele Speed Metal oder Death Metal, also muss ich auch so aussehen. Warum? Hast du keine eigene Meinung? Willst du Dinge kopieren, die jemand vor dir bereits gemacht hat? Das hat mich nie interessiert. Ich würde mir das nicht anheften wollen. Viel interessanter fände ich eine Speed-Metal-Band, die aussieht wie THE SEEDS. Ich habe mit vielen sehr talentierten Musikern zusammengearbeitet, die jede Art von Musik spielen konnten. Zusammen haben wir mehr als 500 Songs aufgenommen und ich verstehe nicht, wenn Leute von einem typischen MELVINS-Song sprechen. Ich möchte, dass meine Bandmitglieder sie selbst sind und sich nicht anpassen. Deswegen habe ich auch nie verstanden, weshalb man uns mit der Grunge-Bewegung in Verbindung gebracht hat. Wir klingen wie keine dieser Bands. Von einer Band wie ALICE IN CHAINS kenne ich zum Beispiel so gut wie nichts. Eine Ausnahme waren vielleicht SOUNDGARDEN. Sie haben ziemlich komplexe Songs in ungewöhnlichen Taktarten geschrieben. Sie waren interessant, weil sie ungewöhnliche Dinge ausprobiert und dadurch mehr riskiert haben. Dennoch haben sie Millionen von Platten verkauft, was ungewöhnlich ist. Die anderen Bands haben alle dieselbe geradlinige Chuck Berry-Songformel verwendet: Verse, Chorus, Verse, Chorus, Bridge, Verse, Chorus, Chorus, End. Bei SOUNDGARDEN war das überwiegend anders. Bei einem Song wie „4th of July“ wird man beim Label nicht gesagt haben: „Gute Arbeit, Jungs! Das klingt nach einem Hit!“ Trotzdem hat er sich millionenfach verkauft. Deswegen habe ich sie immer sehr geschätzt. Leider haben die schrecklichen Tragödien wie der Tod von Chris Cornell und Kurt Cobain die positiven Erinnerungen an diese Zeit nahezu vollständig ausgelöscht. Den Sänger von ALICE IN CHAINS kannte ich hingegen überhaupt nicht. Erst mit dem neuen Sänger William DuVall habe ich einen Bezug zu dieser Band bekommen, weil ich ihn bereits seit den Achtzigern kenne, als er Mitglied bei NEON CHRIST aus Atlanta und anschließend bei BL’AST war. Er ist ein wirklich netter Typ und hat uns sehr unterstützt, als wir Mitte der Achtziger Jahre in die Bay Area umgezogen sind. Als Grunge explodierte, waren wir auch schon einige Jahre dabei. Das mag einen gewissen Effekt gehabt haben, aber nicht in der Form, dass sich auf einmal jede Menge NIRVANA-Fans für unsere Musik interessiert hätten. Wir machten Platten, die NIRVANA-Fans nicht mochten. Nicht weil das unsere Absicht gewesen wäre, es war ganz einfach so. Es hat mich aber auch nicht beschäftigt, weil ich diese Art von kommerziellem Erfolg nie erwartet habe. Ich habe das Glück, meinen Lebensunterhalt mit der Musik bestreiten zu können und das hat damit zu tun, dass ich immer dafür gearbeitet und es nicht als selbstverständlich angesehen habe. Je härter ich arbeite, desto glücklicher bin ich.

Nicht nur aus geografischen Gründen sehe ich bei euch Gemeinsamkeiten mit einer Band wie MUDHONEY in puncto Langlebigkeit und Eigenständigkeit.
Dem würde ich zustimmen. Ich mag Mark Arm sehr. Ich kenne ihn seit Anfang der Achtziger Jahre. Ich habe ihn getroffen, als ich meine ersten Punkrock-Konzerte in Seattle besucht habe. Mark ist schon ewig dabei, er versteht sehr viel von Musik und er ist stets nett zu mir gewesen. Ich bin gerne mit ihm zusammen und durch ihn habe ich sehr viel interessante Musik kennen gelernt. Ich bewundere seine Einstellung und seine Ansichten und versuche ihm darin nachzueifern. Mark ist ein guter Kerl, ich kann kein schlechtes Wort verlieren über ihn oder irgendein Mitglied von MUDHONEY. Vor der Pandemie haben wir mit ihnen eine Single aufgenommen, auf der wir „My war“ von BLACK FLAG gecovert haben. Mark und ich haben BLACK FLAG damals oft gemeinsam live erlebt und sie waren fast immer gut. „My war“ zu covern, war Steve Turners Idee, Mark hat gesungen und das hervorragend hingekriegt, so wie ich es nicht geschafft hätte. Es hat wirklich Spaß gemacht und ich würde das gerne ausweiten zu einem kompletten Album. Am besten als gigantische MUDMELVINS-Band mit drei Gitarristen, zwei Schlagzeugern und zwei Bassisten. Dann hätten wir auch eine Entschuldigung, um gemeinsam auf Tour gehen zu können. Das müssen wir unbedingt hinkriegen!

Das wäre eine schöne Ergänzung zu eurer damaligen Zusammenarbeit mit Jared Warren und Coady Willis von BIG BUSINESS ...
Mit ihnen hatten wir einen wirklich guten Lauf. Drei Studioalben, ein Live-Album und mehr als tausend Konzerte. Mal schauen, was die Zukunft noch bringt.

Euer letztes Album „Bad Mood Rising“ ist vor zehn Monaten erschienen. Habt ihr zwischenzeitlich an neuem Material gearbeitet?
Das neue Album ist so gut wie fertig. Daneben ist eine Vielzahl weiterer Projekte für 2023 geplant, unter anderem einige Wiederveröffentlichungen auf Ipecac Recordings und limitierte Editionen auf Amphetamine Reptile.

Du hast wiederholt deine Bewunderung für den amerikanischen Ökonomen Thomas Sowell, einen Schüler von Milton Friedman, und sein Buch „Economic Facts and Fallacies“ geäußert ...
Ich bewundere alle seine Werke. Thomas Sowell ist für mich der größte Philosoph der Gegenwart, auch wenn er mittlerweile über neunzig Jahre alt ist. Leider wurde er oftmals missverstanden von Leuten, die sich nicht eingehend mit ihm beschäftigt haben. Ich lese seine Bücher seit mehr als dreißig Jahren. Du wirst kaum einen intelligenteren Menschen als ihn finden. Mir fehlt die Zeit, um angemessen beschreiben zu können, was er mir bedeutet. Er hat sich mit einer Vielzahl historischer Themen befasst, aber die Grundphilosophie, die er in meinen Augen vertritt, lautet: Werde erwachsen und übernimm Verantwortung für dein eigenes Handeln! Erwarte nicht, dass jemand anders es für dich tut. Damit wirst du erheblich besser fahren. Wenn du Hilfe von Autoritätspersonen erwartest, wirst du zwangsläufig enttäuscht werden. Deshalb musst du für dich selber herausfinden, wie du am besten durchs Leben kommst. Ich versuche, mir selber treu zu bleiben, indem ich bei all meiner Exzentrik in der Überzeugung handele, dass ein Produkt, das mir gefällt, anderen auch gefallen wird. Würde ich Musik in der Absicht machen, anderen damit zu gefallen, würde das nicht funktionieren. Bands, die so denken, sind anfällig für Enttäuschungen und werden sich dann womöglich auflösen. Mein Ansatz ist ein anderer. Liberalismus stand ursprünglich für die Entfaltungsmöglichkeit des Menschen frei von staatlichen Eingriffen. Das entspricht meiner Überzeugung. Ich werde ein guter Mensch sein und wenn du mich in Ruhe lässt, werde ich sehr wenig Hilfe benötigen. Die Individualität jener Personen, mit denen ich mich umgebe, ist dabei von großer Bedeutung. Als Resultat unserer individuellen Freiheiten und Stärken werden wir auch als Gruppe stärker sein. Mein Steuerberater riet mir: Kümmere dich nicht um Dinge, die du nicht kontrollieren kannst! Kümmere dich stattdessen um Dinge, die du selber beeinflussen kannst! Deshalb stelle ich mir immer die Frage: Was fehlt mir persönlich in der Musik? Und das versuche ich dann beizusteuern. Das habe ich immer getan. Und als Resultat habe ich einige Menschen inspiriert, die diesen Gedanken aufgenommen und die Musik auf einer globalen Ebene verändert haben. Ich lag also nicht falsch. Ich hatte recht. Deswegen mache ich mir wenig Sorgen. Ich habe Vertrauen in meine Fähigkeiten und meinen Geschmack, der Rest wird schon funktionieren. Und jemand wie Thomas Sowell unterstreicht das nur. Glaub nicht jeden Mist, kremple die Ärmel hoch und mach dich an die Arbeit!

In Zeiten von Social Media geht es oftmals darum, wer am lautesten schreit, weshalb Fakten und Evidenz umso wichtiger sind. Zwei seiner Zitate finde ich da erwähnenswert: „Rhetorik ist kein Ersatz für Realität“ und „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, die ganze Wahrheit zu sagen – anonym und posthum“.
Das beweist, dass er einer der größten Denker in der Geschichte der USA ist. Und er hat es aus eigenem Ansporn und trotz erheblicher Widerstände geschafft. Leider liest kaum noch jemand Bücher. Deswegen empfehle ich sie auch nicht mehr. Und die Bücher, die mir von anderen empfohlen werden, kenne ich zumeist schon. Meistens läuft es hinaus auf „A People’s History of the United States“ von Howard Zinn. Das ist in Ordnung, aber vielleicht findest du noch etwas anderes, wenn du nicht nur auf Google News suchst.

Du bist Filmliebhaber und hast den Einfluss von Werken wie Stanley Kubricks „The Shining“ und Bob Fosses „All That Jazz“ auf Alben wie „Nude With Boots“ und „The Bride Screamed Murder“ erwähnt. Gibt es ein starkes visuelles Element in deiner Arbeit?
Wenn ich Songs schreibe, läuft dabei meistens ein Film im Fernsehen ohne Ton. Seit meiner Kindheit spielt das Kino eine große Rolle. Es hat mich bei meiner Musik maßgeblich inspiriert. Ein guter Film ist wie ein Gemälde, das sich bewegt. Film ist für mich beinahe die perfekte Kunstform: Optik, Akustik, Handlung, es ist alles vorhanden. Irgendwann ist mir aufgefallen, dass die besten Regisseure eine Vorliebe für Fotografie haben. Kubrick war ein unglaublicher Fotograf. Solche Leute haben eine bessere Sicht auf die Dinge. Ich liebe Fotografie und habe im letzten Jahr einen Bildband mit dem Titel „Rats“ veröffentlicht. Vor Instagram hatte ich ausschließlich für mich selber fotografiert, bis mir dann jemand geraten hat, die Aufnahmen zu veröffentlichen. Es ist der einzige Social-Media-Kanal, den ich benutze.

Es gibt das Gerücht, du seiest die Person im Hintergrund auf dem Cover von „Rock N Roll Nightmare“ von RKL?
Nein, das stimmt nicht. Wir waren lediglich im Sommer 1986 mit RKL auf Tour, bevor sie das Album aufgenommen haben. Das Foto wurde meines Wissens in Santa Barbara geschossen. Eine sehr talentierte Band, leider sind einige von ihnen mittlerweile verstorben. Drogen ruinieren alles.

Kannst du mir deine Begeisterung für Baseball erklären?
Seitdem die National League einen sogenannten „designated hitter“ eingeführt hat, hat meine Begeisterung deutlich abgenommen. Abgesehen davon ist Baseball ein äußerst komplexer Sport. Es ist leichter, Schach zu lernen, als die Baseball-Regeln zu erklären. Deshalb halten viele Leute diesen Sport für langweilig. Was mir an ihm gefällt: Anders als im Basketball oder Football gibt es keine vorgegebene Spielzeit. Du musst gewinnen und kannst die Spielzeit nicht als Teil deiner Strategie verwenden, indem du sie einfach auslaufen lässt. Die Uhr wird dir nicht helfen, ähnlich wie beim Tennis oder Golf. Ginge es nicht um Strategie und Spieltaktik, würde mich Baseball nicht interessieren.