Wie man es auch immer dreht und wendet, die Szene steht konstant und immer wieder vor einem kleinen Dilemma. Es besteht darin, dass man die Weiterentwicklung einer Band auf der einen Seite nicht behindern will, ja, sie auch nicht behindern darf, weil eine Band immer noch sich selbst und nicht irgendwem anders "gehört". Auf der anderen Seite wünscht man sich bei manchen Platten dann doch, dass alles beim Alten geblieben wäre, und die Band nicht irgendwelche Spielereien ausprobiert hätte. Was eine Band also macht, macht sie falsch? Ein Stück weit: ja. Und auch das neue ANTI-FLAG-Album "The Bright Lights Of America" könnte zu einem dieser polarisierenden Werke werden, hat sich die Band mit Toni Visconti (David Bowie, Morrissey) doch nicht nur einen ungewöhnlichen Produzenten fürs Studio ausgesucht, sondern sich mit ihm auch gleich noch nach Herzenslust ausgetobt.
Vielseitige Instrumentierungen, eingesetzte Trompeten und mitunter ruhigere Songs als früher sind das Ergebnis dieses durchaus produktiven Arbeitsprozesses, den die Band mit neuen 14 Songs dokumentiert. Und bevor man jetzt die "Früher war alles besser"-Brille aufsetzt, sei gesagt: Ja, "The Bright Lights Of America" fordert den Hörer ein Stück weit heraus. Aber das Album ist ein echter Grower, dessen Songs einen nach mehrmaligem Hören dank ihrer persönlich-melancholischen Note fesseln und durch die sich - trotz aller Nachdenklichkeit - eine unüberhörbare Hoffnung auf positive Veränderungen zieht. ANTI-FLAG, und das muss man ihnen zu Gute halten, haben sich nicht auf ihr bewährtes Faust-in-die-Luft-Rezept verlassen. Auch wenn es, da kann man sich sicher sein, zwei Jahre nach ihrem Majorlabel-Debüt "For Blood And Empire" immer noch bestens funktioniert hätte. An die Stelle zackiger Drei-Akkord-Kampfhymnen ist eine sehr persönliche Art und Weise getreten, über das eigene Leben zu reflektieren. Auch, weil es in den letzten Jahren zu schrecklichen Ereignissen im engsten Familienkreis von Bassist Chris#2 kam, mit dem ich in Berlin unter anderem über "The Bright Lights Of America" sprach.
Chris, als wir vor zwei Jahren miteinander sprachen, seid ihr, was die Zukunft eures Labels A-F Records anging, alle sehr positiv und euphorisch gewesen. Heute zeichnet sich ein ziemlich ernüchterndes Bild. A-F hat 2006 das deutsche Büro geschlossen, 2007 zwei Veröffentlichungen gemacht und lässt allgemein wenig von sich hören. Was ist passiert?
Das Problem war beziehungsweise ist, wie du es dir vielleicht denken kannst, die Digitalisierung des Musikvertriebs und vor allem: das illegale Downloaden. A-F Records hatte immer sehr viele kleine Bands, deren Existenz bestenfalls ein Null-Null-Geschäft war. Bands wie THE CODE oder THOUGHT RIOT waren nun mal in der Situation, dass sie mit einem auf Tour sind und durch die Verkäufe von CDs und Merchandise Dinge wie das Spritgeld finanzieren müssen. Dazu kommt, dass diese Bands ja nicht in den großen Hallen spielen. Eher waren durchschnittliche Zuschauerzahlen zwischen 50 und 100 Menschen allabendlich bei ihren Shows die Regel. Wenn es nun dazu kommt, dass die Kids zwar zur Show kommen, die Bands sehen, sie mögen und sich dann ihre Alben runterladen, aber nicht kaufen, schmilzt deine Basis, eine solche Tour zu finanzieren. Für uns als Label wiederum bedeutet das Downloaden, dass wir ebenfalls bei der Produktion von Alben draufzahlen. So verloren beide: unsere Bands und wir als Label. Das ist im Wesentlichen der Grund, warum es um A-F etwas stiller wurde.
Tötet die Digitalisierung also die Musik?
Nein, das ist völliger Quatsch. Das wird natürlich gerne und vornehmlich von Majorlabels behauptet. Aber nur, weil sie wichtige Entwicklungen verschlafen haben. Das Kernproblem ist doch nicht die Digitalisierung. Sie ist letztlich eine Entwicklung wie die von der LP zur CD. Meiner Meinung nach liegt das Problem in der Signing-Politik der Majors: Jeden Tag gibt es heute neue Bands, sie laden ihre Songs bei den MySpaces dieser Welt hoch und sobald sie 100.000 Plays bekommen haben, ist das Verkaufsargument genug, dass ein Major sie unter Vertrag nimmt. Das ist doch eine vollkommen verquere Logik! Es kommt nicht mehr auf die Qualität der Band an, nicht mehr darauf, wie viele Shows sie gespielt hat und wie lange sie schon Musik macht. Das ist aber genau der richtige Weg, um eine solide Basis für den Erfolg einer Band zu legen. Ich will damit nicht sagen: "Schaut her, wir, ANTI-FLAG, haben es so gemacht, und es ist der richtige Weg!". Es geht mir nur darum, zu verdeutlichen, dass, wenn eine Band so arbeitet, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, erfolgreich zu sein. Wenn diese Arbeitsethik aber für ein Label irrelevant wird und es nur nach solchen "MySpace-Kriterien" signt, dann hat es zwangsweise Bands, die sich keine solche Fan-Basis aufgebaut haben. Wenig überraschend also, dass sie kaum Erfolg haben. Das sehen Labels aber nicht ein und schieben es dann auf die böse Digitalisierung. Dabei ist die einzig wirklich negative Konsequenz der Digitalisierung, dass Bands diese Arbeitsethik, eben Touren, Touren, Touren, nicht mehr leben.
Euer neues Album "The Bright Lights Of America" vollzieht nicht nur musikalisch, sondern auch textlich eine gewisse Wende. Ihr sprecht auf dem Album aus einer sehr persönlichen Perspektive. Woher kommt das?
Das liegt daran, dass "The Bright Lights Of America" einen gewissermaßen autobiografischen Charakter hat. Wir alle sind nun mal in beschissenen Verhältnissen aufgewachsen und bisher haben wir diese Dinge nicht allzu sehr in unseren Songs verarbeitet. Dennoch war uns immer klar, dass der Tag kommen würde, an dem wir unsere vier persönlichen Lebensperspektiven mit der politischen Thematik von ANTI-FLAG verbinden würden. Um zu zeigen, dass weltpolitische Vorgänge sowohl große politische Entscheidungen als auch unsere Lebenswege bedingen. Ich denke, dass sich unsere Fans bisher vor allem mit der Wut über die politischen Zustände identifiziert haben, die wir auf unseren Alben ausgedrückt haben. Gleichzeitig gab es aber noch wenig Bewusstsein dafür, wie man durch seine individuellen Entscheidungen auf dem basalsten Level die Politik beeinflussen kann. Genau hierfür versuchen wir auf "The Bright Lights Of America" eine Basis zu schaffen. Die Politik ist auf dem Album eingebaut, die Wut ebenso. Dieses Mal aber auch die persönliche Ebene, auf der jeder Einzelne etwas verändern kann.
Vergangenes Jahr wurden deine Schwester und ihr Freund ermordet. Hat dieses schreckliche Ereignis ebenfalls Einfluss auf "The Bright Lights Of America" gehabt?
Ja, das hat das Album auf sehr intensive Weise beeinflusst. Bis heute weiß ich nicht, ob ich jemals die Kraft haben werde, dieses Ereignis zu verarbeiten. Als ich davon erfuhr, waren wir gerade in Kanada mit RISE AGAINST und BILLY TALENT auf Tour, und waren an einem Nachmittag in einem Skate- und Punkrock-Laden in einer Mall, um eine Autogrammstunde zu geben. Da rief mich mein ehemaliger Schwager an, mit dem meine Schwester vorher zusammen gewesen war, und fragte mich, wo ich sei, und erzählte mir, was passiert war. Diesen Moment kann ich nicht beschreiben, meine ganze Welt explodierte. Ich sah mich um, ich war in dieser verdammten Mall, und ich dachte nur noch: "Leute, holt mich hier raus, ich will sofort zu meiner Familie!". Wir brachen die Tour sofort ab und fuhren noch in der Nacht mit dem Tourbus zurück nach Pittsburgh. Von dem Moment an, als wir den Abbruch der Tour online bekanngaben und dazu die Ereignisse schilderten, erhielt ich sehr viele Briefe von Fans. Viele, wirklich sehr, sehr viele Menschen, die auf die eine oder andere Weise Kontakt mit ANTI-FLAG gehabt hatten und zu unseren Shows gekommen waren, schrieben mir, dass sie auch schon Menschen verloren haben, die ihnen sehr nahe standen. Oder, dass sie ganz ähnliche Lebenswege hinter sich haben wie ich und verstehen, in welcher Lage ich bin, und dass sie mir Beileid bekunden. Diese vielen Zuschriften haben in mir eine Tür aufgestoßen. Ich merkte, dass viele unserer Fans sich nicht deswegen mit ANTI-FLAG identifizieren, weil sie unsere Songs lieben, sie sich einen Mohawk schneiden und eine Circle-Pit tanzen können. Nein, sie identifizieren sich mit dieser Band, weil sie sich mit uns als die Menschen identifizieren, die hinter der Band stehen. Das zeigte mir, dass ich die Geschichten vom Aufwachsen und damit meinen ganz persönlichen Hintergrund und diese Geschehnisse auf dem neuen Album schildern kann. Letztlich sind es alles sehr politische Geschichten, in meinen Augen ist die komplette Ghetto-Mentalität in den USA ein sehr politisches Phänomen. In den Medien wird doch nur das Ego und nicht das Gemeinsame betont. Es geht darum, dass du die besten Schuhe haben musst, sonst bist du weniger cool als andere - es geht darum, dass du in diesem Rennen irgendwie bestehst. Und genau das steht hinter dem Mord an meiner Schwester und ihrem Freund. Sie wurden umgebracht, damit jemand ihnen 20 Dollar für Drogen rauben konnte. Jemand, der in die Zwänge der Umstände geraten war, die die politischen Entscheidungen von Präsidenten, Gouverneuren und der CIA, die Drogen in das und aus dem Land bringt, geschaffen haben. Die Geschehnisse sind etwas, das nicht nur für dieses Album, sondern für mein ganzes Leben eine wichtige Rolle spielt und immer spielen wird.
Ihr seid ungewohnt offen damit umgegangen. Du erwähntest schon, dass ihr die Geschehnisse im Internet öffentlich gemacht habt, daneben habt ihr auch die "Benefit For Victims Of Violent Crime"-EP gemacht.
Richtig, es war unser Weg, der Organisation Center For Victims Of Violent Crime zu danken, die meiner Familie in der sehr schweren Situation nach dem Tod meiner Schwester geholfen hat. Weißt du, ich habe nicht das Geld, um ihnen 20.000 Dollar zu geben, um sie zu unterstützen. Dennoch kann ich versuchen, 20.000 Dollar mittels einer limitierten EP einzuspielen, um sie der Organisation zu spenden. Die EP lief erfreulicherweise auch sehr gut. Die 20.000 Stück, die wir gepresst haben, sind fast alle verkauft, was sehr schön ist. Manche Leute fragten, warum wir eine Benefit-EP als limitierte Auflage veröffentlichen, was zugegebenermaßen etwas komisch wirkt. Der Grund ist aber, dass die EP sich schnell verkaufen soll, damit wir das Geld schnellstmöglich spenden können. Mit "Vices" haben wir auch für "The Bright Lights Of America" einen Song geschrieben, der dieses Thema behandelt. Es ist düster, jemanden zu verlieren. Aber der Tod meiner Schwester und die vielen Briefe zeigten mir auch, dass alle Menschen auf der Welt schon mal einen lieb gewonnenen Menschen verloren haben. Gleichzeitig wird dadurch klar: das Wichtigste, was wir haben, um solche schrecklichen Dinge zu verarbeiten, das sind wir alle untereinander.
In jüngerer Vergangenheit habt ihr Geld gespendet, damit in einer afrikanischen Region ein Brunnen gebaut werden konnte. Die populäre Politikdiskussion hat sich in den letzten Jahren nicht allein in Deutschland um die Frage gerankt, ob es einen Schuldenerlass für die Dritte Welt geben soll. Wobei auch Menschen, die versuchen, in Afrika etwas aufzubauen, einem Schuldenerlass skeptisch gegenüber stehen, weil sie sagen, er helfe den Regionen nicht, sich selber zu entwickeln. Wie steht ihr zu diesem Thema?
Das Argument greift meiner Meinung nach zu kurz, weil es am realen Problem vorbei geht. Es ist doch so, dass die Menschen in der Dritten Welt durchaus in der Lage sind, eine eigene Infrastruktur aufzubauen und sich selber zu versorgen. Allerdings setzt dies voraus, dass sie auf eigenem Land und für sich selber wirtschaften. Wenn man ihnen die Schulden nicht erlässt, wird es aber nie dazu kommen, weil die Rückzahlungen die Erträge auffressen werden. Ganz grundsätzlich finde ich es aber bedauernswert, dass über so etwas wie den Schuldenerlass für die Dritte Welt überhaupt diskutiert werden muss. Schließlich haben die Vereinten Nationen doch die grundsätzlichen Menschenrechte, wie die Rechte auf Versorgung, Kleidung, Medizin und so weiter in ihrer Charta verankert. Und die predigen sie zwar, aber leben sie nicht! Würden sie die leben, was man von so einer Organisation eigentlich erwartet, würden sie der Dritten Welt Geld geben, damit sie Aufbauhilfe erhält. Es sollte aber kein Geld sein, was man irgendwann einmal zurückfordert. Es sollte im Einklang mit der Charta der UN eine Hilfe und kein Kredit sein. Dagegen argumentieren ja wieder andere, dass die Menschen in der Dritten Welt die Ärmel hochkrempeln sollten, um selber etwas auf die Beine zu stellen. Aber das halte ich für Schwachsinn. Das wird der Problemlage nicht gerecht, sondern spiegelt nur die Interessen der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds wider, denen ich nicht über den Weg traue. Im Artwork von "The Bright Lights Of America" wird es zu diesem Thema übrigens auch eine Postkarte geben. Wir haben zu mehreren sozialpolitischen Fragen Postkarten gemacht, die sich die Leute ausschneiden und an die verantwortliche Stelle in der Politik senden sollen. Bei einer geht es darum, die UN an ihre Charta und vor allem deren Einhaltung zu erinnern. Gleichwohl sollte der Schuldenerlass nicht auf Afrika beschränkt werden, sondern allen benachteiligten Nationen zu Gute kommen.
Welche Perspektive hast du denn für Afrika? Auf "For Blood And Empire" habt ihr in "Emigre" bereits über den Konflikt im Sudan gesprochen. Nun las man gerade über die Ausschreitungen in Kenia ...
Es ist natürlich bedauerlich zu sehen, was in Kenia passiert. Dabei sind diese Vorgänge Ergebnis von Bedingungen, die die westliche Welt der Region und anderen afrikanischen Gebieten auferlegt hat. Die Menschen dort leben in Armut und sind, wie man in Kenia sieht, Situationen ausgesetzt, in denen es um Leben und Tod geht. Und wenn du Menschen in solche Situationen hinein zwingst, dann reagieren sie auf sehr unvorhersehbare Art und Weise. Dabei ist es erschütternd, wie wenig sich die anderen Länder der Welt um so etwas kümmern. Ein Einmarsch in den Irak war kein Problem, um einen Diktator zu stürzen, der den USA den Zugang zum Öl verwehrte. Im Sudan gibt es solche Rohstoffe nicht, weswegen hier niemand in den Konflikt einschreitet. Auch nicht in Ruanda, obwohl nach den dortigen Geschehnissen gesagt wurde, man werde so etwas nicht noch einmal zulassen. Nun, es passiert in dem Moment, in dem wir uns hier in Berlin gegenüber sitzen - dasselbe in Kenia, wo es ebenso wenig die Aussicht gibt, dass eine der größeren Nationen schlichtend einschreiten wird. Das Wohl dieser Länder ist leider an das Verhalten der mächtigen Nationen gebunden. Und ich hoffe, dass es eines Tages nicht mehr deren Appetit auf Ressourcen sein wird, der sie motiviert, sondern der Wille, Frieden zu stiften. Dann besteht auch Hoffnung, dass es in Afrika eine Verbesserung der Zustände gibt.
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