Der Begriff Band bezeichnet eigentlich eine feste Gruppe von Menschen, die zusammen Musik machen. Schaut man sich aber die permanenten Besetzungswechsel von NAPALM DEATH in der Zeit Mitte/Ende der Achtziger an, die nun von ihrem damaligen Label Earache neu aufgelegt wurden, fehlt jede Konstanz.
Als „Scum“, dem diverse Demos vorausgegangen waren, im Sommer 1987 erschien, war nur Schlagzeuger Mick Harris (nicht zu verwechseln mit dem heutigen ND-Gitarristen Mitch Harris) von jenem Line-up übrig, das die A-Seite des Albums eingespielt hatte.
Gründungsmitglied, Bassist und Sänger Nik Bullen hatte die Band nach den Aufnahmen im Dezember 1986 verlassen, die ursprünglich für eine Seite einer Split-LP mit ATAVISTIC gedacht waren, und Justin Broadrick (Gitarre) war schon zuvor ausgestiegen, um bei HEAD OF DAVID Schlagzeug zu spielen.
So kam es, dass die zweite Seite von „Scum“ im Mai 1987 mit Bill Steer von CARCASS an der Gitarre, Jim Whiteley am Bass und Lee Dorrian (später CATHEDRAL) als neuem Sänger eingespielt wurde.
Inwiefern sich diese Besetzungswechsel im Detail auf Songwriting und Musik ausgewirkt haben, wäre sicher Anlass zu musikwissenschaftlichen Forschungen, und es gibt auch Die-hard-Grindcore-Fans, für die jenseits der Demos schon der künstlerische Niedergang jener damals als sensationell extrem empfundenen Musikrichtung begann.
NAPALM DEATHs Verbundenheit und Herkunft aus der britischen Anarchopunk-Szene der Achtziger kann man jedenfalls bereits am Artwork des Albums erkennen, das zeittypisch in schwarz-weißer Tuschezeichnungsoptik zwischen CRASS und RUDIMENTARY PENI passte und rein gar nichts mit irgendwelchen Metal-Klischees jener Tage zu tun hatte.
Auch inhaltlich bleiben keine Fragen offen, sagen die zwei Zeilen des Openers „Multinational corporations“ eigentlich alles: „Multinational corporations / Genocide of the starving nations“ – das trifft es auch 25 Jahre später noch.
28 ultrakurze, scharfe Song-Splittergranaten fanden sich auf dem Original-Album (darunter der Guiness Book-zertifizierte „kürzeste Song der Welt“: „You suffer“ dauert nur 1.316 Sekunden), auf der Neuauflage sind es 56, gibt es das Album doch noch ein zweites Mal als Bonus in Form der Rough Mixe.
Ein absoluter Genreklassiker, dem Earache allerdings den Gefallen hätten tun können, ihn mit ordentlichen Linernotes zu versehen. Gleiches gilt für das zweite Album „From Enslavement To Obliteration“, dessen Titel den eines Demos von 1986 aufgreift.
Natürlich war es im Vorfeld der Aufnahmen zu einem Besetzungswechsel gekommen: Whiteley ging zu RIPCORD, für ihn kam mit Shane Embury der einzige der damaligen Musiker an Bord, der auch heute noch bei NAPALM DEATH spielt – Sänger Barney kam erst 1989 dazu.
Lee Dorrian beeindruckt hier durch seinen zweigeteilten Gesangsstil: einerseits dunkle Growls, andererseits helle Screams – andere Bands brauchen dafür zwei Sänger. Im Vergleich zum Debüt war man opulent lange im Studio gewesen, entsprechend ist der Trademark-Sound auf dem seinerzeit kommerziell bereits recht erfolgreichen Album druckvoller und beeindruckender, vermittelt einen besseren Eindruck von der live erbrachten Extremsport-Leistung der Band – und ist zugleich das letzte der frühen ND-Werke, das noch mehr dem klassischen Grindcore zurechenbar ist als die folgenden Alben, als man sich Richtung Death Metal orientierte.
Zu den remasterten 26 Originalsongs gesellen sich noch fünf Bonustracks. Das Original-Textblatt gibt’s in Bookletform, es fehlen aber auch hier erläuternde Linernotes. Die beiden ersten ND-Alben zählen definitiv zum Pflichtkanon in Sachen extremen Hardcores – da erkennt man wieder, wie nackt all die modernen Metalcore-Kasper dastehen, die sich unglaublich hart gebärden, dabei aber nur wie aufgeblasene Frösche wirken.
Dritter Rerelease in der Runde ist „Harmony Corruption“ von 1990, das auch das erste Album des bis heute bestehenden Kern-Line-ups (Shane, Barney, Mitch) ist: Im Juli 1989 hatten Steer und Dorrian die Band verlassen (Letzterer gründete CATHEDRAL, Ersterer hatte mit CARCASS genug zu tun), und wurden ersetzt durch Jesse Pintado (ex-TERRORIZER) an der Gitarre und Mark „Barney“ Greenway als neuem Sänger.
Bald darauf stieß auch noch Mitch Harris als zweiter Gitarrist hinzu. Nach den Grindcore-Attacken der vergangenen Jahre war „Harmony Corruption“ mit seinem viel stärkeren Death Metal-Einfluss ein starkes Abweichen vom bisherigen stilistischen Kurs und so stieß die Platte gerade bei den alten Fans nicht nur auf Zustimmung.
Im direkten Vergleich schwächelt das Album auch heute noch, und mir gefällt der heutige NAPALM DEATH-Sound erheblich besser als jener der frühen Neunziger. Neben den elf originalen Tracks gibt’s beim Rerelease 14 Live-Songs als Bonus.
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