„Diese Assoziation habe ich schon mehrfach gehört, das war aber nicht beabsichtigt!“ Mark „Barney“ Greenway stellt die Ursprünge seiner giftigen Performance im Song „Joie de ne pas vivre“ richtig: Inspiration dafür war nicht Black Metal, sondern eine Industrial-Band aus der Schweiz. „Das ist nur meine Interpretation des Gesangs auf dem ersten THE YOUNG GODS-Album!“ Das 16. Album der Briten, „Throes Of Joy In The Jaws Of Defeatism“, legt weitere Wurzeln einer Band frei, die von Grenzen nie etwas hielt.
Für die Miterfinder von Grindcore ist es ein weiter Weg zu einem Song wie „Amoral“, der für das Etikett Post-Punk nur ein bisschen zu schroff klingt. Rückblickend lässt sich dieser Weg bis in die Neunziger Jahre verfolgen.
Ich habe zwar meine Probleme mit einigen Aspekten unserer Alben aus den Neunzigern, aber im Grunde mag ich sie alle. Wir haben in Richtungen experimentiert, in die keiner aus unserem Umfeld ging, beeinflusst von Bands wie SONIC YOUTH oder KILLING JOKE. Schreibt man so lange zusammen Songs wie wir, wird man automatisch selbstbewusster und traut sich mit jedem Album mehr zu. Als Sänger bin ich bereit, alles auszuprobieren, was in den rauhen, extremen und konfrontativen NAPALM DEATH-Kontext passt. Immer dasselbe zu wiederholen, das bringt weder einer Band noch ihren Fans etwas! Wir wollen unsere Musik entwickeln, ohne an Intensität zu verlieren.
Auch die zwei während der Aufnahmesessions eingespielten Fremdkompositionen machen die Bandbreite der Einflüsse deutlich.
Wir wollten schon lange Songs dieser Bands aufnehmen, haben das aber immer wieder versäumt. SONIC YOUTH werden wohl die meisten kennen. RUDIMENTARY PENI sind weniger bekannt, das ist Anarcho-Punk aus dem CRASS-Umfeld. „Blissful myth“ ist ein einfacher Punk-Song, aber mit einer eigenen, fast poetischen Diktion. Wir sind von vielem inspiriert, auch wenn das nicht immer offensichtlich ist! Mir ist klar, dass viele unserer Fans mit solchen Einflüssen wenig anfangen können. Wer NAPALM DEATH mag, ist nicht automatisch SWANS-Fan. Eine Band ist aber eine egoistische Angelegenheit, man schreibt Musik in erster Linie für sich selbst. Versucht man, damit jemandem zu gefallen, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man es versaut! Wir nehmen also seit jeher etwas, das wir lieben, und verpassen dem unseren eigenen Twist. Es wird heftig verzerrt und nach NAPALM DEATH klingen, nur die Wurzeln stammen von dieser oder jener Band. Wir übersetzen das in unsere Sprache! Zum Beispiel SONIC YOUTH, wenn man bei einem unserer Alben wie „Fear, Emptiness, Despair“ von 1994 mal hinhört, was die Gitarren unter und neben dem Hauptriff spielen, erkennt man die Fußspuren von Thurston Moore.
Du hast oft davon gesprochen, wie wichtig es ist, aktuelle Themen zu behandeln. Worum geht es auf „Throes Of Joy In The Jaws Of Defeatism“?
Es geht darum, wie Menschen mit anderen Menschen umgehen, und ganz spezifisch darum, wie Regierungen – besonders in den letzten Jahren – agieren, um ihre Macht zu erhalten. Es geht um die enthemmte Sprache, die benutzt wird, wenn es beispielsweise um Geflüchtete geht. Damit meine ich nicht nur diesen Präsidenten von der anderen Seite des Atlantiks, auch hier in Europa sprechen Regierungen über Menschengruppen, als wären sie wertlos und verachtenswert. Wir haben Politiker, die von „gay free zones“ sprechen und offen gegen LGBTQ+-Personen hetzen. Wir wissen nicht nur aus den Dreißiger Jahren, dass es einen Punkt gibt, an dem solche Stimmungsmache in Gewalt umschlägt. Entgehen kann man dieser Manipulation und Propaganda nicht. „Fuck the factoid“ handelt davon, wie auch in den Massenmedien einzelne Aspekte der Wahrheit zu Schlagzeilen verzerrt werden, um Gruppen von Menschen zu diffamieren. „Joie de ne pas vivre“ erzählt von einer Person, die alle Leute hasst, die anders sind als sie selbst. Füllt man sein Leben mit Hass, lebt man nicht wirklich. Man genießt das Leben nicht, sondern verbaut sich jede Freude mit Negativität. Ich verstehe das nicht, aber es ist weit verbreitet. Jeder kennt diese Lebenseinstellung, nicht nur aus den sozialen Medien. „Joie de ne pas vivre“ meint also die Lust, nicht zu leben – NAPALM DEATH sollen eine Antithese dazu sein! Und da wir gerade von subtilen Einflüssen sprechen: THE YOUNG GODS texteten französisch und eine der Sängerinnen von CRASS nannte sich Joy De Vivre – so kam es zu diesem Songtitel.
Simple Slogans bekommt der Hörer von NAPALM DEATH nicht. Deine Sprache hat eine Poesie, wie du sie gerade RUDIMENTARY PENI zugesprochen hast.
Das ist ein Balanceakt. Ich bin ein Sprach-Nerd, ich liebe die Kunst, sich mit Worten auszudrücken. Deshalb muss ich aber nicht klingen, als würde ich ein Wörterbuch auskotzen! Manches, was ich schreibe, ist vielleicht komplex, aber es könnte viel komplexer sein. Die Aussage bleibt erkennbar. Ich verwende Metaphern, Pathos, Wortspiele, Ironie. Das Schwierigste dabei ist Humor. Obwohl meine Themen alles andere als lustig sind, kann Humor Ideen vermitteln. Ich denke da wieder an CRASS, oder an Jello Biafra. Wie clever der bei den DEAD KENNEDYS komplexe Sachverhalte verpackte, halte ich für genial! Jedenfalls versuche ich, schablonenhafte Songtexte zu vermeiden. Das gibt es in jedem Genre, bestimmte Formulierungen hört man millionenfach, immer wieder. Das fordert niemanden heraus, das hinterlässt keinen Eindruck. Wir sind eine offensiv antifaschistische Band. In den Neunzigern sind wir deshalb oft auch in körperliche Auseinandersetzungen geraten. Das will ich nicht romantisieren, dieser ganze Machismo-Aspekt ist nur deprimierend ... Man darf sich aber nicht einschüchtern lassen. Das Konzept, sich aus Angst vor irgendwas lieber nicht zu äußern, ist katastrophal. Wenn man will, dass die Verhältnisse sich ändern, muss man laut sein! Ich weiß, dass es Bands gibt, die nicht politisch werden wollen, um keine Fans zu verlieren. Bei NAPALM DEATH gehören Musik und Politik untrennbar zusammen.
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