TURBONEGRO

Foto

Die Band mit der Happylismus-Formel

Ich gebe zu, ich war enttäuscht, als ich das neue TURBONEGRO-Album das erste Mal hörte. Knackige Rock-Riffs hin oder her, die Aufregung, die man einst bei "Ass Cobra" und "Apocalypse Dudes" verspürte, will sich heute nicht mehr einstellen. Aber TRBNGR deshalb aufgeben, soweit will ich dann doch nicht gehen, und der Punkt ist einfach, dass man eine Band, die einen seit über zehn Jahren begleitet, nicht mal eben fallen lässt. Zudem sind die Herren ja ausgesprochen nette Kerle, und ein Interview mit Hank und Happy-Tom im Kölner Hilton, bei dem die mir am späten Vormittag in komplettem Bühnenoutfit gegenüber saßen, besänftigte mich dann doch und rückte so manche (Fehl-)Wahrnehmung zurecht.

Ihr habt heute "Retox" als Titel des neuen Albums bekannt gegeben.

Tom: Ja, obwohl man überall noch "Orgasm In Progress" lesen kann, etwa auf Wikipedia, wo irgendwelche Idioten den Eintrag über uns bearbeiten. Wir hatten insgesamt aber rund zehn verschiedene Arbeitstitel.

Hank: Einer war "Born To Motherfucking Run", aber das hätte uns wohl Ärger mit den Bruce Springsteen-Fans eingebracht.

Tom: Und "Born To Run To A Certain Extent" war ein weiterer Arbeitstitel. Und "Born To Die", aber dann fanden wir heraus, dass GRAND FUNK RAILROAD den schon mal hatten.



"Retox" impliziert ein Verhalten, das Hank nicht gerade gut tun würde.

Tom: Der ist ja schon längst wieder auf Heroin.

Hank: Yeah, I'm back on the booze. Das cleane Leben hat mich gelangweilt. Das ist ein Protest gegen die ganzen Yuppies in Oslo.

Tom: Und deshalb ist auch der erste Song "Atom bomb" Oslo gewidmet. Die Leute denken alle, sie würden immer individueller werden, dabei werden sie immer konformer. Alle ziehen sich immer "alternativer" an, und dabei ist das doch alles nur eine Form von "Massen-Individualismus". Unsere Forderung lautet: Let's party, bring out the booze, the beer and the bomb.

Hank: Der Nihilismus ist zurück - aber in Form eines positiven Nihilismus. Happylismus, wie wir das nennen.



Das klingt sehr aggressiv.

Tom: Dabei sind wir Norweger gar nicht so kriegerisch. Über die Jahrhunderte haben wir nur gegen Schweden gekämpft ... und 1938 gegen Dänemark, als es um Grönland ging, da mussten die Vereinten Nationen eingreifen. Und irgendwann haben wir auch gegen England Krieg geführt, das muss zu Napoleons Zeiten gewesen sein. Und das war wohl auch die Geburtsstunde des Britpop. Die Engländer fühlten sich von den Norwegern erniedrigt.

Hank: Übrigens ist es ein Mythos, dass die Wikinger einst die Männer getötet und die Frauen vergewaltigt haben. Es war genau andersherum: Sie brachten alle Frauen um und vergewaltigten die Männer.

Tom: Aber das bedeutet nicht, dass wir die Verantwortung für Britpop übernehmen. Es waren vielmehr die Nachkommen der schwachen keltischen Völker, die später eine Vorliebe für Techno, House und Britpop entwickelten. Die Nachfahren der Norweger hingegen erfanden New Wave und Heavy Metal, etwa SAXON, MOTÖRHEAD und JUDAS PRIEST.



Und deshalb hasst ihr Britpop.

Tom: Tun wir doch gar nicht. Wir betrachten ihn nur distanziert.



Ihr seid ja auch große Fans von THE SOUNDTRACK OF OUR LIVES, die mittlerweile sehr nahe dran sind an OASIS, da hätte das auch nicht viel Sinn gemacht.

Tom: Ja, ich mag OASIS, und Euroboy kann seine Vorliebe für Britpop auch nicht verhehlen. PRIMAL SCREAM mögen wir ja auch. Aber wir können OCEAN COLOR SCENE, STEREOPHONICS und so blutleeren, lauwarmen Britpop überhaupt nicht leiden. No blood, no erection, so sieht das nämlich aus.



Sprechen wir über euch, euer neues Album. Ihr habt eben die konformistische, zahme heutige Alternativkultur beklagt. Nun kann man aber auch behaupten, dass TURBONEGRO vor zehn Jahren gefährlicher waren ...

Tom: Vor zehn Jahren hatten wir gerade mal eine Hand voll Fans. Und da sollen wir eine Bedrohung für das Establishment gewesen sein? Ha! Heute haben wir Millionen von Fans!

Hank: Und wir rekrutieren ständig neue, immer jüngere Fans. Mit jedem neuen Album haben wir in den letzten sechs Jahren mehr Konzerte auch vor einem jungen Publikum gespielt, und da tauchen immer mehr Turbojugend-Jacken und Matrosenhüte auf. Wir selbst mögen zwar seit einer halben Ewigkeit in der Szene aktiv sein und heute etwas satt und voll erscheinen ...

Tom: ... aber das ist nur körperlich, hahahaha.

Hank: Genau. Das ist nur körperlich. Und wir rekrutieren weiterhin den abgefucktesten Teil der Jugend. Die ganzen verpeilten hyperaktiven Kids aus kaputten Familien, die früher zu Punks wurden, landen heute bei uns und werden über die Turbojugend zu Punks. Von daher mache ich mir keinerlei Gedanken darüber, dass wir womöglich nicht mehr gefährlich genug sein könnten. Wir sind heute die Oligarchen einer Jugendkultur, die auf dem besten Wege ist, eine richtige Armee zu werden! Und eines Tages werden wir mit dieser Armee in ein kleines europäisches Land einfallen ... Liechtenstein zum Beispiel.

Tom: Es ist leicht bei diesem Thema nostalgisch zu werden. Punk in den Siebzigern war eine Gegenkultur, aber man vergisst leicht, dass Punk Ende der Siebziger riesig war: sogar in abgeschiedenen norwegischen Fischerörtchen gab es eine Punkszene mit fünf Bands, und jeder unter 25 hörte diese Musik. Punk war beinahe Mainstream, und damals veränderte Punk die Welt - und nicht als ROCKET FROM THE TOMBS in Cleveland ihre Konzerte spielten oder die STOOGES irgendwo in Ohio. Deshalb sehe ich eine sehr große Ähnlichkeit zwischen der Turbojugend und den frühen Punkrock-Fans: In der Schule waren damals die klügsten und die dümmsten Typen in der Klasse Punkrock-Fans.

Hank: Genau, wir sind eine Außenseiter-Band für Außenseiter. Und wir werden nicht nur älter, sondern auch wütender.



Die Zeit, das Alter fordert von euch also keinen Tribut.

Tom: Nein. Und wir kümmern uns auch nicht darum, was auf dem Markt sonst so angesagt ist. Nimm nur diese ganzen britischen Bands, die mit ihrem ersten Album komplett durchstarten. Die Platte wird gehypet ohne Ende, doch mal ehrlich, wer wird sich in zehn Jahren noch an die ARCTIC MONKEYS erinnern? Niemand! Nimm dagegen eine Band wie VELVET UNDERGROUND: Die haben zur Zeit ihres Bestehens vielleicht 20.000 Platten verkauft, doch heute kennt sie jeder. Und ich denke, dass TURBONEGRO eine sehr beständige Kraft darstellen. Dazu gehört auch unser Outfit, der Denim-Look, weshalb wir eben auch diesmal nicht mit einem neuen Leder-Outfit oder so aufwarten. Wir haben uns als Cartoon-Band mit verschiedenen Charakteren etabliert, und das soll so bleiben. Hank tritt diesmal als Herr Freiheit auf.

Hank: Ja, ich bin Mister Freedom.



Ich wollte dich gerade fragen, was es mit deinem Cape und deinen Rodeo-Hosen im Stars & Stripes-Look auf sich hat.

Hank: Das sind die Stars & Stripes of Consumption. I am the sugardaddy.

Tom: Hank wird euch alle befreien, indem er euch in die Hölle bombt. So wie die Amerikaner die Vietnamesen befreit haben, hahaha.



Und was ist das für ein haariges totes Tier, das da zwischen deinen Beinen hängt?

Hank: Das ist ein Nerz. Manchmal redet er mit mir, sagt mir, was ich sagen soll.



Darf ich das mal anfassen? Süüüüß, der ist ja ganz weich und flauschig. Aber wenn wir schon von eurem Outfit sprechen, dann solltest du, Tom, vielleicht mal eine größere Jacke kaufen. Die spannt am Bauch ja schon gewaltig ...

Tom: Ich habe schon eine, aber was soll ich machen, ich bin eben auch schon 38. Und lieber habe ich etwas Fett auf den Rippen, als dürr zu sein.

Hank: Als wir vor ein paar Jahren zu diesen Rockstar-Ikonen geworden waren, haben wir aus lauter Stress Bulimie entwickelt, allerdings ohne das Kotzen, und das Ergebnis siehst du ja ... Deshalb "wachsen" wir alle etwas.



Aber ich habe gehört, dass die hübschen jungen Mädchen dicke alte Männer nicht besonders attraktiv finden.

Tom: Kein Problem ... Nachts wandert das Volumen unserer Bäuche in unsere Schwänze ...

Hank: Und der Nerz erwacht zum Leben ...



Seit einer ganzen Weile schon ist ein ausführliches Buch über TURBONEGRO angekündigt, von einem norwegischen Journalisten. Wie ist da der Stand der Dinge?

Tom: Das Buch soll im September oder Oktober erscheinen. Es wird eine Biografie, und der Autor arbeitet seit zwei Jahren daran. Er hat wirklich jeden aus unserem Umfeld interviewt, sogar unsere Eltern und alte Schulkameraden, von denen wir seit damals nichts mehr gehört hatten.

Hank: Er hat wohl im Sinn, die erste große europäische Band-Biografie im Stile von "The Dirt" oder "White Line Fever" zu schreiben. Hakon Moslet ist sehr ehrgeizig in dieser Beziehung.

Tom: Er ist der Musik-Chefredakteur des norwegischen Radios. Es wird wohl eine Mischung aus Boulevard-Journalismus und nerdigem Fan-Buch werden.



Dass just auch ein deutsches Buch über euch erschienen ist, habt ihr mitbekommen?

Tom: Ich habe davon gehört. Eine Frau namens Uta Heuser hat es geschrieben. Ich glaube, ich muss endlich Deutsch lernen ... Soweit ich weiß, ist es aus der Sicht eines Fans geschrieben und geht auch viel über die Turbojugend. Diese Bücher bedeuten jedenfalls, dass ich es in 20 Jahren schwer haben werde, eine Autobiografie wie Albert Speer zu verfassen: Ich wusste nicht, was da vor sich ging, ich habe nur Bass gespielt.



Was ein gutes Stichwort ist: Bei euch kann man sich nie sicher sein, ob das, was ihr gerade tut, eine spontane Punkrock-Aktion ohne tieferen Sinn ist, oder ob dahinter mal wieder ein perfider Masterplan steckt, denn ihr seid ja erschreckend reflektiert, was euer Tun anbelangt.

Tom: Oft existiert der Masterplan ja auch, bei anderer Gelegenheit jedoch nicht, da ist es nur kindischer Blödsinn - und trotzdem hält es jeder für perfide geplant.

Hank: In Norwegen gibt es einige Journalisten, die uns genau deshalb nicht leiden können. Die mögen nicht, dass wir im einen Moment einen total analytischen Ansatz haben, im anderen völlig mongoloid sind. Die sind nicht in der Lage uns zu durchschauen und halten deshalb alles für geplant. Wenn wir dann nach Deutschland fahren, um Interviews zu geben, sehen die selbst darin einen bösen Plan, vermuten dahinter die böse Absicht, dass wir nur mit Journalisten reden, um mehr Platten zu verkaufen.



Anfang März erschien eurer erste Single aus dem neuen Album, "Do You Do You Dig Destruction", - als reiner Download-Track für Mobiltelefone ...

Tom: Ja, das ist ein ganz normaler mp3-Track, den man sich auf sein Handy laden kann. Wir sind die erste norwegische Band, die ihre Single in dieser Form veröffentlicht hat.



Und wie viele habt ihr verkauft?

Hank: Die Firma erwartet 70.000, aber wir haben noch keine Zahlen bekommen.



Apropos Firma: Nach zwei Platten auf Burning Heart erscheint euer neues Album bei edel music.

Tom: Als ich hörte, dass die uns signen wollte, war ich zuerst erstaunt - und fing sofort an, das Lied von Schnappi vor mich hin zu singen.

Hank: Wir hatten unseren Deal mit Burning Heart erfüllt, es war okay, aber wir hatten keine Lust darauf, über sie noch ein Album zu machen, wo wir von vornherein wussten, wie es sich verkaufen wird. Jetzt sind wir mal gespannt, was edel so können, und wir haben den Eindruck, dass die sich richtig anstrengen. Das sind Profis, die haben eine große Organisation, sind aber letztlich immer noch ein Independentlabel. Und da fühlen wir uns wohler als bei Warner oder so.



"What is rock?!", der letzte Song des neuen Albums, ist eine schöne Antwort auf "Who will save Rock'n'Roll?" von den DICTATORS.

Tom: Das ist aber keine bewusste Antwort, auch wenn ich den Song liebe. Es geht vielmehr um die uralte philosophische Frage, was Rock ist. Aber was hältst du denn vom neuen Album?



Nun ... ich finde es nicht besonders aufregend, drücken wir es so aus.

Tom: Ja und? Das war doch nicht zu erwarten, denn wir sind ja eine "Formel-Band" wie die RAMONES oder MOTÖRHEAD auch.

Hank: Man hätte auch den RAMONES bei jedem Album vorwerfen können, dass sie nichts Neues zu bieten haben. Oder AC/DC. Aber wir sind ja keine Künstler, die danach trachten, bei jedem neuen Album besonders innovativ zu sein, die mit total abgefahrenen alten Synthesizern experimentieren und so. Im TURBONEGRO-Universum aber ist jeder neue Sound ein Verstoß gegen das Ur-Schema der Band. Abgesehen davon kann ich aber verstehen, dass die Aufregung über unser Comeback mittlerweile etwas verflogen ist. Und deshalb mussten wir uns in Norwegen auch anhören, wir hätten unser Comeback doch etwas zu lange ausgedehnt, hahaha.

Tom: Dabei sind wir schon längst über die Aufregung des Comebacks hinaus, unser Ziel ist es jetzt, eine beständige Band zu sein. Wir erwarten nicht bei jedem neuen Album unglaublichen Jubel, wollen aber solides Handwerk abliefern, gute Songs, die man sich auch in zehn Jahren noch anhören kann.

Hank: Außerdem hat ja auch nicht jeder von uns die RAMONES von Anfang an mitbekommen, sondern sie auch durch eines ihrer späteren Alben entdeckt. Und so ist es mit den Kids auch bei uns: Die entdecken uns über "Retox" und lernen dann erst die alten Platten kennen. Aber so denken die Scenesters, die uns seit 15 Jahren verfolgen, eben nicht.

Tom: Und wir machen es uns nicht leicht, denn als "Formula Band" bewegt man sich in sehr engen Bahnen. Und sowieso sollte eine klassische Rock'n'Roll-Band meiner Meinung nach auch nicht innovativ sein. Wenn wir das versuchten, wäre das unser Ende. Das beste Beispiel dafür sind GUNS N' ROSES: Als die damals diesen Delphin im Video hatten, stieg Slash aus. Er sagte, er habe sich eine Menge Scheiße von Axl Rose anhören müssen, doch das sei der Tropfen gewesen, der das Fass zum überlaufen brachte. Und diesen metaphorischen Delphin wirst du niemals in einem TURBONEGRO-Video entdecken. Außer vielleicht mit einem Speer im Rücken, hahaha.



Joachim Hiller