Anfang der Neunziger in Rheine im Münsterland gegründet, hinterließen MUFF POTTER bis 2009 ihre Spuren im deutschsprachigen Punk. Dabei bezeichnete die Band selbst ihre Musik eher als Angry Pop Music. 2009 war Feierabend, die Mitglieder gingen ihrer Wege, machten eigene Musik, waren mal als Kandidat bei „Wer wird Millionär?“ zu sehen, putzten Fenster oder schrieben Romane. 2018 spielten MUFF POTTER wieder live, jetzt, noch einmal drei Jahre später, gibt es Ende August mit „Bei aller Liebe“ ein neues Album. Julia Brummert traf Sänger Thorsten Nagelschmidt und das neueste Bandmitglied, Gitarrist Felix Gebhard, der für Dennis Scheider in die Band kam, in Berlin-Kreuzberg. Seit zwei Jahren das erste Interview für sie ohne ein Online-Telefonprogramm dazwischen – das erste längere Interview zum Ende August erscheinenden Album „Bei aller Liebe“.
2009 haben MUFF POTTER Schluss gemacht, wie kam es dazu, dass ihr wieder zusammengefunden habt?
Thorsten: Die Band war neun Jahre aufgelöst und es gab in dieser ganzen Zeit immer wieder Anfragen und Angebote. Was weiß ich, irgendein Green Hell-Geburtstag oder andere Sachen, zu denen wir einen Bezug hatten. Wir haben das immer alles abgelehnt. Aber natürlich hat das was mit uns gemacht. Ich kann da nur für mich sprechen, aber ich habe dann überlegt – ich habe die Band natürlich auch vermisst. MUFF POTTER sind ein wichtiger Teil meines Lebens. Wir hatten jedoch auch Angst vor diesem Begriff Reunion, weil der auch uncoole oder ungute Assoziationen weckt. Wir alle haben ja schon Reunions gesehen, bei denen wir uns gefragt haben: „Na, hätte die Welt das jetzt gebraucht?“ – davor hatten wir Respekt. Es fing dann tatsächlich mit der Buchpremiere zu „Der Abfall der Herzen“ an.
Das ist dein Roman, in dem es unter anderem um MUFF POTTER und deine Jugend in Rheine geht.
Thorsten: Ich wollte eine Band auf der Bühne haben, die die Songs spielt, die in diesem Buchkontext und 1999, dem Jahr, in dem große Teile des Romans spielen, wichtig waren. Diese Live-Band war nicht als MUFF POTTER angekündigt, aber die ersten beiden, die ich gefragt hatte, waren Brami und Shredder. Das waren einfach der erste Bassist und der erste Schlagzeuger, die mir eingefallen sind und auf die ich Bock hatte. Und Felix habe ich gefragt, weil wir zu der Zeit einfach viel zusammen gemacht haben. Und dann haben wir das eben gemacht mit Gastsängern und -sängerinnen. Dagobert hat einen Song gesungen, Carol Schuler hat einen Song gesungen, die jetzt „Tatort“-Kommissarin ist und auch mitgelesen hat. Das war für mich das erste Mal seit 2009, dass ich wieder MUFF POTTER-Songs gespielt habe. Es stand auch immer im Raum, solo was zu machen. Es gab wahnsinnig viele Anfragen, so mit der Akustikgitarre, wie das ja auch viele Sänger von Punk- oder Rockbands irgendwann machen. Das kam mir aber nie richtig vor. Das heißt also, dieser Moment da im Festsaal Kreuzberg war das erste Mal seit langer Zeit. Damit stand die Idee im Raum, und wir haben uns danach für ein paar Tage in den Proberaum gestellt und geguckt, was passiert.
Ihr habt dann ein paar Shows gespielt, unter anderem bei „Jamel rockt den Förster“ – wie ging es weiter?
Thorsten: Nach dem Festivalauftritt haben wir eine Tour angekündigt. Wir haben das alles eher klein gehalten, es gab kein Management oder Label, nicht einmal Social-Media-Kanäle. Wir haben uns entschieden, wir geben keine Interviews, einfach, um nicht über diesen Elefanten im Raum reden zu müssen: die Frage nach einem neuen Album. Wir haben es 2019 ziemlich lange geschafft, diesen Elefanten zu ignorieren. Jeder wusste, dass er da war, aber wir haben geschafft zu sagen: Nee, wir wollen einfach unsere Songs live spielen und das ist erst mal alles.
Im August erscheint mit „Bei aller Liebe“ ein neues Album. Wieso nun doch?
Thorsten: Nach der ersten Tour gab es weitere Konzerte, Shows mit HOT WATER MUSIC zum Beispiel. Und daran schloss noch eine kleine Tour an. Dafür haben wir noch mal andere alte Songs einstudiert, und da hat zum ersten Mal jemand gesagt, dass wir vielleicht mal was Neues machen sollten. Wir haben uns im Dezember 2019 eine Woche lang im Kulturzentrum Haus Nottbeck getroffen, in Oelde, wo unser Schlagzeuger Brami wohnt. Jeder sollte ein paar Ideen mitbringen und wir haben geschaut, was dabei rauskommt. Das hat gut funktioniert. Dann kam die Pandemie und gleichzeitig hatten wir keine Deadline; wir waren niemandem etwas schuldig. Wir mussten uns auch nicht an der letzten Platte orientieren, weil die ist von 2009, das ist eh scheißegal. Wir konnten einfach so lange Musik machen, bis wir das Gefühl hatten, ein Album zu haben. Also haben wir uns ein paar mal zu solchen Sessions getroffen – immer eine Woche oder zehn Tage am Stück. Am Ende ging alles ganz schnell. Als Felix 2021 in der Band war, fanden wir, dass wir lange genug gewartet haben und die Energie nutzen sollten, endlich aufzunehmen.
Felix: Das war dieser Moment: Wollen wir uns in ein paar Wochen noch mal hier treffen oder einfach ins Studio gehen? Es passte terminlich und die Songs waren ja geschrieben.
Felix, wie hast du dich als der Neue in der Band zurechtgefunden?
Felix: Als ich 2006 das erste Mal mit MUFF POTTER auf Tour war, saß ich nicht mit im Van, da musste ich Zug fahren, weil kein Platz mehr war. Aber ich habe die Leute kennen gelernt und gerafft, was das ist. Vor 2006 hatte ich tatsächlich keinen großen Bezug zu MUFF POTTER. Ende 1996 hatte ich sie mal in Bremen live gesehen, das war aber der einzige Moment. Als ich dann fest dazukam, gab es die neuen Songs schon als Skizzen, das, was jetzt auf dem Album ist, war zu großen Teilen schon entwickelt. Ich habe mir einfach dazu noch was ausdenken oder so ein bisschen mitmachen müssen. Rein technisch war es ganz komfortabel für mich. Dazu kommt, dass wir uns kennen und wissen, wie man miteinander spricht. Da gab es nicht so viele Fragezeichen.
Thorsten: Felix war auch schon unser Tourmanager. Da lernt man sich mit all seinen Bedürfnissen sehr gut kennen. 2019 hat er als Felix Gebhard bei der Tour den Support gemacht und uns bei ein paar Songs unterstützt. Bei „Wie spät ist es und warum?“ hat er Gitarre gespielt, den Song hätten wir sonst gar nicht live spielen können. Übrigens auch ein wichtiger Grund für die Reunion – es hat mich immer gewurmt, dass wir den Song nie live gespielt hatten. Felix war ja auch bei den Proben zur Buchpremiere dabei, wir hatten uns also auf ganz vielen Ebenen schon miteinander ausprobiert. Wie verhält man sich unter Stress oder wie verhält man sich mit seinem Instrument in einem Raum, wenn man da zusammen steht? Das sind ja alles Sachen, die muss man erst mal rausfinden. Man kann super gut befreundet sein und trotzdem nicht zusammen in einer Band funktionieren. Deswegen bin ich so froh, diese Leute gefunden zu haben, mit denen ich das jetzt schon über so viele Jahrzehnte machen kann.
Welche Rolle spielt Nostalgie für euch?
Thorsten: Nostalgie ist ja nicht so hoch angesehen, man soll nicht nostalgisch sein. Ich muss für mich aber sagen: Ich bin nostalgisch veranlagt. Das war ich schon immer, schon als Jugendlicher, wenn man eigentlich nach vorne schauend in die Welt gehen soll. Da habe ich schon ’68 nachgetrauert, weil ich fand, meine Generation ist scheiße und früher waren alle viel radikaler, politischer, interessanter und draufgängerischer. Ich war schon nostalgisch, bevor ich eine richtige Vergangenheit hatte. Davon handelt ja auch „Der Abfall der Herzen“. Das muss man erst mal so anerkennen, und dann muss man einen Umgang damit finden. Es gibt so eine klebrige Nostalgie, die auch mir unangenehm ist, Emotionen, die man auch bei seinem Publikum hervorrufen möchte, oder diese Nostalgie, mit der man alte Zeiten verklärt, da muss man ebenfalls aufpassen. Ich bin ja nicht nur meine Gefühle, ich kann Situationen analysieren und widersprüchliche Empfindungen zu einer Sache haben. Die Auseinandersetzung mit dem Thema schwingt seit der Reunion die ganze Zeit mit. Die Frage, wie wir damit umgehen. Was wir bedienen wollen und was nicht. Gehen wir auf eine Best-Of-Tour und spielen die alten Hits? Oder machen wir eine Setlist mit den Songs, die wir selbst am liebsten spielen möchten?
Sind das vor allem Nostalgiker:innen, die zu euren Reunion-Shows gekommen sind? Wer steht heute im MUFF-POTTER-Publikum?
Thorsten: Da waren wahnsinnig viele Leute, die uns zum ersten Mal live gesehen haben.
Felix: Die zum Teil 2009 noch zu jung waren, um auf Konzerte zu gehen. Das fand ich sehr erstaunlich.
Thorsten: Damit hatten wir überhaupt nicht gerechnet, wir waren auch nicht darauf vorbereitet. Wir haben kurzfristig versucht, die Konzerte in größere Hallen zu verlegen, wo es noch ging. Professionell wäre es natürlich gewesen, schon vorab die Option auf eine größere Halle oder einen Zusatztermin zu buchen. So machen das Bands oder Booking-Agenturen heute, wenn sie davon ausgehen, dass Shows ausverkauft sein werden. Das hatten wir alles nicht, weil wir wirklich nicht damit gerechnet hatten. Später haben wir ständig gehört, dass wir uns das doch hätten denken können. Aber nein, das hätten wir uns nicht denken können.
Wirklich nicht?
Thorsten: In den neun Jahren, in denen es MUFF POTTER nicht gab, liefen unsere Songs nicht im Radio. Es gibt Bands, die lange nicht aktiv sind, die aber trotzdem mal auf 1Live gespielt werden. Aber MUFF POTTER sind nicht so eine Band. Wir hatten jetzt auch nicht die unfassbaren Plays auf Spotify oder so, wo man das hätte absehen können. Das war alles offensichtlich word by mouth. Also wie gesagt, wir hatten auch keine Social-Media-Profile und haben keine Promo gemacht. Das müssen alles die Leute gewesen sein, denen andere Leute erzählt haben: „Diese Band ist gut, hör dir die mal an.“ Soziologisch betrachtet war das erst mal interessant. Und natürlich macht einen das auch froh – das ist wirklich schön.
Jetzt gibt es neue Songs, im August erscheint „Bei aller Liebe“. Welche Stücke sind euch am wichtigsten, auf welche freut ihr euch live am meisten?
Felix: So von der Art, wie ein Lied strukturiert ist und was auf dem Instrument passiert, da gibt es schon welche, auf die ich mich besonders freue, weil es Momente gibt, die gut funktionieren. Es gibt aber definitiv auf dem Album keinen Song, den ich nicht gerne spielen würde. Es gab so ein paar, mit denen musste ich erst warm werden, die aber für mich jetzt auch geknackt sind.
Thorsten: Es ist aber wirklich eine interessante Frage, wir haben ja noch kein Stück des Albums bislang live gespielt. Doch, eins schon, „Privat“ haben wir im September auf drei Konzerten gespielt. Das ist der kürzeste Song auf dem Album und auch einer der kürzesten, die wir je gemacht haben. Den haben wir einfach mal so zwischendurch weggehauen. Ansonsten ist es für mich eine eigentlich unbeantwortbare Frage, die natürlich aber für einen selbst interessant ist. Du triffst eine Band in dem Moment, wo sie über ihr neues Album spricht, ohne es bereits live gespielt zu haben. Das Live-Spielen ist natürlich wichtig für eine Rock- oder Punkband oder was auch immer wir jetzt sind. Und ich muss sagen, auch wenn es mir eigentlich nicht richtig erscheint, einen Song rauszustellen, aber ich freue mich darauf, „Ein gestohlener Tag“ live zu spielen, mit dem ganzen Inferno da am Ende.
Damit mutet ihr dem Publikum ganz schön was zu. Der Song ist wie lang ... sieben Minuten? Das Gleiche gilt für „Nottbeck city limits“, das sind ja eher Kurzgeschichten, die du erzählst, als ein klassischer Song über drei Minuten. Macht ihr euch Sorgen, dass das Publikum live die Geduld verliert?
Felix: Für mein Verständnis sind die Songs so aufgebaut, dass sie über so einen Zeitraum funktionieren. Also ich mag sie als Hörer genau so, wie ich sie als Spielender mag. Gerade diese langen Stücke waren es, die mich sehr angesprungen haben, als es zum ersten Mal darum ging, ob ich bei MUFF POTTER mitmache. Das waren die, die mich interessiert haben, weil das irgendwie die Art von sich Zeit lassen ist, die ich auch mittlerweile bei Musik so wichtig finde. Für mich kann sich das gerne auch noch länger hinziehen. So ein Stück Musik hat eine ganz andere Möglichkeit, sich zu entwickeln über einen längeren Zeitraum. Ich finde es mittlerweile fast schade, wenn ein Song nur dreieinhalb Minuten lang ist. Ich verstehe natürlich, das ist die Idee von Popmusik, in dreieinhalb Minuten alles zu erzählen. Aber ich mag es halt, wenn man sich Zeit lassen kann.
Thorsten: Aber wir sprechen über solche Sachen. Momentan sieht es so aus, dass wir den Song zum ersten Mal beim Deichbrand Festival im Juli live spielen werden. Zu dem Zeitpunkt wird „Nottbeck city limits“ schon erschienen sein, weil wir das als Single auskoppeln werden – was natürlich eine recht unorthodoxe Entscheidung ist, den Sieben-Minuten-Song mit Sprechgesang zur Single zu machen. Der hat im Formatradio natürlich überhaupt keine Chance. Aber trotzdem halten wir den für so relevant, dass wir ihm diese Bühne geben wollen. Aber die Vorstellung, auf einem Festival, wo auch Leute sind, da dann diesen Song zum ersten Mal zu spielen, die Idee macht mich schon ein bisschen nervös. Vielleicht lässt man den da erst mal weg und gibt so einem Song die Möglichkeit, man könnte fast sagen, in einem Safe Space ...
Felix: ... in unserem eigenen ...
Thorsten: ... auf unserem eigenen Konzert zum ersten Mal gespielt zu werden.
In „Nottbeck city limits“ geht es um die miesen Arbeitsbedingungen in der Fleischfabrik von Tönnies. Oelde, wo ihr das Album geschrieben hat, liegt nicht weit von dort. Der Song ist sehr sperrig und für MUFF POTTER doch ungewohnt aktuell und konkret. Wieso jetzt und wieso dieses Thema?
Thorsten: Vor allem die Herangehensweise war für mich ungewöhnlich. Ich habe recherchiert und Interviews geführt. Das mache ich in meiner literarischen Arbeit ständig, für einen Songtext aber war es das erste Mal. Ich habe mit vielen unterschiedlichen Leuten gesprochen, darunter ehemalige Tönnies-Mitarbeiter, Gewerkschafter, die Aktivistin Inge Bultschnieder aus Rheda-Wiedenbrück oder Yulia Lokshina, Regisseurin des Dokumentarfilms „Regeln am Band, bei hoher Geschwindigkeit“. Ich hatte auch ein offizielles Interview mit dem Tönnies-Pressesprecher Fabian Reinkemeier, der kürzlich erst wieder in den Medien war, als er Menschen als „Schwachmaten“ bezeichnet hat, die die Firma Tönnies wegen ihres gezielten Anwerbens ukrainischer Geflüchteter an der polnisch-ukrainischen Grenze kritisiert haben. Vielleicht kommen wir ja auch bald in den Genuss, vom Tönnies-Sprecher als Schwachmaten tituliert zu werden.
Von wegen „es gibt keine schlechte Promo“?
Thorsten: Das ist wirklich unglaublich zynisch von denen. Aber klar, es ist eigentlich nicht mein Anspruch, Tagespolitik in Songtexten zu verhandeln. Ich finde auch eigentlich nicht, dass der Song das macht, es geht um Grundsätzlicheres. Es ist halt so, dass sich der größte Schlachtbetrieb Deutschlands, die Tönnies-Niederlassung in Rheda-Wiedenbrück, nur zehn Kilometer entfernt vom Haus Nottbeck befindet, wo wir die Platte geschrieben haben. Wir waren im Juni 2020 da, als es gerade diesen großen Corona-Ausbruch bei Tönnies gab und der Konzern und seiner Arbeitsbedingungen in allen Medien waren. Endlich mal, muss man ja sagen. Es gibt Aktivist:innen vor Ort, die diese Dinge seit Jahren thematisieren und kaum Gehör finden. Ich habe dann über das Phänomen nachgedacht, wie nah diese Welten beieinander liegen und wie klar sie doch voneinander getrennt sind.
Welche Welten meinst du genau?
Thorsten: Es gibt ja diesen Begriff der Parallelgesellschaft. Der wird meistens von Konservativen und Rechten benutzt, wenn es um Muslime in Deutschland geht. Worüber man ja sprechen kann, aber der Begriff wird immer nur in diese Richtung gebraucht. In Rheda-Wiedenbrück existiert das aber auch. Die zu großen Teilen aus Osteuropa stammenden Tönnies-Arbeiter:innen sollen hier nicht ankommen, sie sollen unsichtbar bleiben und unter sich. Eigentlich wissen alle von den Zuständen bei Tönnies, die sind bekannt. Auf den Landstraßen sieht man jeden Tag aus Rumänien oder Bulgarien stammende Menschen, die von A nach B kutschiert werden und in irgendwelchen Verschlägen im Umland untergebracht sind. Viele schlafen zu sechst oder zu acht in einem Zimmer, die absurd hohen Kosten fürs Etagenbett werden ihnen direkt vom Lohn abgezogen. Das war jetzt kein Skandal, der erst undercovermäßig aufgedeckt werden musste. Es war nur ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr zu ignorieren, weil es auch für Anwohner- und Nachbarschaft zum Thema wurde, sobald es um dieses Virus ging.
Inwiefern hattet ihr als Band mit der ganzen Sache konkret zu tun?
Thorsten: Ich finde es interessant zu sehen, dass eine Band wie wir auf diesem Kulturgut sein und da ihre vermeintlich subversive Musik machen kann, und nur zehn Kilometer weiter herrscht finsterster Manchester-Kapitalismus. Also so, wie Friedrich Engels das im 19. Jahrhundert beschrieben hat, als er über die Arbeitsbedingungen britischer Fabrikarbeiter geschrieben hat, das ist ja wirklich nicht weit davon entfernt. Und diesen Zusammenhang herzustellen und damit auch mal irgendwie zu verorten, worüber reden wir hier eigentlich, wenn wir uns als subversiv oder links oder politisch korrekt inszenieren? Wie gefallen wir uns auch selbst in dieser Rolle? Ich meine damit nicht konkret MUFF POTTER, sondern uns alle. Wo steht man, wie positioniert man sich zu diesen Dingen? Das ist es, worum es mir in dem Song geht. Da kann man ja bei sich selbst anfangen. In dem Moment ließ es sich einfach nicht mehr ignorieren. Vorher ließ sich das ganz wunderbar ignorieren.
Zum Beispiel wenn man in Berlin lebt, kein Fleisch isst, überall Cappuccino mit Hafermilch bekommt und sich meistens in der eigenen Blase aufhält.
Thorsten: Genau. Ich wusste von den Verhältnissen bei Tönnies und anderen Konzernen dieser Art, ich habe mich schon vorher dafür interessiert. Ich bin auch überhaupt nicht der Meinung, dass jeder sich 24/7 mit dem Elend der Welt beschäftigen sollte oder müsste oder überhaupt auch nur kann. Es geht mir darum, Strukturen aufzuzeigen. Ich glaube nicht, dass Clemens Tönnies ein sonderlich sympathischer Mensch ist. Aber das Problem ist nicht, dass Clemens Tönnies böse ist und deswegen Menschen leiden müssen, sondern dass es ein System gibt, das diese Verhältnisse zulässt. Und solange man da nichts an dem System selbst verändert, wird es Menschen geben, die das ausnutzen. Und wenn die Gesetze es ermöglichen, dass da bis zu 30.000 Schweine am Tag von Menschen mit grotesker Unterbezahlung und menschenunwürdiger Unterbringung geschlachtet werden, dann wird das auch weiter passieren. Und dann reicht es halt nicht, irgendwie eine geile Band zu sein und sich dafür abzufeiern, dass man besonders kritische Texte hat.
Ihr habt als Band aber durchaus die Chance, mehr Leute über die Zustände aufzuklären, indem ihr darüber schreibt.
Thorsten: Wir betrachten uns jetzt nicht als Agitprop-Band im Sinne der frühen TON STEINE SCHERBEN oder PUBLIC ENEMY, wo Chuck D ja mal gesagt hat, Rap sei das CNN des schwarzen Mannes. Das ist nicht die initiale Idee, warum wir diese Musik, diese Band machen. Neben den inhaltlichen Aspekten von „Nottbeck city limits“ geht es für mich als Texter, Performer und Sänger auch darum, Ausdrucksformen zu finden, die für mich spannend sind. Als Erstes war die Musik da. Der Song basiert auf diesem repetitiven Bassriff von Shredder. Ich wollte dazu etwas mit einem sich langsam hochschaukelndem Sprechgesang machen und hatte zufällig einen Gedichtband von Rolf Dieter Brinkmann dabei. Den habe ich einfach irgendwo aufgeschlagen und einen Text gefunden, der hundertprozentig auf unseren Track passte, Länge, Stimmung, alles. Daraus wurde das erste Demo des Songs „Schlaf, Magritte“, wie der Titel des Gedichts von Brinkmann. Der ursprüngliche Grund, so eine Art Stück zu machen, war also ein musikalischer. Dann wollte ich inhaltlich aber doch etwas gegenwärtiger bleiben, und dieses komplexe Thema bot sich genau für diesen Song an. Die Bedeutung von politischen Songtexten wird ja auch manchmal heruntergespielt. Für mich als musikalisch in den Achtzigern und Neunzigern in der Provinz sozialisierter Mensch war da aber schon vieles augenöffnend.
Was hat dir die Augen geöffnet, welche Bands waren das?
Thorsten: Zum ersten Mal die DEAD KENNEDYS zu hören und mir die Texte anzugucken, „Holiday in Cambodia“ oder „Soup is good food“. Es gibt noch andere Beispiele, ich bin schon durch Musik oft zum ersten Mal mit bestimmten Ideen in Berührung gekommen. Deswegen würde ich das auch nicht gering bewerten.
Felix: Für mich hat „Nottbeck city limits“ dieses Thema auch erstmals aufgemacht. Ich habe mich dann durch deinen Text erst in die Thematik eingelesen. Das ist eine gute Tradition. Aber ich erinnere mich, dass in den Neunziger Jahren politische Hardcore-Bands oft noch so einen kleinen Appendix in ihrem Textblatt hatten mit weiterführender Literatur zu gewissen Themen. Und das fand ich immer stark.
Thorsten: Oder gleich das halbe Booklet, wie bei PROPAGANDHI.
Felix: Ja! Also ich komme jetzt nicht aus einem unpolitischen Elternhaus, mir sind schon Sachen erklärt worden, die irgendwie vielleicht nicht so geil laufen in der Welt. Trotzdem hat es mich weiter gebracht, wenn mich eine Band auf etwas gestoßen hat.
Ein anderes Thema, das immer wieder auf dem Album auftaucht, ist Selbstoptimierung. Wie sehr macht ihr euch als Band darüber Gedanken?
Thorsten: Als Mensch, der in dieser Gesellschaft lebt, ist es fast unmöglich, nicht davon betroffen zu sein. Egal wie sehr man sich auf intellektueller Ebene damit auseinandersetzt. Weil man halt in dieser Gesellschaft lebt. Und das ist eine instagramisierte Gesellschaft. Auch wenn man selbst nicht bei Instagram ist, hat das trotzdem Einfluss auf das eigene Leben, würde ich jetzt behaupten. Für uns heißt das: 2022 eine Platte rauszubringen ist anders, als 2002 eine Platte rauszubringen oder 1995 eine Platte rauszubringen, weil alle sich viel mehr selbst verkaufen und darstellen müssen durch die Social-Media-Kanäle und durch das Netz überhaupt und diese ganze Interaktion da. Das ist natürlich Arbeit und das kann einen auch fertig machen, wenn man nicht aufpasst. Diese Diskussionen gibt es in fast allen Bands, die ich kenne. Dass man damit einen Umgang finden muss. Wie macht man das? Wer macht das eigentlich wann? Ich habe sowieso mittlerweile ein sehr gespaltenes Verhältnis zu diesem Begriff DIY, weil ich das Gefühl habe, dass er oftmals nur noch als ein romantisierendes Tool benutzt wird, um Selbstausbeutung und Selbstoptimierung zu rechtfertigen.
Aber eigentlich ist DIY ein ermächtigender Begriff.
Thorsten: Der Begriff wird aber häufig eher in so einem FDP-Sinne gebraucht, nicht in seiner ursprünglichen idealistischen Punk-Manier. Klar, hier ist auch mir die DIY-Idee wichtig. Es ist toll, Sachen selbst machen zu können, sich auch als Autodidakt etwas zuzutrauen und sich mit Leuten zu umgeben, die einen inspirieren und deren Sachen man selbst gut findet. Aber mittlerweile geht es oft nur noch darum, dass jeder Unternehmer in eigener Sache sein soll. Und wer das nicht will oder kann, der bleibt auf der Strecke. Das hat auch mit dieser neoliberalen Denke zu tun, die viele von uns komplett verinnerlicht haben. Nachdem wir 2009 „Gute Aussicht“ herausgebracht haben, wollte ich nie wieder selbst eine Platte rausbringen. Das habe ich sogar laut zu dir gesagt, Felix.
Felix: Das hast du auch gesagt, bevor wir jetzt die Platte selbst rausgebracht haben.
Thorsten: Und dann muss man aber natürlich auch gleichzeitig realistisch betrachten, wie hat sich das alles geändert oder was sind die Bedingungen? Ich kann mir natürlich eine bessere Welt vorstellen, die anders funktioniert. Und ich würde sie auch immer propagieren. Und trotzdem muss ich natürlich, wenn ich etwas machen will, gucken, wie kann ich das hier unter den gegebenen Bedingungen umsetzen? Erst nach vielen Treffen mit unterschiedlichen Leuten, und nachdem wir über einen langen Zeitraum immer wieder darüber geredet haben, sind wir zu dem Entschluss gekommen, die Platte doch auf Huck’s Plattenkiste rauszubringen. Wir machen das aber zum Glück nicht ganz alleine, wir haben uns ein Team zusammengestellt mit Leuten, die cool sind.
Felix: Um aber kurz noch mal diesen Bogen zu genau dieser DIY-Idee, die es vielleicht in den Neunziger gab, zurück zu schlagen: Die Struktur ist ja eigentlich gar nicht mehr da für so was. Ich erinnere mich, als ich Anfang, Mitte der Neunziger angefangen habe, in Bands zu spielen, da gab es eben ein Netzwerk. Ich wüsste gar nicht, wo ich dieses Netzwerk heute herbekäme. Klar, ich kenne überall Leute und weiß, wer was macht und so und wer sich wo in der Branche irgendwie betätigt, aber einfach dieses Ding, wir machen eine Platte ...
Thorsten: ... das Wort „Branche“ hättest du aber in den Neunzigern nicht benutzt.
Felix: Nee, das hätte ich auch wahrscheinlich gar nicht gekannt. Diese Möglichkeit, einfach einen Tonträger rauszubringen und sich eine Tour zu buchen oder so ... Klar geht das heute irgendwie, aber die Gegebenheiten, die dieses DIY-Netzwerk möglich gemacht haben, waren damals andere. Das hat auch noch nicht so viel Geld gekostet und alle konnten sich so ein bisschen darauf verlassen, dass dann die Anzahl Platten, die sie gepresst haben, am Ende auch verkauft sind.
Thorsten: Wir waren wirklich total sorglos. Ich habe das ja alles mit Huck’s Plattenkiste gemacht und dabei nie gedacht, dass ich da jetzt echt aufpassen muss, weil mich das eventuell ruinieren könnte oder so, sondern wir haben einfach so dieses Tape gemacht, das hat sich 1.000 mal verkauft. Wir hatten auch keinen Vertrag mit Markus Haas von Per Koro, der unser erstes Album herausgebracht und die Rechte nach der ersten Auflage einfach an uns zurückgegeben hat, weil er meinte, wir verkaufen sowieso den Großteil der Platten selbst bei unseren Auftritten. Komm, wir machen noch mal 1.000 Stück, wir haben doch demnächst Konzerte, und dann kommen halt Leute, die kaufen die schon. Das war eine auf schöne Art naive Herangehensweise.
Felix: Die Kanäle haben eben funktioniert. Und ich glaube, heute ist es ja wirklich so, dass jede Band auf sich selbst gestellt ist oder auf das Team, das sie sich zusammenstellt, oder eben doch auf die Plattenfirma.
Thorsten: Ich finde es total ironisch, dass die Idee einer Plattenfirma heute fast wieder so ein utopisches Moment hat. Eigentlich wirkt das, was man früher aus einer Punk-Perspektive als Kommerz abgelehnt hat, aus heutiger Sicht teilweise schon wieder fortschrittlich. Als wir bei Universal waren, war irgendwie klar, dass wir da nicht zu den Bestsellern gehören, sondern da hat eine Band wie RAMMSTEIN zehn andere Bands mitfinanziert. So funktionieren Buchverlage noch heute. Das ist so eine Mischkalkulation, die da noch funktioniert. Bei Labels ist es vielleicht ein bisschen anders geworden, aber eigentlich ist das ja eine Idee von Umverteilung, dass MUFF POTTER auch davon profitiert haben, dass RAMMSTEIN ein bisschen mehr reinholen. Und nicht nur wir, auch andere Bands.
Felix: Nur dass diese Bands nicht ewig weitergetragen werden.
Thorsten: Irgendwann muss man da dann wieder weg, das war uns auch klar. Aber verglichen mit dieser Einzelkämpfer-Perspektive, über die wir jetzt sprechen, ist das ja eigentlich schon wieder ein quasi solidarisches Modell. Und deswegen habe ich mit diesem Verklären und Romantisieren von DIY so meine Probleme. Weil diese Debatten, die es da gibt, Major vs. Indie oder so, die sind längst nicht mehr zeitgemäß. Das sind dann nur noch Scheindebatten.
Aber kann es auch sein, dass DIY früher in den Neunzigern oder Anfang der Zweitausender noch besser für euch funktioniert hat, weil damals der Gedanke noch nicht so da war, von der Band leben zu können? Wenn man noch ein paar Jahre jünger ist und das alles noch ein bisschen naiver betrachtet, hängt da ja vielleicht nicht so sehr der Lebensunterhalt dran.
Thorsten: Mit MUFF POTTER bestreitet keiner von uns ausschließlich seinen Lebensunterhalt. Alle machen auch andere Sachen. Von daher ist das jetzt nicht so das Ding. Und das war’s früher auch nicht. Natürlich freut man sich, wenn was hängenbleibt und man das auch finanzieren kann, wenn man eine Woche länger im Studio bleiben kann. Das ist ja nicht alles nur irgendwie Geld, was man dann mehr auf dem Konto hat, sondern es ergeben sich dadurch andere Lösungen.
Das ermöglicht es der Band weiterzumachen, klar.
Thorsten: Selbst als kleines Punk-Kid, das mit 16 einen Song gegen Majorlabels geschrieben hat, wollte ich schon immer so viele Leute wie möglich erreichen. Mir ging es dabei nicht um Mainstream. Ich hätte nie gedacht, dass es mal mehr als eine Handvoll Punks geben könnte, die MUFF POTTER hören. Aber trotzdem habe ich mich damals schon dafür interessiert, so viele unterschiedliche Leute wie möglich zu erreichen. Ich fand das immer gut, dass man nicht nur in seiner Nische war, wo alle sich gegenseitig nur gratulieren. Gerade in den ersten Jahren hatten wir ein für eine Punkband relativ ungewöhnliches Publikum.
Inwiefern ungewöhnlich?
Thorsten: Wir hatten zum Beispiel ein weiblicheres Publikum als viele andere Punkbands. Das war auffällig und wir fanden es immer gut, dass unterschiedliche Leute zu unseren Konzerten kommen. Nicht in so einer Ecke zu versauern, wo man nur noch die eigenen Erwartungen oder die des Publikums bedient. Sondern alles mit Freude an der Kunst zu machen und sich selbst und die Leute noch überraschen zu können.
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Zeitleiste zur Reunion
Frühjahr 2018
Thorsten Nagelschmidts Roman „Der Abfall der Herzen“ über seine Jugend in Rheine und die ersten Jahre von MUFF POTTER erscheint. Bei der Buchpremiere in Berlin soll es Live-Musik geben. Er fragt Brami und Shredder an („Sie waren der erste Schlagzeuger und Bassist, die mir eingefallen sind“), auch Felix Gebhardt ist dabei. Zusammen mit Gästen spielen sie ein paar MUFF-POTTER-Songs, aber auch ein Stück von ECHT und eins von BIKINI KILL.
Sommer 2018
MUFF POTTER spielen beim Anti-Nazi-Festival „Jamel rockt den Förster“ – wie alle anderen Bands im Line-up wurden sie vorab nicht angekündigt. Ein paar Tage später veröffentlichen sie Tour-Termine. Außerdem bringen sie mit „Colorado“ eine Raritäten-Sammlung heraus und veröffentlichen ihre Alben „Bordsteinkantengeschichten“, „Heute wird gewonnen, bitte“, „Von Wegen“ und „Stead Fremdkörper“ neu auf Vinyl.
2019
Die erste MUFF-POTTER-Tour seit 2009 ist schnell ausverkauft. Die Band spielt im Sommer auf ein paar Festivals und Ende des Jahres gemeinsam ein paar Shows mit HOT WATER MUSIC. Und dann wurde es wirklich Zeit für neue Songs.
März 2021
MUFF POTTER veröffentlichen mit „Ich will nicht mehr mein Sklave sein“ die erste Single ihres für August angekündigten ersten Albums seit 2009 „Bei aller Liebe“.
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