MASSENDEFEKT

Foto

Weiter, größer, tiefer

Sie werden mittlerweile sofort genannt, wenn es um Bands aus Düsseldorf geht, die sich hinter der Zweierphalanx aus DIE TOTEN HOSEN und BROILERS einreihen. Nicht zuletzt das Album „Echos“, veröffentlicht 2016, bescherte MASSENDEFEKT, neben einem Platz in den Charts, größere Hallen der Kategorie „1000+“ als Bühne, um ihren Punk’n’Roll unters Volk zu bringen. Jetzt erscheint mit „Pazifik“ die nächste Platte, mit der die Band wieder an die rauere Zeit der ersten Tage anknüpfen möchte – so erklärt es zumindest Frontmann Sebastian „Sebi“ Beyer, der mitsamt Kollegenschaft zum Hör- und Gesprächstermin ins Hildener Bandstudio bat. Zum Interview hinzu gesellte sich auch Produzent Tim Schulte.

MASSENDEFEKT kommen aus Düsseldorf respektive Meerbusch. Wir sind hier am Rhein. Nichts könnte weiter entfernt sein als ein Ozean. Warum also heißt das neue Album der Band „Pazifik“?

Sebi:
Der Titel war meine Idee – und lässt sich ganz simpel erklären: Ich habe einfach irgendetwas mit Weite, Größe und Tiefe gesucht. Da passte „Pazifik“ ganz gut. Und das Coverartwork kam recht schnell hinterher. Das Bild haben wir im Netz gefunden. Den Urheber konnten wir nicht ermitteln. Also haben wir es einfach genommen, haha.

Für mich weckt das Bild eines Menschen, der ins Wasser fällt und unter dem sich diese unendliche Weite des Ozeans erstreckt, ein Gefühl der Beklemmung.

Sebi:
Das ist richtig. Kennst du den Film „Die Tiefe“ mit Nick Nolte? Da geht es auch um so was. Beklemmung. Tiefenangst. Ohne Sauerstoff im Dunkeln. Das ist schon krass.

Soweit ich weiß, reist du regelmäßig an den Pazifik und verbringst deinen Jahresurlaub dort ...

Sebi:
So ist es. Aber meine Urlaubsbilder kamen nicht in die engere Cover-Auswahl. Sie wurden leider nicht genommen, haha.

Auffällig an „Pazifik“ ist, dass auch euch schlussendlich der Politsong eingeholt hat. „Zwischen Löwen und Lämmern“ zeigt eine eindeutige Positionierung.

Sebi:
Richtig. Auch wenn wir mit „Besser als die Anderen“ schon auf dem letzten Album „Echos“ ein Stück hatten, das in diese Richtung ging. Aber es war nicht so eindeutig. Dieses Mal jedenfalls dachten wir – mit einer Zeile wie „Egal ist 88“, in Anlehnung an den Nazicode für „Heil Hitler“ – wäre es einfach mal Zeit, so etwas aufs Album zu packen. Einfach ein bisschen mehr zu sagen und sich zu positionieren. Wieder offensiver zu werden. Das ist ja leider wieder nötig geworden. Es ist wichtig, wieder lauter und konsequenter das Maul aufzumachen und nicht alles geschehen zu lassen.

Andere hätten den Song vielleicht sogar als erstes Video und somit als für alle sofort sichtbares Statement veröffentlicht. Ihr dagegen habt mit „Wo ich dich finde“ ein unverfängliches Stück als erste Single ausgewählt.

Sebi:
Ja. Wir haben und bewusst dagegen entschieden, „Zwischen Löwen und Lämmern“ als Single oder Video rauszuhauen. Eben weil das, wie du selber sagst, fast jeder macht derzeit. Wir wollen damit nicht auf irgendeinen Zug aufspringen.

Man kann sagen, dass der Name eurer Band angesichts der derzeitigen politischen und gesellschaftlichen Lage besser passt als je zuvor. Der Massendefekt umgibt einen überall.

Sebi:
Ganz ehrlich: Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Wobei ich das jetzt, wo du es erwähnst, durchaus nachvollziehen kann.

Tim: Der Name hat ja eher mit Physik zu tun, oder?

Sebi: Ja. Ein Massendefekt ist ein Phänomen der Kernphysik. Da geht es um Protonen und Neutronen. Genau weiß ich das aber auch nicht. Ich habe mit dem Bandnamen nämlich nichts zu tun. Ich bin ja erst seit dem zweiten Konzert Mitglied.

Ist das so?

Sebi:
Ja. Das erste Konzert, dieses Benefiz-Ding in Meerbusch, für das sich MASSENDEFEKT ja eigentlich nur einmalig zusammengetan hatten und bei dem Wölli von den Hosen getrommelt hat, habe ich noch als Zuschauer und Kindergartenfreund der anderen erlebt. Ich kam erst kurz darauf als zweiter Gitarrist hinzu.

Wie viel von der Urversion der Band steckt heute, zu „Pazifik“-Zeiten, noch in MASSENDEFEKT?

Sebi:
Ich glaube, wir sind wieder sehr nah an unserer ersten Platte „Tangodiesel“ dran. Unbewusst. Das hat sich so ergeben. Ich fand die beiden Alben zuvor zwar toll, aber ich persönlich wollte es wieder etwas rotziger und dreckiger haben. Nicht so aufgeräumt wie auf „Zwischen gleich und anders“ von 2014 und „Echos“ von 2016. Das war damals gut und cool. Es wäre aber dieses Mal die falsche Wahl gewesen. Als wir die Demos für „Pazifik“ aufgenommen und dafür erst einmal die drei, vier ruhigeren Songs der Platte spielten, hatte ich sogar Angst, dass die neue Platte zu poppig wird. Aber das war dann glücklicherweise nicht der Fall. Wir haben die Kurve gekriegt. Auch weil wir wirklich noch nie so viel Arbeit in ein Album reingesteckt haben wie diesmal. Und auch noch nie unter so viel Druck gearbeitet haben. Das alles spiegelt sich wieder in den Songs und deren Rauheit wieder.

Magst du Pop nicht?

Sebi:
Doch. Absolut. Aber diese, wenn man so will, punkrockige Attitüde, die auf „Pazifik“ wieder drauf sollte, ist in der Popmusik eben nicht vorhanden.

Was bedeutet denn, ihr habt „unter Druck gearbeitet“?

Sebi:
Ganz einfach: Wir mussten die Deadline einhalten und haben es auch tatsächlich geschafft, genau an dem Tag, an dem wir das Master abgeben mussten, auch die Platte fertig zu stellen. Wir haben bis zur letzten Sekunde gearbeitet. Es war so, dass wir ganz am Schluss an diesem und jenem Akkord noch unbedingt etwas ändern mussten, unbedingt dran rumschrauben mussten. Und dann hast du da plötzlich zwei verschiedene Songs oder Songvarianten und musst dich schleunigst entscheiden.

Nun, so geht es wahrscheinlich zahllosen Bands, zig Studenten, Millionen Menschen tagtäglich.

Sebi:
Das ist richtig, haha. Aber ich finde es extrem schade, so zu verfahren. Ich finde es schade, dass man in so einem Fall keine Zeit mehr hat, zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal in Ruhe über die Songs zu schauen. Man kann nicht noch mal sagen: „Okay, hier und da sollten wir uns noch mal dransetzen.“

Das hat aber auch Vorteile: Die Produktion einer Platte wird somit nicht zur Endlos-Angelegenheit, weil man ständig nur ändert und experimentiert.

Tim:
Es wäre trotzdem schön gewesen, zwischen dem kreativen Prozess des Songwritings und Aufnehmens und dem ganzen technischen Kram danach noch einmal in Ruhe in die Songs reinhören zu können. Bei „Pazifik“ war es aber so, dass ich mich stattdessen zwei Monate am Stück dransetzen musste, um das Album zum Mastern bereit zu machen – weil ich diese Zeit des Überprüfens eben nicht hatte. Ich war am Ende sogar so weit, dass ich schon Probleme hatte, Songs und Texte zuzuordnen. Das war grenzwertig. Da machst du nichts. Da ging es mir auch echt nicht mehr gut bei.

Was nehmt ihr euch denn vor, um in Zukunft nicht mehr in eine solche Bredouille zu geraten?

Sebi:
Wie immer: „Nächstes Mal fangen wir wirklich früher an!“ Haha.

Vielleicht habt ihr schlichtweg zu viel Demokratie in der Band.

Sebi:
Ehrlich gesagt: Ja, das ist wirklich so. Wenn allen anderen ein Song gefällt und einer von uns sagt „Nein“ – dann stehen wir da.

Was macht der Produzent in so einem Fall?

Tim:
Der muss dann die Taktik des Aussitzens anwenden, haha. Nach dem Motto: „Okay, Junge. Setz’ dich doch noch mal hin und denk nochmal drüber nach ...“

Wärt ihr denn bereit, die Demokratie in der Band aufzugeben, um Entscheidungen in Zukunft schneller herbeizuführen?

Sebi:
Nein. Es ist gut, dass es diese Demokratie gibt. Am Ende muss jeder von uns mit den Songs zufrieden sein.

Nun, immerhin gibt es auf „Pazifik“ den Song „Feuer und Eis“, in dem es darum geht, dass man sich gerade mit Menschen, die einem nahe stehen, extrem streiten, am Ende aber auch wieder versöhnen kann. Das könnte auch auf eine Band zutreffen.

Sebi:
Klar. Auch wir sind uns ganz bestimmt nicht immer einig. Jeder hat mal Stress mit den anderen. Auch wir fetzen uns – und vertragen uns hinterher wieder. Das gehört dazu. Ohne die anderen geht es eben nicht. Wir machen das gemeinsam. Und wenn es drauf ankommt, dann stehen wir zusammen.

Auch wenn es mal laut wird?

Sebi:
Auch dann. Ich meine, wer hört schon gerne, wenn die anderen einem sagen: „Das, was du da machst, ist scheiße! Das geht so nicht!“? Das kann schon mal binnen einer Minute explodieren.

Wann wurdest du bei den Aufnahmen zu „Pazifik“ laut?

Sebi:
Gar nicht. Aber ich kann dir ein Beispiel aus der Zeit von „Tangodiesel“ nennen: Damals hatte ich für dieses Album einen sehr persönlichen Song geschrieben. In dem ging es um die Beziehung zu meiner Frau, in der es seinerzeit Probleme gab. Und es war schon echt schwierig für mich gewesen, den überhaupt zu Papier zu bringen. Und als ich dann mit dem Text rumging, sagte einer aus der Band, dessen Namen ich jetzt nicht nenne: „Nee, das mache ich nicht. Da habe ich ja gar keinen Bock drauf. Da musst du noch mal ran.“ Ich dachte in dem Moment nur: „Du Arsch. Lass ja deine Griffel von meinem Song. Das ist mein Leben, um das es da geht!“ Das tat echt weh.

Was passierte mit dem Stück?

Sebi:
Ich packe es auf mein Soloalbum, haha.

Tim: Musiker sind in solchen Sachen eben wie kleine Kinder mit all ihren Befindlichkeiten ...

Tim, wo würdest du als Produzent MASSENDEFEKT denn in Sachen „Handlebarkeit“ und „Wohlfühlfaktor“ auf einer Skala von eins, sehr angenehm, bis zehn, extrem schwierig, ansiedeln?

Tim:
Puh, schwer zu sagen. Das hängt von vielen Dingen ab.

Es gibt ja sicherlich Bands, die extrem hartnäckig auf ihrem Standpunkt beharren.

Tim:
Ja, die gibt es. „Das ist meine Idee. Fummel’ mir nicht daran herum!“ Und das ist dann extrem scheiße. Weil ich dann zum reinen Dienstleister werde. Das passt nicht zu meinem Selbstverständnis als Mittler zwischen künstlerischer Arbeit und Produkt. Ich habe es lieber, wenn eine Künstler etwas macht und hinterher zu mir kommt und sagt: „Schau’ du doch noch mal drüber. Was hältst du davon?“ Das ist super. Weil mein Gegenüber mir dann Vertrauen entgegenbringt. Und so ist das auch mit MASSENDEFEKT. Diese Zusammenarbeit macht Bock und ist, nun ja, gut. Auch wenn es dieses Mal am Ende sehr steil hochging mit der Spannungskurve.

Sebi: Tim ist allerdings auch ins Songwriting bei uns involviert – und macht seit jeher unseren Livesound. Das darf man nicht vergessen. Er ist quasi Teil der Band.

Im Song „In/die Hölle“, der sehr an KRAFTKLUB erinnert, singt ihr sehr ironisch „Ich scheiß’ auf Punkrock, ich mach’ das nicht mehr mit!“ Sind MASSENDEFEKT noch Punkrock – oder es je gewesen?

Tim:
Darüber haben wir uns auch sehr oft unterhalten.

Sebi: Unser erstes Album „Tangodiesel“ ist definitiv ein Punkrock-Album. Aber wir sind keine Punks. Und ich würde mittlerweile auch nicht sagen, dass wir Punkrock machen. Wir haben dafür unseren eigenen Begriff erfunden: Punk’n’Roll. Das trifft es. Punk ist häufig ja immer das Gleiche. Wir aber wollen uns nicht stetig wiederholen. Wir sitzen nicht umsonst so lange an unseren Songs. Wir probieren aus und schauen, wie wir immer wieder etwas Neues auf die Beine stellen können. Aber es darf nicht zu weit gehen.

Tim: Sonst kommt etwas dabei heraus wie bei CALLEJON, mit denen ich auch zu tun habe. Die haben als Metalband angefangen, zuletzt aber mit „Fandingo“ ein Album veröffentlicht, das ganz andere, poppigere Einflüsse hat. Und das ist nach hinten losgegangen.

Sebi: Und ich kann das verstehen. Ich kann verstehen, dass die Leute, die eine Platte kaufen, auf deren Hülle der Name ihrer Lieblingsband steht, auch die Musik dieser Lieblingsband, wie sie sie kennen, hören wollen, wenn sie die Platte auflegen.

Wie weit würdet ihr euch denn von euren musikalischen Wurzeln entfernen?

Sebi:
Es käme uns gar nicht in den Sinn, ein komplett anderes Ding zu machen. Wir probieren zwar gerne aus. Wir experimentieren gerne. Aber ein Freund von mir sagte mir neulich mal: „Man hört euch trotzdem immer raus.“ Und das finde ich toll. Das ist genau das, was wir erreichen wollen. Wir entwickeln uns ja auch technisch weiter. Ich arbeite an mir als Gitarrist und Sänger. Tim holt mitunter die tollsten Sachen aus uns raus. Die Erfahrung aus Konzerten und Songschreiben fließt stetig rein in unsere Musik. Ich freue mich jedes Mal wie ein Wahnsinniger, wenn ich sehe, dass wieder etwas Neues klappt.

Tim: Ich denke, angesichts dieser Dinge merkt man ganz schnell, um mal auf das Punk-Ding zurückzukommen, dass man nicht ewig dieses symbolische Punk-Shirt tragen kann. Man kann ja nicht immer nur wütend sein. Es gibt so viele Facetten.