So lange ist meine letzte Unterredung mit Enrico über sein Herzensprojekt, die unermüdlich tourenden und aus der Szenelandschaft nicht wegzudenkenden LOS FASTIDIOS, noch gar nicht her. Aber zwei Jahre sind zwei Jahre, und weil in der Zwischenzeit nicht nur allerhand neue Songs entstanden sind, sondern sich auch genügend ernste Themen als Gesprächsstoff förmlich aufdrängen, ist ein Update in puncto Punk made in Verona natürlich Pflicht! Außerdem habe ich das Gefühl, dass LOS FASTIDIOS mit ihrem energischen Drang nach Gerechtigkeit und Menschlichkeit nie relevanter waren, denn in Zeiten, in denen europäische Werte und Demokratien gefährlich erodieren, es nicht nur an den Rändern der Gesellschaft gärt, ist jede Stimme, die die Welt für Mensch und Tier besser machen will, ausgesprochen wertvoll. Der allgemeinen Weltuntergangsstimmung zum Trotz ist das neue, sehr hörenswerte Album mit „Joy Joy Joy“ betitelt. Was dahintersteckt, erzählt der Bandleader in gewohnt offener und persönlicher Art.
Enrico, euer neues Album trägt den schönen Namen „Joy Joy Joy“. Es scheint in deinem Fall so zu sein, dass der Spaß im Leben, beim Musizieren trotz der allgemeinen Ungerechtigkeit und Probleme auf unserem Planeten nicht auf der Strecke bleibt. Oder bist du zynisch?
Seit jeher denke ich, dass Musik in erster Linie Spaß macht, Spaß machen soll. Dieses Album ist in mancher Hinsicht die perfekte Fortsetzung unseres letzten, „The Sound Of Revolution“ von 2017. Musik bedeutet mir viel, Musik hilft mir jeden Tag, mein Leben besser zu leben. Musik kann jedem von uns auch noch im schlimmsten Augenblicken seines Lebens helfen. Jeder Moment meines Lebens hat einen Song, jede Erinnerung hat einen Song, ein guter täglicher Soundtrack ist die beste Medizin, um die Schwierigkeiten anzugehen. So kann „Joy Joy Joy“ eine Hymne auf all das sein, indem es mit einer positiven Einstellung die ganze Scheiße, die um uns herum passiert, anspricht. Auch in den letzten Jahren habe ich viele Menschen gesehen, die, obwohl sie kein leichtes Leben haben, immer bereit sind zu lächeln, zu tanzen bei der Revolution. Das ist die beste Antwort auf die Ungerechtigkeiten, und Musik kann Hoffnung bringen. Ich habe Frauen und Männer lächeln und auf den Barrikaden singen sehen. Musik kann helfen, den Geist zu öffnen, die Herzen zu öffnen ... und wir hoffen, auch die Häfen öffnen zu können, damit niemand mehr im Mittelmeer ertrinken muss!
Woher kommen eure Inspiration und euer Esprit?
Zuerst einmal muss ich mich da bei meiner Freundin Elisa bedanken, die mir jeden Tag viel Energie und Begeisterung für unser Musikprojekt gibt. Zusammen mit ihr teile ich jeden Moment meines Lebens, einschließlich des Jobs. Sie ist die Mitinhaberin unseres Labels und der Agentur KOB Records. Sie half mir immer, Schwierigkeiten mit einem Lächeln zu begegnen und vor jeder Veranstaltung positiv zu sein. Ich habe wirklich Glück, denn ich kann mit unserer Musik die Welt bereisen und überall treffe ich auf die gleichen leuchtenden Augen, fühle die gleichen Herzen schlagen rund um den Globus ... Ich kann von überall her die Stimmen meiner Schwestern und Brüder hören, die für die gleichen Werte einstehen, den Kampf für Menschen- und Tierrechte. Das ist meine Inspiration, meine Energie. Ich fühle mich als Teil einer großen internationalen Familie, einer großen Crew, Menschen mit dem gleichen Lebensstil, der gleichen positiven Einstellung, gegen das System, das auf Lügen basiert und uns klein hält, und das die Wahrheit tötet!
Du konntest einige „Stargäste“ für „Joy Joy Joy“ ins Studio schleppen.
Wir haben einige sehr gute Freunde auf diesem Album dabei – ich bin so glücklich und stolz darauf. Ich hätte mir noch mehr von ihnen gewünscht, denn wir haben viele Freunde, Musiker auf der ganzen Welt. Wir haben hier vier italienische Gäste und drei internationale Gäste. Zuerst habe ich einen wirklich schönen 2Tone-Ska-Song zusammen mit Elisa. Es war nicht das erste Mal, es gab da schon mal eine EP ... Neben unserem Stammgast De Veggent von REDSKA, der mit seinem Keyboardsound drei Songs verfeinert und auch bei unseren beiden vorherigen Alben mit an Bord war, sorgt Giotanni von ASHPIPE für einige großartige Geigenparts. Unsere SKASSAPUNKA-Freunde steuerten den Background-Gesang zu vielen Songs des Albums bei und der Rapper DJ Koma aka Mauràs liefert eine coole Rap-Einlage bei „Il suono della strada“. Zu unseren internationalen Gästen: Zusammen mit Elf und Dirk von SLIME gibt es den allerersten LOS FASTIDIOS-Song auf Deutsch. Bitte verurteilt mich nicht wegen meines lustigen italienischen Akzents, hahaha. Ein wirklich schöner Punkrock-Song, der Politikern gewidmet ist, die nur reden, statt die Probleme unseres Planeten zu lösen. Außerdem haben wir auf dem Album einen weiteren, wirklich besonderen Gast. Manchmal werden Träume wahr ... mein Lieblingssänger aller Zeiten. Ich spreche von Paul Heaton, Sänger der legendären THE HOUSEMARTINS und THE BEAUTIFUL SOUTH. Paul singt bei „I have a dream“, es geht um unsere Träume von einer Welt mit mehr Gerechtigkeit, Respekt und Frieden für alle. Ich bin ein Träumer und dieses Album ist für mich mehr als nur ein Traum.
Auf der einen Seite gibt es reaktionäre Euroskeptiker und Neofaschisten, die überall aus der Gosse kriechen, ein gewisser Herr Salvini versucht sein Glück als Chef von Italien, auf der anderen Seite gibt es viel Hoffnung, Stichwort „Fridays for Future“. Eure Wahrnehmung aus veronesischer Sicht, wo sich erst kürzlich Hunderte von fanatischen Christen trafen?
Um ehrlich zu sein, konzentriere ich mich lieber auf die positiven Seiten dieser verrückten Welt. Es war fantastisch, in den Straßen meiner Heimatstadt Verona etwa 80.000 Menschen zu sehen, die gegen das fanatische, rassistische, homophobe, sexistische christliche Treffen demonstrieren, das vor kurzem hier stattfand. Das war die beste Antwort auf die neue Lehre über die „traditionelle Familie“ im Namen der Religion und auf die rassistische Politik der ganzen Salvini-Bande. Ein beeindruckendes Statement! Während dieser Demo spielten wir auch ein paar Lieder, mit Tausenden von Gleichgesinnten, die auf der Straße unterwegs waren und stolz mitsangen. Es ist toll, so viele Menschen zu sehen, Initiativen, die sich wirklich einsetzen für Migranten und Flüchtlinge, unsere Schwestern und Brüder, die an der italienischen Küste landen. Und es ist so großartig, die junge Generation zu sehen, die sich an den „Fridays for Future“ beteiligt, die Kinder sind bereit zu kämpfen, um den Planeten zu retten. Die Kinder sind bereit, die Straßen zurückzugewinnen, die Kinder sind bereit, sich für ihre Rechte einzusetzen. Sie sind die Zukunft und die Zukunft gehört ihnen. Ich denke wirklich, dass in einer Welt, in der alles unterzugehen scheint, es überall viele positive ermutigende Bewegungen gibt. Es ist wichtig, etwas zu tun, alles zu tun, was wir können, alles für diese Welt, für den Respekt füreinander, für Solidarität ... Alles, was wir für diese Welt tun, ist in erster Linie für uns, für eine bessere Zukunft. Es ist großartig, viele Menschen zu sehen, viele junge Menschen in allen Ländern, die sich in diese Richtung bewegen. Es bedeutet nicht, dass wir gewinnen werden, aber es bedeutet, dass die Rassisten und Faschisten, die Feinde des Planeten, es schwerer haben werden.
Du bist immer in Bewegung. Wie nehmt ihr Europa und die Welt im Moment unter Berücksichtigung der genannten Punkte wahr und wie wirken sich soziale Tendenzen und/oder Phänomene, wie der Brexit, die Gelbwesten auf Szenenorte und das Publikum aus? Ist dies auch im Small Talk vor und nach Auftritten erkennbar?
Ich liebe es, mit den Leuten vor und nach den Konzerten zu sprechen, ich denke, es ist die beste Möglichkeit, die verschiedenen Länder, die Menschen, die lokalen sozialen Tendenzen kennen zu lernen ... Überall, wo wir hingehen, in allen Ländern, sagen die Leute, dass besorgniserregende nationalistische Winde wehen, die Länder schotten sich ab, es werden wieder Mauern gebaut in der Welt, gibt wieder strenge Grenzkontrollen, die Menschen überall haben Angst. Aber trotzdem finde ich überall eine positive Einstellung bei den Leuten und Menschen, die bereit sind, sich den Protesten anzuschließen, weil sie erkennen, dass das System sie wie Objekte und nicht wie Menschen behandeln will. Ich vertraue auf die Menschen und auf den gemeinsamen Widerstand. Und für uns als Band ist es wirklich wichtig, dies zu unterstützen. Und es ist schön zu sehen, dass unsere Musik oft der Soundtrack ist für die verschiedensten Protestbewegungen überall.
Apropos, auf deiner letzten Tour durch Deutschland bist du in eine seltsame Diskussion über politische Themen verwickelt worden. Kannst du uns sagen, was passiert ist?
Die Leute, die mich kennen, wissen, dass ich auf alles, was ich tue, sehr genau achte. Wenn ich mich entscheide, etwas zu tun, habe ich mir das vorher immer sehr genau überlegt. Und wenn ich Dinge tue, bin ich bereit und offen für Kritik. Ich denke, es ist immer wichtig, zu versuchen, die verschiedenen Standpunkte zu verstehen. Als Band haben wir grundsätzlich eine streng antirassistische, antifaschistische, antisexistische, antihomophobe Position bezogen. Wir haben schon viele Shows abgesagt, weil dort teils fragwürdige Bands gespielt haben, noch vor kurzem auf der Tour in Lateinamerika. Gleichzeitig denke ich, dass sich alles ändern kann, Menschen können sich ändern. Und ehrlich gesagt, wenn ich eine positive Veränderung bei etwas oder jemandem sehe, ist es für mich nicht möglich, sie zu boykottieren, nur weil in der Vergangenheit jemand etwas falsch gemacht hat. Und dementsprechend habe ich mich verhalten ... Wenn jemand beziehungsweise eine Band eine unmissverständliche antirassistische, antifaschistische, antisexistische, antihomophobe Haltung vertritt, ist es für mich okay und ich kann sie nicht boykottieren. Ich bevorzuge es immer, persönlich mit den Leuten zu sprechen, bevor ich sie beurteile. Es war schön zu sehen, wie viele Leute meinen Standpunkt wirklich verstanden haben. Gleichzeitig bin ich immer offen, mit denen zu sprechen, die mehr Erklärungen über unsere Entscheidungen benötigen. Das persönliche Gespräch mit den Menschen, mit den Bands, mit den Veranstaltern ist der beste Weg, um sie und ihre Sicht der Dinge besser oder überhaupt zu verstehen. Abgesehen davon bin ich ziemlich geübt darin, mit Diskussion und Kritik umzugehen. Der Song „A message pour toi“ handelt davon: alle paar Wochen bekomme ich eine Nachricht von jemandem, der etwas kritisieren möchte, jedes Mal lasse ich mich auf die Diskussion ein, aber wenn das erledigt ist, kommt schon die nächste. Weißt du, nur wenn du etwas tust, können Leute Dinge finden, die sie kritisieren können, und ich bin immer am machen. So ist mein Leben.
Der letzte Track „You“ ist eine klare Liebeserklärung, auch andere Texte sind sehr persönlich. Diese Note steht euch sehr gut. Family first?!
Der Song „You“ ist mein ganz persönlicher Dank an die große internationale LOS FASTIDIOS-Familie. Mein Dank an alle, die mich unterstützen, von meiner Freundin Elisa bis zu allen Freunden überall auf der Welt, sie alle sind auf mein Herz tätowiert. Es gibt noch ein weiteres Liebeslied auf dem Album, „BMX punx“, das von meiner jüngeren Tochter Lisa handelt. Ich habe den Song für sie geschrieben, sie war BMX-Bike-Champion und liebt Punkrock. Aber er ist auch meinen beiden Söhnen Alma und Pedro gewidmet, zu denen ich leider seit einigen Jahren ein schwieriges Verhältnis habe ... Ich habe diesen Song geschrieben in der Hoffnung, in Zukunft eine bessere Beziehung zu ihnen zu finden.
Weitere zentrale Themen des Albums sind Solidarität. Woher kommt diese Motivation?
Alle Inhalte auf dem Album drehen sich um mein Leben. Ich habe alle Texte geschrieben, außer den von „Get the ball rolling“, der ist von Ciacio, unserem Bassisten. Ganz ehrlich, ich wollte nie ein passives Leben führen, ich denke, wenn man nichts tut, kann man auch nichts mehr verlangen. Und man sollte nicht in der Hoffnung leben, es reiche, sich zurückzulehnen und zu warten. Also ziehe ich es vor, meinen Arsch hochzukriegen und meinem „Rocksteady Beat“ zu folgen ... es wird mich dorthin bringen, wo ich gebraucht werde.
Italien scheint, wie die Hälfte der westlichen Welt, in zwei unvereinbare politische Lager geteilt zu sein. Glaubst du, dass Kompromisse und Argumente noch eine Chance haben, oder wird sich der Konflikt verschärfen? Ich meine, irgendwie muss man in einer Demokratie einen Weg finden, oder?
Offen gesagt denke ich, solange es den Politikern erlaubt ist, rassistische Botschaften zu verbreiten, wird es keinen Weg für eine Demokratie in Italien und in weiten Teilen der westlichen Welt geben. Eine Demokratie kann nur dort existieren, wo man sich mit Respekt begegnet. Ich denke, es wird nicht möglich sein, einen Kompromiss mit Politikern/Ministern zu finden, die Menschen im Mittelmeer sterben lassen oder die die Vorherrschaft einer Rasse und Religion predigen. Aber ich glaube an die Bewusstseinsbildung der Menschen, ich glaube an Bildung, an die Revolution, die von unten kommt, ich glaube an die Stärke der Tausenden von Vereinigungen, Gruppen, Kollektiven, die sich überall auf der Welt bewegen und arbeiten, ich glaube, dass die wahre Einheit all dieser Stärken die Zukunft sein könnte, ich bin ein Träumer, und ich weiß, dass Träume oft wahr werden.
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