LOS FASTIDIOS

Foto© by Rodrigo Melian

Emotionen, Erfahrungen und neue Bekanntschaften

Ende März und Anfang April waren LOS FASTIDIOS aus Verona in Norditalien auf der „Latino America Tour 2023“ durch Brasilien, Uruguay und Argentinien. Bandgründer/sänger und KOB Records-Labelmacher Enrico führte für das Ox Tagebuch bei dieser Kilometerfresserei durch drei Länder Südamerikas.

Mittwoch, 22.03.

Am frühen Nachmittag dieses ersten Mittwochs im Frühling machen wir uns, beladen mit Gepäck und voller Enthusiasmus, von Verona aus auf den Weg zu der am sehnlichsten erwarteten und aufregendsten Südamerikatournee, die LOS FASTIDIOS je erlebt haben: acht Konzerte in Brasilien, Uruguay und Argentinien. Wir fahren mit unserem Van nach Lainate bei Milano, wo Elisa und ich Mattia – unser Freund und Schlagzeuger von SKASSAPUNKA, der unseren Gelo ersetzen wird, der wegen eines Passproblems auf dieser Tour nicht dabei sein kann – und die beiden anderen Bandmitglieder Ciacio und Bibol mit dem Auto aus Cesena ankommen. Wir haben eine letzte Session im Proberaum, ein Abendessen und eine Übernachtung in Lainate geplant, da wir am nächsten Morgen in aller Frühe vom Mailänder Flughafen Linate abreisen werden.

Donnerstag, 23.03.
Aufwachen um 3:30 Uhr, im Van zum Flughafen und um 6:50 Uhr heben wir von Milano nach Paris ab, um 10:25 Uhr haben wir die Verbindung Paris-São Paulo, und nach zwölf Stunden Flug landen wir um 22:25 Uhr, also 18:25 Uhr Ortszeit in Brasilien. Die Außentemperatur beträgt etwa 26 °C. Auf uns warten Junior und Dementi, die nicht nur Bassist beziehungsweise Gitarrist der brasilianischen Band JUVENTUDE MALDITA sind, sondern auch die Konzertagentur Rebel Music betreiben, die unsere Südamerikatour organisiert. Junior und Dementi haben auch ein Aufnahmestudio in São Paulo, im lebhaften Stadtteil Lapa. Genau dorthin bringen sie uns. Für die ersten brasilianischen Konzerte dieser Tour wird die Studiowohnung für die nächsten Tage unsere Basis sein. Die erste Nacht verbringen wir alle fünf in der Wohnung, bevor Mattia, Bibol und Ciacio ab dem nächsten Tag in ein Hotel etwa einen Kilometer vom Studio entfernt umziehen.

Freitag, 24.03.
Wir wachen am späten Vormittag auf und nutzen die durch den Wechsel der Zeitzone gewonnenen Stunden (Brasilien liegt vier Stunden hinter Italien zurück, ab nächste Woche sind es fünf Stunden, da die Sommerzeit, die in Europa am Sonntag beginnt, hier vor ein paar Jahren abgeschafft wurde). Wir machen einen Rundgang durch das Viertel, in dem es auch den größten Markt der Stadt gibt, mit Dutzenden von kleinen Läden, Bars und Ständen. Um 17 Uhr fahren wir mit dem Auto nach Santo André, eine „kleine“ Stadt mit etwa 700.000 Einwohnern im Bezirk der Metropole São Paolo. Um dorthin zu gelangen, fahren wir über das unendliche São Bernardo-Viadukt, das anscheinend in den nächsten Jahren abgerissen werden soll. Unter dem Straßenviadukt, das einen großen Teil der City durchquert, lebt eine Vielzahl von Obdachlosen – wie in einer eigenen Stadt mit sehr prekären Verhältnissen. Wir brauchen etwa zwei Stunden für die fünfzig Kilometer lange Strecke, der Verkehr in São Paolo ist unglaublich.
Gegen 19 Uhr kommen wir im 74 Club an, einem wunderschönen Veranstaltungsort in Santo André, der sich über zwei Etagen erstreckt: Konzertsaal im unteren Stockwerk, Rockbar mit großer Terrasse in der oberen Etage. Mit uns spielen, bei diesem ersten Konzert der Tour, die beiden brasilianischen Bands AVANTE und 88NÃO. Wir haben schon früher mit 88NÃO gespielt und das Kuriose daran ist, dass jetzt Vater und Sohn in der Band sind, jeweils am Schlagzeug (der Vater und Gründer der Band) und an der Gitarre (der Sohn). Im Club treffen wir zwei liebe Freunde, Di und Lee aus Manchester, Großbritannien, die es für sich organisiert haben, jedes einzelne Konzert von LOS FASTIDIOS in Lateinamerika zu besuchen. Ein lokaler Fan der Band hat sich um unser veganes Abendessen gekümmert und ein typisch brasilianisches Gericht zubereitet: Reis mit Bohnen und Maniok – ausgezeichnet.
Nach dem Essen treffen wir auch Gilbert vom D’Outro Lado-Vertrieb, mit dem wir seit einigen Wochen in Kontakt stehen. Er bringt uns die Tour-Shirts, die wir in São Paulo haben drucken lassen, und der erste Termin der Tour kann offiziell beginnen! Das zahlreich anwesende Publikum reagiert schon mit großer Begeisterung auf den Auftritt der beiden Vorbands und explodiert dann, als wir die Bühne betreten. LOS FASTIDIOS waren in Lateinamerika schon immer sehr beliebt (dies ist unser drittes Mal in Brasilien). Die Dutzenden von inoffiziellen Shirts, die im Raum zu sehen sind, bedeuten eine große Genugtuung. Das eine Stunde zwanzig dauernde Set beenden wir stilvoll mit unserem Ska-Medley, das wir dem großartigen, kürzlich verstorbenen Terry Hall widmen, inmitten der Begeisterung und der Emotionen des anwesenden Publikums. Wir hätten die Tour nicht besser beginnen können. In der Nacht kehren wir nach São Paulo zurück. Obrigado, Santo André!

Samstag, 25.03.
Aufwachen um zehn Uhr, Frühstück im sonnendurchfluteten Garten, Bearbeitung des Videotourtagebuchs vom Vortag für unsere Social-Media-Profile und dann ein Spaziergang zur Markthalle im Lapa-Viertel, bevor der von nun an tägliche Bierstopp in der Bar unseres Vertrauens in der Nachbarschaft ansteht. Um 16 Uhr sind wir mit den anderen Jungs der Band in unserer Wohnung verabredet, um mit zwei Autos nach Rio Claro ins Hinterland des Bundesstaats São Paulo zum zweiten Konzert dieser Tour zu fahren. Die Veranstaltung heißt „Grito Antifascista“. Wir kommen etwas verspätet im Club Espaco King an, da haben wir die ersten beiden Bands THE BREED und BELLARE leider schon verpasst, KOLAPSO NERVOSO haben bereits angefangen. Sie sind eine gute Paulista-Streetpunk-Band, die dann Platz macht für ATAQUE À JUGULAR, die wir schon von früher kennen, auf die die lokale Band THE RESISTENTES folgt, die den immer voller werdenden Raum mit einigen exzellenten Coversongs von THE JAM und COCK SPARRER noch mehr aufheizen. Die Atmosphäre ist aufgeladen, das Publikum ist von unserer Anwesenheit begeistert. Als wir an der Reihe sind, wird das Konzert, trotz eines Problems mit dem Schlagzeugpedal, zu einem brodelnden Pit. Der ganze Saal tanzt und singt unsere alten und neuen Hymnen mit, trotz der sehr hohen Temperatur und der unfassbaren Luftfeuchtigkeit im Raum. Der Abend ist eine einzige Party, wir haben eine Menge Spaß und der Applaus gebührt den Jungs, die die Veranstaltung völlig selbstständig organisiert haben. Es war die erste Musikveranstaltung an diesem Ort. Nach ein paar Bierchen kehren wir nach São Paulo zurück. Obrigado, Rio Claro!

Sonntag, 26.03.
Heute ist der große Tag in São Paulo, ein mit Spannung erwartetes Ereignis. Nach einem schönen Frühstück im Garten unserer Wohnung brechen wir um 13 Uhr in Richtung Jai Club auf, der etwa eine halbe Stunde von unserer Basis in Lapa entfernt liegt. Schon in den frühen Nachmittagsstunden füllt sich der Außenbereich des Clubs mit einer großen Anzahl von Skinheads, Rude Boys & Girls und Punkrockern, die aus der ganzen Region und darüber hinaus gekommen sind. Es ist wunderbar, alte Freunde wieder zu treffen, und ebenso schön, so viele neue Rudies kennen zu lernen, mit denen wir anstoßen, Erinnerungsfotos machen und die uns Dutzende von Geschenken überreichen: Shirts, Sweatshirts, Fahnen, Schals von Bands, Fußballmannschaften, Kollektiven. Wir stellen fest, dass wir zwei weitere Koffer brauchen werden, um all die Geschenke, die wir auf dieser Tour erhalten, nach Italien bringen zu können.
Schon vor dem Club steigt die Begeisterung ins Unermessliche. Die Türen öffnen sich um 16:30 Uhr und sofort bringt das DJ-Set der Bovver-Crew aus São Paulo mit einer schönen Auswahl an Ska-, Rocksteady-, Skinhead-Reggae-Scheiben den ganzen Raum zum Tanzen. Die Location füllt sich weiter, über 300 Leute, die sehr aufgeregt sind und schon bei der ersten Band – alten Bekannten von uns, den SKAMOONDONGOS, mit militantem, ultra-engagiertem Ska-Punk – den Jai Club zum Explodieren bringen. Nach ihnen komme die Steetpunker BELLARE und dann die Lokalmatadore JUVENTUDE MALDITA, die mich nach ein paar Stücken auf die Bühne rufen, um ihre punkige Reggae-Version von Jimmy Cliffs „The harder they come“ zu singen. Denn 2015 hatte ich diesen Song mit ihnen hier in São Paulo aufgenommen, in einer portugiesisch-italienischen Version. Der Raum ist voll, es ist Zeit für LOS FASTIDIOS. Wir legen im vierten Gang los und vor der Bühne geht es vom ersten Picking an hoch her, ein ständiges Skanken, Moshen und wiederholtes Stagediving.
Jeder Song, auch die neuen Tracks von „Revolt“, werden vom gesamten Publikum lauthals mitgesungen und als Elisa, die nach der Hälfte des Konzerts die Bühne betritt, die ersten Töne von „Beverley“ anstimmt, kommen nach einer Ansage gegen Sexismus und Machismo viele der anwesenden Rude Girls auf die Bühne und tanzen und singen den gesamten Song mit. Schon bei diesen ersten Konzerten merken wir, dass die weibliche Präsenz in der Szene zugenommen hat und viel stärker geworden ist als noch vor ein paar Jahren. Viele Frauen haben uns gesagt, dass der „Machismo“, der in der Szene sehr präsent war, stark zurückgegangen ist und Frauen jetzt immer mehr zu einem grundlegenden und aktiven Teil der Bewegung werden. Rude Girl Power rules OK! Das Konzert geht ohne Pause weiter, auf und vor der Bühne, es ist ein Knaller, eine Party, viel mehr als ein normales Konzert, ein wunderbares Erlebnis. Der Abschluss mit dem Ska-Medley, wieder im Gedenken an den großen Terry Hall von THE SPECIALS, und einer Ska-Version von „Antifa hooligans“ ist „Gänsehaut pur“. Überwältigende Gefühle sowohl im Publikum als auch bei der Band. Eindrücke, die für immer in die Herzen und Köpfe aller Anwesenden eintätowiert bleiben werden. Nach dem Konzert werden Trinksprüche und Erinnerungsfotos ausgetauscht, der Merchandise-Tisch wird gestürmt. Danach bauen wir alles ab und kehren mit ein paar Taxis zu unserem Hauptquartier zurück. Ein weiterer glorreicher Tag, ein neues Stück Geschichte in der Biografie von LOS FASTIDIOS. Obrigado, São Paulo.

Montag, 27.03.
Ein Offday, ein Ruhetag, an dem der Vormittag der Bearbeitung der vielen Videos für das Tourtagebuch vom Vortag gewidmet ist. Diese kurzen Dokumentationen, hergestellt von der unermüdlichen Elisa, werden von den Fans der Band immer sehnsüchtig erwartet. Das Feedback vom Vorabend ist unglaublich, Dutzende von bewegenden Nachrichten, Dutzende von Geschichten in den sozialen Netzwerken. Was soll ich sagen, wir haben unsere Spuren hinterlassen. Nach der täglichen Arbeit am Computer gehen wir raus, um den freien Tag zu genießen. Wir sind mit unserer Freundin Alexandra Morphose im Studio der Tattoo Positive Foundation verabredet, das sich etwa sechs Kilometer von unserer Unterkunft entfernt im Stadtteil Pinheiros befindet. Elisa und ich gehen zu Fuß dorthin, ein schöner Spaziergang durch die Straßen von São Paulo. Im selben Gebäude wie der Tattoo-Laden befindet sich auch ein Handwerksbetrieb, der sich der Herstellung von brasilianischen Trommeln widmet, die von Straßenkünstlern entworfen und bemalt werden. Zeit für ein Tattoo für mich und Elisa, eine Tasse Kaffee, und nachdem wir uns von Alexandra und Cauê verabschiedet haben, gehen wir zurück ins Lapa-Viertel auf ein paar Bier in unserer Lieblingsbar.

Dienstag, 28.03.
Aufwachen, Morgenspaziergang und eine Runde Proben in Juniors Proberaum, für das Akustikkonzert, das wir am Abend in São Paulo geben werden. Um 18:30 Uhr Abfahrt zum Estúdio Lâmina, zehn Kilometer Weg, nach vierzig Minuten erreichen wir das Zentrum von São Paulo, den ältesten Teil der Stadt, und einen Platz, der von alten Gebäuden umgeben ist. In einem davon befindet sich im vierten Stock das Estúdio Lâmina, ein wichtiger sozialer, politischer und kultureller Ort der Stadt, von dessen Terrasse aus man einen schönen Blick auf den Platz hat. Ein Labyrinth aus Gängen und verschiedenen Räumen, darunter auch ein Tanzsaal, in dem die Bovver-DJ-Jungs mit einer schönen Auswahl an Punkrock und Ska alle Anwesenden, die auf unser für 21 Uhr angekündigtes Akustikkonzert warten, zum Tanzen bringen. Die Konzerthalle ist sehr voll und die Leute voller Energie und bereit, während unseres gesamten Sets lautstark mitzumachen. Ein wunderschönes Konzert, das starke Emotionen hervorruft, wie es das akustische Set von LOS FASTIDIOS eigentlich immer tut. Das Publikum singt auch die brandneuen „Revolt“-Songs lautstark mit, und explodiert bei „Rabbia dentro al cuore“, „I don’t wanna say to you goodbye“, „Historia triste“, „Antifa hooligans ska“ und „Ska medley“.
Der Abend endet mit einer exzellenten Musikauswahl der DJs, Erinnerungsfotos und einem Trinkspruch mit allen Anwesenden, bevor wir unsere Fahrzeuge wieder beladen und sehr glücklich und zufrieden in Richtung Lapa aufbrechen, um unsere Sachen zu packen und ein paar Stunden zu schlafen. Morgen werden wir São Paulo verlassen, um unsere Tour fortzusetzen – was soll ich sagen, wir werden São Paulo vermissen. Es ist das dritte Mal, dass wir die südamerikanische Metropole besuchen und immer fällt uns der Abschied schwer. Außerdem sind wir dieses Jahr auf noch mehr Begeisterung in der Paulista-Szene gestoßen. Das letzte Mal, 2018, waren wir kurz vor den Wahlen hier, die den Faschisten Bolsonaro an die Macht brachten. Damals herrschte große Anspannung und berechtigter Sorge, was in Zukunft passieren würde. Diesmal ist die Situation sicherlich gelassener und positiver. Die Regierung Lula hat den Enthusiasmus und die Hoffnung wiederhergestellt. In São Paulo gibt es wenig Historisches zu besichtigen, aber es gibt so viele wunderbare Menschen zu treffen, mit denen man reden und von denen man viel Neues lernen kann. Eines der interessantesten Dinge, die ich in diesen Tagen gehört habe, ist, dass es die Faschisten in Brasilien schon vor der Bolsonaro-Regierung gab, aber jetzt haben sie endlich einen Namen: Bolsonaristi. Obrigado, São Paulo!

Mittwoch, 29.03.
Um 6:30 Uhr aufstehen, die Koffer schließen. Heute verlassen wir unsere Basis in São Paulo, eine Woche des „Feuers“ beginnt mit täglich langen Transfers. Wir reisen immer zusammen mit Junior, Dementi und Thiago von JUVENTUDE MALDITA, die die nächsten Südamerika-Konzerte mit uns zusammen spielen werden. Mit zwei Taxis kommen wir am Busbahnhof an und steigen in unseren Bus, der uns nach Curitiba bringt, etwa sieben Stunden Fahrt. Leider gibt es im Bus kein WiFi, also müssen wir darauf verzichten, ein wenig am Computer zu arbeiten, aber es kommt absolut keine Langeweile auf, so spannend ist der Blick aus dem Fenster entlang der Strecke: Brasilien außerhalb der Metropole São Paulo. Wir halten für eine halbe Stunde an einer Raststätte zum Mittagessen und fahren danach weiter. Um 16 Uhr kommen wir in Curitiba an, der Hauptstadt des Bundesstaates Paraná, der im Süden des Landes auf einer Höhe von 945 Metern in der Hochebene des Paraná-Flusses liegt, etwa hundert Kilometer westlich vom Atlantischen Ozean. Es ist die achtgrößte Stadt des Landes und vor allem eine der größten in dieser Region mit 1.933.105 Einwohnern.
Mit zwei Taxis erreichen wir das Lokal 92 Graus, einen wunderschönen und historischen Rock’n’Roll-Club in der Stadt, Dreh- und Angelpunkt der örtlichen Streetmusic-Szene. Für einen Soundcheck bleibt keine Zeit, wir essen eine exzellente vegane Fajulada. Die Türen öffnen sich und der Ort erwacht sofort zum Leben mit Punkrockern, Skinheads, Psychos. Eine großartige Atmosphäre, die sofort von der exzellenten Ska-Auswahl von DJ Eti angeheizt wird. Um 21 Uhr spielen zuerst LOS ROTTEN, Punkrock aus Argentinien, danach die lokale Band REPUDIYO. Um 23 Uhr sind wir an der Reihe, ein wirklich gut besuchtes Konzert, das trotz einiger Probleme mit den Mikrofonen auf der Bühne sehr gut ankommt. Nach dem Konzert ist es an der Zeit, alles in den Van eines der Organisatoren zu laden, um sich ein paar Stunden bei ihm zu Hause auszuruhen. Obrigado, Curitiba!

Donnerstag 30.03.
Der Wecker klingelt um fünf Uhr. Mit zwei Taxis erreichen wir den Flughafen von Curitiba, um nach Porto Alegre zu fliegen. Dort verbringen wir den freien Tag bei unseren Freunden Lucas und Amanda, den Veranstaltern des Konzerts am kommenden Sonntag. Für unseren freien Tag haben sie vegane Pizza, Barbecue, ein Bad im Pool in ihrem schönen Garten und exzellenten und energiespendenden Mate-Tee organisiert. Mate, auch paraguayischer Tee genannt, ist ein Aufguss, der aus den grünen oder gerösteten Blättern einer immergrünen Stechpalme zubereitet wird, die in Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay wächst. Das Mate-Extrakt wird aus der „Bombilla“ getrunken: Das ist eine spezielle Kürbis- oder Holz-Tasse, in der die Mate-Blätter mit heißem Wasser aufgegossen werden. Der heiße Mate wird durch einen speziellen Strohhalm-Filter getrunken. Lucas gibt mir eine Tasse mit dem eingravierten Namen LOS FASTIDIOS und eine Packung brasilianischen Mate für zu Hause mit, damit ich meinen Mate auch in Italien trinken und an die guten Zeiten in Lateinamerika zurückdenken kann. Am schönen sonnigen Tag nutzen wir die Gelegenheit, um ein paar Klamotten zu waschen, denn wenn man lange auf Tour ist, ist es immer toll, Zeit zum Waschen zu finden. Um 19 Uhr erreichen wir mit Lucas’ Auto und einem Taxi den Busbahnhof von Porto Alegre, wo uns eine weitere lange Busfahrt erwartet, etwa 13 Stunden, mit Ziel Montevideo, Uruguay. Wir fahren die ganze Nacht durch in einem bequemen und sehr komfortablen Reisebus. Ein sympathischer Stewart serviert uns an Bord Essen und Getränke. Wir können einige Stunden schlafen.

Freitag, 31.03.
Um neun Uhr morgens kommen wir in Montevideo an, ein großes Gefühl für uns alle, es ist unser erstes Mal in diesem Land. Ich habe die letzten Stunden, seit wir die Grenze überquert haben, damit verbracht, aus dem Busfenster zu schauen. Wir sind in Uruguay –ich habe schon so lange darauf gewartet. Als wir am Busbahnhof ankommen, warten Max und Augustin auf uns, die Organisatoren dieses für uns historischen Ereignisses. Die Jungs haben eine „sehr süße“ Begrüßung mit einem ausgezeichneten veganen Frühstück bei Matias zu Hause organisiert. Es kommt von dem veganen Restaurant La Temeraria, das auch für das Catering und Abendessen zuständig sein wird. Dann checken wir im Hotel im Stadtzentrum ein und verzichten trotz Müdigkeit nicht auf eine kleine Sightseeing-Tour durch die uruguayische Hauptstadt, die wunderschön, lebendig und in Blöcke mit schnurgeraden Straßen unterteilt ist. Eine Struktur, die an den Stil vieler spanischer Städte erinnert. Montevideo hat etwa 1.500.000 Einwohner, 50% der gesamten Bevölkerung des Landes. Die Mauern der Stadt sind voller Wandbilder mit politischen und sozialen Themen, von denen viele dem Protest gegen die Privatisierung des Wassers gewidmet sind. Es gibt auch viele Graffiti, die die LGBTQ+-Bewegung unterstützen. Tatsächlich ist Uruguay einer der liberalsten Staaten: Homosexualität ist seit 1934 legal, Lebenspartnerschaften seit 2008 und die Möglichkeit einer Adoption gibt es für gleichgeschlechtliche Paare seit 2009. Eine weitere Besonderheit ist, dass Uruguay eines der wenigen Länder der Welt ist, in dem der Konsum und die Produktion von Cannabis legal sind. Marihuana kann in allen Apotheken sowie in bestimmten Clubs gekauft werden. Die Kids erzählen uns, dass die Legalisierung die Kriminalität vor Ort stark reduziert hat.
Um 17 Uhr erreichen wir die Clash City Rockers Bar, einen schönen und historischen Underground-Club. Marcos, der Besitzer, der schon immer ein großer Fan von LOS FASTIDIOS war, hatte mit großem Enthusiasmus zugesagt, das Konzert, das ursprünglich in einem anderen Club angekündigt war, bei sich stattfinden zu lassen, nachdem die Organisatoren ein paar Wochen zuvor beschlossen hatten, den Veranstaltungsort zu wechseln. Vor dem Auftritt beantworten wir Claudio und Gustavo von der uruguayischen Fanabteilung des FC St. Pauli einige Fragen für ihr Magazin. Sie überreichen uns viele Mitbringsel von ihrer Gruppe und es ist erwähnenswert, dass sich dazwischen auch das Blumensymbol der Familien der „Desaparecidos“ genannten Opfer der Diktatur befindet. Vom 27. Juni 1973 bis zum 1. März 1985 wurde Uruguay von einem Militärregime regiert, das die Verfassung außer Kraft setzte und sich durch einen Staatsstreich an die Macht geputscht hatte. Die Jungs erzählen uns, dass jedes Jahr am 20. Mai in Montevideo eine große Demonstration stattfindet, der Marsch des Schweigens, um der Opfer des Regimes zu gedenken. Sie erzählen uns auch, dass sie großen Respekt vor Italiens anarchistischer Bewegung haben. Viele italienische Anarchisten sind in der Vergangenheit nach Uruguay ausgewandert, wo sie zum Wachstum der anarchistischen und libertären Bewegung beigetragen haben. In der Zwischenzeit bringen uns zwei Fans, Marina und Maru, als Geschenk eine Schachtel mit veganen Energieriegeln, die sie selbst hergestellt haben, Rebel Nuts, ausgezeichnet und nützlich für eine so harte Tour wie diese.
Der Club ist voll, die Begeisterung steigt. Die Vorbands THE MOORS, FLETCHA FLETCHER, JUVENTUDE MALDITA heizen den Zuschauern ein. Ein Ereignis, auf das wir seit Jahren gewartet haben, wird endlich wahr: LOS FASTIDIOS live in Montevideo. Das Publikum tanzt und singt jeden Song lautstark mit. Ein Mosh, wildes Skanking und Stagediving an einem weiteren denkwürdiger Tag dieser Tour, ein Tag, den wir für immer in unseren Herzen tragen werden. Nach dem Konzert und der traditionellen Gelegenheit für Fotos und Autogramme packen wir unsere Sachen ein und machen uns auf den Weg zum Hotel. Auch heute Nacht werden wir nur wenig schlafen, aber die Freude und Zufriedenheit sind so groß, dass die Müdigkeit gänzlich vergessen ist. Gracias, Montevideo!

Samstag, 04.01.
Wir wachen um fünf Uhr auf, zwei Stunden nach dem Einschlafen. In dieser Woche können wir die Stunden, die wir schlafen, an einer Hand abzählen. Wir erreichen den Busbahnhof mit dem Auto der Organisatoren und fahren mit dem Bus nach Colonia, einer Stadt an der Südküste Uruguays, in der wir die Fähre besteigen, die uns in ein paar Stunden nach Buenos Aires bringen wird. Ein wunderbares Erlebnis und ein großes Gefühl, zum ersten Mal in der argentinischen Hauptstadt zu landen. Sergio, Yami und Checho erwarten uns bereits. Checho ist ein alter Freund von mir, der im Jahr 2000 unsere Best-Of-CD „La Verdadera Fuerza De La Calle“ produziert hat und auch Mitglied der Band SCARPONI ist. Wir erreichen das Hotel im Stadtteil Palermo mit dem Auto und ruhen uns ein paar Stunden aus, bevor wir zum La Cultura del Barrio laufen, einem traditionsreichen Club der argentinischen antifaschistischen Skinhead-Szene und einem wunderschönen Box- und Muai-Thai-Fitnessstudio, das von Mauricio geleitet wird und im Laufe der Jahre zum Bezugspunkt für Hunderte von Sportlern geworden ist.
La Cultura del Barrio, das 2011 im Stadtteil Villa Crespo gegründet wurde, ist die Fortsetzung der Aktivitäten, die die Antifaschistische Aktion Buenos Aires bereits 2001 begonnen hat. Wir haben schon seit Jahren von diesem legendären Ort gehört und jetzt sind wir tatsächlich hier, bereit für unser erstes offizielles Konzert in der Stadt, ein großes, großes Gefühl. Während Elisa und ich den Merchandise-Stand vorbereiten, nutzt unser Schlagzeuger Mattia die Zeit, um die Plaza de Mayo zu besuchen, wo im letzten Jahrhundert die wichtigsten politischen und sozialen Ereignisse und Demonstrationen stattgefunden haben: Seit den Siebziger Jahren versammeln sich jeden Donnerstag hier die Mütter der Plaza de Mayo oder die Mütter der „Desaparecidos“ (der Opfer des Militärregimes), um ihrer vermissten Söhne zu gedenken. Am Abend treffen sich alle Musiker im La Cultura del Barrio und nach dem Soundcheck wird uns ein ausgezeichnetes veganes Abendessen serviert.
Die Türen öffnen sich um zwanzig Uhr und der Laden füllt sich sofort mit Skins, Punks, Rude Boys und Girls aus ganz Argentinien. Die Atmosphäre ist sehr herzlich, so sehr, dass zur Feier des Tages extra ein T-Shirt-Motiv entworfen wurde. Viele Fans kamen mit alten LOS FASTIDIOS-Platten und CDs, um sie von uns signieren zu lassen. Der Merchandise-Tisch wurde im Sturm erobert, nicht nur, um sich ein paar Andenken zu sichern, sondern auch um Fotos mit mir und Elisa zu machen. Wir wussten, dass das argentinische Publikum LOS FASTIDIOS liebt, aber nicht, dass die Leute so glücklich sein würden. Viele erzählten uns, dass sie seit zwanzig Jahren auf diesen Moment gewartet haben, darauf LOS FASTIDIOS zu treffen, zu sehen und mit uns zu sprechen. Voller himmelhochjauchzendem Enthusiasmus treffen wir Nico, einen alten argentinischen Freund und Gründer des deutschen Labels Fire And Flames, mit dem LOS FASTIDIOS schon immer zusammengearbeitet haben und dies auch mit den neuen Leuten des Labels, das jetzt seinen Sitz in Kiel hat, weiterhin tun.
MUERTE LENTA , SCARPONI, JUVENTUDE MALDITA und dann LOS FASTIDIOS betreten nacheinander die Bühne. Das Publikum reagiert sehr gut auf die ersten drei Bands. Wir sind an der Reihe und werden auf der Bühne von einem voll besetzten Saal begrüßt, der laut und voller Energie auf jeden Song reagiert, mit tollem Pogo, ständigem Stagediving und bei den Ska/Rocksteady-Stücken mit Skanking quer durch Halle. Die Ovationen, als Elisa die Bühne betritt, sorgen für Gänsehaut. Allgemeine Begeisterung auf und vor der Bühne, es ist eine Party, eine wunderbare Party. Es ist ein unfassbares Gefühl, Konzert für Konzert zu erkennen, wie sehr LOS FASTIDIOS in ganz Südamerika geliebt und respektiert werden. Das Konzert endet mit „Antifa hooligans ska“ und der totalen Euphorie aller Anwesenden. Ein weiterer historischer Tag, der in unseren Herzen und denen des Publikums, das seit Jahren auf diesen Moment gewartet hat, einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen wird. Am Ende des Konzerts wird der Merchandise-Stand noch einmal gestürmt, um ein Erinnerungsfoto zu machen oder mit uns anzustoßen oder einfach nur zu reden. Bis wir schließlich unsere Sachen in die Taschen packen und sehr zufrieden und glücklich ins Hotel fahren, obwohl uns nur zweieinhalb Stunden zum Schlafen bleiben. Gracias Buenos Aires!

Sonntag, 02.04.
Wir wachen um sechs Uhr auf, fahren mit zwei Taxis und dem Auto von Sergio und Yami zum Flughafen von Buenos Aires und nehmen zwei Flüge, den ersten nach São Paulo und den zweiten weiter nach Porto Alegre, zum letzten Konzert dieser epischen Tour. In Porto Alegre treffen wir auf Lucas, Bolivar und Andon, die mit zwei Autos am Flughafen auf uns warten. Es ist gerade Zeit, im Hotel einzuchecken, und schon geht es zur Bar Ocidente, einem wunderschönen zweistöckigen Club, in dem wir schon 2018 gespielt haben. Heute Abend wird wieder ein volles Haus erwartet, die meisten Karten sind bereits im Vorverkauf weggegangen, an der Tür gibt es nur noch ein paar wenige. Das Konzert beginnt, die lokalen Punkrocker THE NOX eröffnen den Tanz und machen dann Platz für LA DIGNA RABIA, eine schöne militante Patchanka- und Ska-Band, die es schafft, das anwesende Publikum toll mit einzubeziehen, sowohl im Saal als auch auf dem oberen Balkon, wo zwei Banner hängen: „Antifascist“ und „Feminist Revolution“.
Jetzt sind JUVENTUDE MALDITA an der Reihe, die vielleicht ihren besten Auftritt der Tour hinlegen, bei dem das Publikum zu allen Liedern singt und tanzt. Wie es schon Tradition geworden ist, bitten sie mich auf die Bühne, um ihre Version von Jimmy Cliffs „The harder they come“ zu singen, bevor sie ihr Set mit der wunderschönen Hymne „Grândola, vila morena“ beenden. Wir sind bereit, für den letzten Auftritt dieser wunderbaren Tour auf die Bühne zu gehen, wir sind aufgeregt, aufgeladen, der ganze übervolle Raum reagiert gut, Stück für Stück, vom Skanken bei den Upbeat-Songs bis zum Mosh und Stagediving bei den punkigsten Stücken. Es ist unglaublich, welche Energie, Leidenschaft und Liebe wir bei jedem Termin dieser Tour erhalten haben und wir hätten unser südamerikanisches Abenteuer nicht mit einem besseren Konzert als diesem beenden können. Heute Abend spielen wir länger als sonst, wir wollen nicht von der Bühne runter und das Publikum will nicht aufhören, mit uns zu singen und zu tanzen. Nach dem Ska-Medley, das wie immer dem Gedenken an Terry Hall gewidmet ist, beenden wir die Tour mit der Ska-Version von „Antifa hooligans“, bei der das Publikum in einen Rausch verfällt. Obrigado, Porto Alegre.
Danke, Lateinamerika. Eine Tour, die wir für immer in unseren Herzen und Gedanken tragen werden, voller Emotionen, Erfahrungen und neuer Bekanntschaften. Eine Tour, die uns noch deutlicher gemacht hat, wie wichtig unsere Musik in jedem Winkel der Welt ist und wie sehr sie geliebt und respektiert wird. Es ist Zeit, zu packen und die lange Rückreise (drei Flüge) anzutreten, die uns nach dreißig Stunden mit einem zusätzlichen Koffer voller Geschenke nach Italien zurückbringt. Es ist traurig, Südamerika zu verlassen, aber wir gehen nicht ohne das Versprechen an alle unsere Freunde, bald wiederzukommen. Um vielleicht auf der nächsten Tour in noch mehr Ländern zu spielen, denn wir wissen, dass es überall in Lateinamerika eine Vielzahl Kids gibt, die bereit sind, LOS FASTIDIOS willkommen zu heißen. Danke/Obrigado/Gracias, Brasilien, Uruguay und Argentinien, wir sehen uns bald wieder! Hasta la Victoria Siempre! Und die Geschichte geht weiter ...