Im Februar erscheint mit „London Apocalypticon – Live At The Roundhouse“ ein Live-Album meets Live-DVD der Essener Thrasher, die damit ihr bis in den Herbst aktuelles langjähriges Line-up ein letztes Mal verewigten. Im Frühjahr gehen KREATOR dann noch mal auf Tour, um damit den Zyklus des 2017er Albums „Gods Of Violence“ abzuschließen und anschließend am Nachfolger zu arbeiten. Ich unterhalte mich mit Sänger und Gitarrist Mille über Live-Alben ganz allgemein und dieses im Speziellen.
Mille, du hast die Pro/Contra-Kolumne über Live-Alben im letzten Ox gelesen. Dann sag mir noch mal: Wer braucht und warum macht man als Band Live-Platten?
Ich und die Band kommen noch aus einer Zeit, in der Live-Platten völlig normal waren. Von daher machen wir das eben. Ich denke nicht darüber nach, warum man das jetzt macht oder ob man das jetzt braucht. Das ist eben wie der Abschluss einer Tour, und nach einer Tour klingen die Songs eben etwas anders, live werden die anders als auf dem Album gespielt, sie haben sich ein bisschen verändert, sie sind vielleicht schneller, auf jeden Fall anders als die Studioversion. Darum geht es eigentlich: das zu dokumentieren. Was ist der Status quo?
Also dient ein Live-Album ganz einfach zu Dokumentationszwecken für sich selbst?
Ja. Es macht einfach Spaß, so was festzuhalten, obwohl viele sagen, in Zeiten von Handyvideos brauche man das nicht mehr. Ich finde, genau das Gegenteil ist der Fall. Es gibt so viele schlechte Videos von unseren Konzerten, das ist doch kein Genuss, das zu sehen. Ich finde, man sollte den Genuss erleben, sich so ein Konzert mal richtig anzuschauen. Und die Leute, die das interessiert, die freuen sich. Natürlich ist das immer nur ein Bruchteil der Fans. Man sagt, so 15 bis 20% der Leute, die auf eine Band stehen, kaufen sich das Live-Album. Das kann ich jetzt nicht genau sagen, ich bin kein Analytiker unserer Verkaufszahlen, aber das ist das, was ich von meiner Plattenfirma gesagt bekomme. Man bietet so ein Live-Album eben an und es dient ja auch dazu, den Leuten zu zeigen, was man erwarten kann, wenn man zu einem KREATOR-Konzert kommt.
Dennoch fühlen sich Live-Platten etwas an wie ein Relikt aus einer Zeit, als nicht gefühlt jede Band dreimal im Jahr durch die Lande zog. Zu Zeiten, als Klassiker wie „It’s Alive“ von den RAMONES erschienen, „Made In Japan“ von DEEP PURPLE oder „Live At Budokan“ von CHEAP TRICK. Das sind Live-Alben aus einer Zeit, als diese heutige permanente Verfügbarkeit von allem über zig Medienkanäle noch nicht gegeben war. Da war ein Live-Album, mittels dem man als Fan in einem fernen Land feststellen konnte, wie eine Band live klingt, ein wichtiges Dokument.
Genauso war es, und genauso habe ich das auch jetzt weitergedacht. Zum einen hat man heute mehr Kontrolle über so ein Live-Album, zum anderen war so eine Produktion früher viel teurer als heutzutage, jetzt kann man das relativ günstig produzieren. Dennoch, es ist immer noch teuer, aber nicht so teuer, wie es damals war. Und ich finde es einfach cool, ein Live-Album zu machen und zu haben. Ich würde mir selbst ja auch nicht von jeder Band ein Live-Album kaufen, aber bei bestimmten Bands interessiert mich das doch schon, etwa wenn ich die zu dem Zeitpunkt noch nicht live gesehen habe, da schaue ich mir gerne ein Live-DVD an. Und natürlich gibt es die Klassiker, so was wie „Live After Death“ von IRON MAIDEN oder „Unleashed In The East“ von JUDAS PRIEST, wobei das ein etwas umstrittenes Album ist, denn viele sagen, das wäre sehr stark nachbearbeitet worden – aber das werden die ja immer. Du musst das ja noch mal mischen, und wenn dann eine Gitarrensaite reißt, dann spielst du die Gitarre im Nachhinein eben neu ein, damit du den Song nicht wegschmeißen musst. Aber ansonsten wird auch nicht viel daran gemacht, das ist eben live und man kriegt auch die ganzen Fehler mit. Ich finde Live-Platten also immer zumindest interessant, aber nicht in jedem Fall gelungen. Die von dir erwähnte RAMONES-Platte finde ich auch super, die jagen einen ja richtig durch das Konzert. Das war noch mal was anderes als auf den Platten. Ähnlich war das bei „Evilive“ von den MISFITS. Über den Gastauftritt dort lernte ich übrigens Henry Rollins kennen, den kannte ich vorher gar nicht. Dennoch, man kann darüber streiten, ob man Live-Platten braucht oder nicht. Es gibt natürlich Leute, die sagen, so was brauche ich nicht, aber ein Angebot ist immer ein Angebot. Niemand wird dazu gezwungen, sich das zu kaufen oder anzuschauen. Ich würde auch lügen, wenn ich jetzt sagte, ein Live-Album ist genauso gut wie eine richtiges Live-Konzert. Nein, du sitzt im Wohnzimmer und guckst dir das an, statt wirklich auf dem Konzert zu sein. Es kann aber auch gute Promotion für eine Tour sein.
Es wird gerne kolportiert, dass wenn ein Label und eine Band sich nicht mehr vertragen, dann kriegt das Label halt noch ein Live-Album und noch eine Best-Of-Platte und dann ist der Vertrag endlich beendet. Das Live-Album als Resterampe zur Kündigung, bevor der Schreibtisch ausgeräumt, der Schlüssel abgenommen wird ...
Also wenn wir jetzt über Notwendigkeit und Unsinn eines Releases sprechen, dann muss ich klar sagen: Ich finde ein Live-Album ist nicht halb so überflüssig wie ein Best-Of-Album. In meiner Geschichte als Musikfan gibt es ein einziges Best-Of-Album, das ich okay finde, und das ist das von DEAD CAN DANCE. Und das deshalb, weil ich das als Erstes hatte von denen und von da aus weitergegangen bin. Von daher ... ist so ein Best-Of vielleicht dann doch wieder nicht so schlecht, hahaha. Im Zuge unserer Noise Records-Rerelease-Kampagne wurde ja auch ein Best-Of Album namens „Love Us Or Hate Us“ rausgebracht, das aber relativ unter dem Radar blieb, weil ich der Plattenfirma gesagt hatte, dass ich das nicht promoten werde, weil ich das doof finde. Aus irgendwelchen Gründen haben das aber sogar Leute gekauft. Für manche Leute sind Best Of-Platten also wohl doch nicht das Schlimmste.
Euer neues Live-Album „London Apocalypticon – Live At The Roundhouse“ ... ist ja eigentlich eine Live-DVD, oder?
Ja, eigentlich steht die DVD beziehungsweise Blu-ray im Vordergrund. Die Idee dahinter ist die: Wir haben ja mit dem letzten Album sehr viel getourt, und unsere letzte Live-Platte beziehungsweise DVD war „Dying Alive“ von 2013 und das war eine gute Produktion zusammen mit Kollek, wir hatten das alles unter Kontrolle. Mit diesem neuen Ding sind wir nach London gegangen, und da gingen dann gleich die Probleme los, weil die Videofirma ohne Audio-Equipment ankam, da war einiges zu organisieren. Der Gedanke hinter „London Apocalypticon“ ist zu zeigen, dass KREATOR eine international agierende Band sind. Es gibt nicht nur Video-Aufnahmen aus London, sondern noch zwei andere und zwar aus Santiago de Chile und von einem Festival. Wir wurden also in allen möglichen Situationen dokumentiert. Das waren drei ganz verschiedene Konzerte mit teils unterschiedlicher Setlist, die meiner Meinung nach alle unterschiedlich cool sind. Bei der London-Show steht die Produktion im Vordergrund, sie ist sehr intensiv, gerade auch wegen der legendären Location. Die Masters of Rock-Aufnahme, die ist dabei, weil wir einfach ein gutes Konzert gespielt haben und eine völlig andere Setlist hatten als bei den anderen Shows. Und was ich den Leuten nicht vorenthalten wollte, waren die Aufnahmen aus Chile: Wir hatten die Möglichkeit, Aufnahmen von unserem Konzert in Santiago zu machen, und das war ein riesiges Stadion mit 10.000 oder 15.000 Leuten, die alle total abgehen. Das wollte ich alles mal festhalten.
Mittlerweile filmt Arte gefühlt jede zweite Metal-Band auf irgendeinem Festival. Es ist bei vielen Bands also reichlich Material in Mediatheken, auf YouTube und Co. zu finden. Was ist also das Distinktionsmerkmal so einer Live-DVD? Man ist damit in Konkurrenz zu zig verschiedenen Kanälen.
Genau damit hast du völlig recht. Aber ich weigere mich, nur weil diese Umsonstkultur gerade so überhand nimmt, jetzt nicht mehr irgendwie auch Kunst weiterzumachen. Für mich ist es ein relativ großer Aufwand gewesen, dieses Live-Blu-ray/Album zu machen. Da habe ich jetzt ein Jahr lang daran gearbeitet. Aber ich will mich dieser Umsonstkultur nicht ergeben, indem ich einfach sage, ich mache keine Alben mehr, ich haue nur noch Songs raus, gebe mir keine Mühe mehr beim Artwork. Nein, ich komme aus einer Zeit, in der es noch hieß, das Gesamtkunstwerk ist wichtig. Klar kannst du alles auf Arte anschauen, ich weiß ja, wie viel von uns im Netz ist. Wenn ich will, kann ich auch einen ganzen Abend nur auf YouTube IRON MAIDEN- oder KREATOR-Videos gucken, umsonst. Da will ich dagegenhalten mit einem schön gestalteten Album, das ein schöner Abschluss für die Tour ist. Ich sehe das nicht philosophisch oder so, es ist einfach eine coole Sache.
Du erwähntest gerade schon den Aufwand, den es mit sich bringt, so was zu produzieren, und sagtest, du warst über ein Jahr hinweg immer wieder damit beschäftigt. Was unterscheidet so einen Live-Mitschnitt von einem normalen Konzert, wie läuft das ab? Ist man da aufgeregter? Und wie läuft das mit der Nachbearbeitung?
Aufgenommen wurde das beim letzten Konzert der Tour. Alle waren aufgeregt, aber auch etwas melancholisch. Die Bands auf der Tour haben sich untereinander angefreundet und die Stimmung war so eine Mischung aus „Schade, dass die Tour vorbei ist“ und „Ich bin froh, jetzt in den Urlaub zu fahren“. Was die Nachproduktion betrifft, mussten wir bei den Aufnahmen aus London mehrere Male ran, weil man durch die Art und Weise, wie die Halle beschaffen ist, nicht den allerbesten Live-Klang hat. Man musste da viel mit Hall machen, und das Publikum war nicht so gut zu hören. Da mussten wir darauf achten dass wir die Mikros noch mal komprimieren und das dann alles noch mal so nachbearbeiten, dass man ein Gefühl dafür kriegt, wie die Stimmung bei dem Konzert war. Das war eine Herausforderung, es war machbar, aber dauerte länger, als ich mir vorgestellt hatte. Dann war natürlich der Schnitt noch ein großes Thema. Ich mag schnelle Schnitte, viele mögen das nicht, und es galt, einen Mittelweg zu finden zwischen dem ästhetisches Empfinden der Leute, mit denen wir arbeiten, und meinem. Das ging etwas auseinander. Ein anderes Problem war die Kameraarbeit an dem Abend: Die Halle war quasi ausverkauft, wir wollten eigentlich einen Kamerakran haben. Doch wir hatten schon zu viele Tickets verkauft, als dass wir vom Platz her noch einen Kran hätten aufbauen können. Der hätte 300 Tickets „gekillt“. Also mussten wir etwas improvisieren. Aber es ist am Ende des Tages sehr gut geworden, nur mit etwas mehr Nachbearbeitung als gedacht. So eine Aufzeichnung als „Heimspiel“ in Oberhausen war schon einfacher.
Du bist der Auftraggeber, der Produzent, der Chef und der Hauptdarsteller des Ganzen. Wie aufgeregt oder routiniert gehst du an so eine Sache ran? Was ist, wenn man da auf der Bühne mal pfuscht?
Ja, man ist da in verschiedenen Rollen unterwegs. Einerseits möchte man natürlich das Bestmögliche rausholen, auf der anderen Seite steht man da selber so total im Mittelpunkt und will, dass alles gut aussieht. Und dann bist du mit technischen Problemen beschäftigt, weil zwei der LED-Screens ausfallen bei den ersten beiden Songs. Das haben wir dann hinterher digital nachbearbeitet werden, aber bei den ersten beiden Songs sehen die jetzt etwas anders aus. Der Sound war ganz wichtig, da haben wir dreimal gemischt, weil die Mikros nicht so aufgebaut geworden waren, wie es hätte sein müssen. Es war ein bisschen Bastelei, und zwischendurch war ich auch mal drauf und dran zu sagen, das wird mir zu viel Arbeit, ich muss neue Songs schreiben, ich will mich eigentlich nicht mehr damit beschäftigen. Zum Glück wurde das dann mit der Hilfe von vielen Leuten doch noch was – auch weil der finale Schnitt eher nach meinen Wünschen gestaltet wurde. Das waren wirkliche psychologische Kämpfe, die da ausgefochten wurden, die aber ja völlig normal sind, wenn man kreativ arbeitet und mit Leuten kooperiert, die selber eine Vision haben auch mit ihrem Namen dafür einstehen. Deswegen hoffe ich nun, dass die Leute sich die DVD auch anschauen.
Wenn man METALLICA ist und Geld keine Rolle spielt, kann man ja einfach mal alles neu machen lassen. Wenn man aber alles selbst bezahlt und sieht, wie das Geld rausgeht, kann man doch auch sicher mal unentspannt werden, oder? Was kostet so eine Produktion?
Das Ganze hat schon fast genauso viel gekostet wie ein Album. Beim Album bleibt aber meist noch was übrig, aber hier blieb vom Budget gar nichts übrig, das war ein reines Liebhaberprojekt. Da hieß es für mich irgendwann, das stecke ich jetzt noch mal rein, weil ich will, dass es gut ist, dass die Fans es sich anschauen und nicht denken, das ist blöd. Also ja, es war viel teurer, als ich eigentlich anfangs geplant hatte, aber im Endeffekt war es gut, dass ich das noch mal reingesteckt habe, denn jetzt ist es schön und rund geworden. Der Plan war eigentlich, dass ich im Februar anfange damit und dass das Ding Ende August erscheint. Ich dachte, ich arbeite da anderthalb Monate dran ...
Dass ihr an einem neuen Album arbeitet, ist ja kein Geheimnis. Das war ja mal für 2020 angekündigt – wird das jetzt 2021?
Ja, definitiv, das kommt dieses Jahr nicht. Es hat sich alles verschoben. Ein Album, das dauert. Ich bin schon weit, habe zehn Songs geschrieben, aber die müssen wir noch in der Bandkonstellation proben und dann sehen wir, ob das gut ist oder nicht. Denn KREATOR ist ja eine Band und nicht mein Soloprojekt, obwohl ich der Hauptsongwriter bin. Sommer 2021 ist realistisch.
Dieses Live-Package ist also die letzte Veröffentlichung, auf der euer alter Bassist Speasy zu hören ist. Im Herbst 2019 kam für den Frédéric Leclercq, ihr seid dann also auch erstmals in der neuen Konstellation im Studio.
Das bringt eine neue Dynamik in die Sache. Ich will ja auch, dass meine Lieblingsband immer im gleichen Line-Up bleibt, aber einen neuen Bassisten dabeizuhaben, das bringt frisches Blut und einen Energieschub.
Was ist für 2020 geplant?
Geplant ist nur die eine Tour im März, die schließt das letzte Album ab. LAMB OF GOD und POWERTRIP sind mit dabei. Danach gehen wir ins Studio, um am Album arbeiten, geplant ist Dezember 2020 und Anfang Februar 2021 wird es fertig sein.
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