Die Zeichen stehen gut, dass Frank Turner der nächste große Hype in der Punk-, der Hardcore- und der Indie-Szene wird. Turner, im Dezember 1981 in Muharraq, Bahrain geboren, sang bis 2005 bei der hochpolitischen Hardcore-Band MILLION DEAD, die sich im selben Jahr aufgrund unüberwindbarer Differenzen auflöste. Seine im Anschluss an diese Auflösung gestartete Sololaufbahn als Singer/Songwriter steht aber unter wesentlich besseren Vorzeichen. Denn auch wenn er sich zu Beginn schwer tat mit ein paar EPs und kleinen Touren, wird Frank Turner immer beliebter.
In England tritt Turner mittlerweile vor 600 bis 700 Leuten auf, THE OFFSPRING nahmen ihn diesen Frühling auf USA-Tour mit und THE GASLIGHT ANTHEM luden ihn auf ihre USA-Herbsttour ein. Außerdem bringt Frank Turner 2009 gleich drei Alben in Europa heraus, die Presse und Fans gleichermaßen begeistert aufnehmen: „The First Three Years“ (Gunner Records) fasst die ersten Jahre seiner Sololaufbahn zusammen, „Love Ire And Song“ (Epitaph) erschien bereits vor einem Jahr in England und wird nun in ganz Europa veröffentlicht und „Poetry Of The Deed“ ist das im engen Sinn „neue“ Frank Turner-Album. Es strotzt vor songwriterischen Folk-Kleinoden, die rauh, aber feinfühlig genug sind, ähnlich Gänsehaut zu erzeugen wie Chuck Ragans Soloalben. Mindestens genauso interessant wie seine Musik ist aber die Person Frank Turner. Ein junger Mann von bestechendem Intellekt, mit einem Abschluss an der London School of Economics, einer der international renommiertesten Universitäten. Überdies macht ihn seine Zeit bei MILLION DEAD zu einem kompetenten Gesprächspartner in Sachen Punkrock und Hardcore, auch wenn er sich mit seinen Soloalben musikalisch weit von beidem entfernt hat. Letztlich sieht Turner der geschäftlichen Realität eines professionellen Musikerlebens brutal ehrlich ins Auge. Er geht mit den wirtschaftlichen Strukturen und den Mechanismen der Musikindustrie aber ebenso professionell um und wird mit seinen Ansichten durchaus in der Szene anecken. Nicht zuletzt, weil er mitunter in Widerspruch zu seinen Texten aus MILLION DEAD-Zeiten gerät. Genug Input also für ein ausführliches Interview.
Frank, du hast kürzlich gesagt, dass die Folk-Szene die D.I.Y.-Ethik sehr viel stärker lebt als die Punk- und Hardcore-Szene. Könntest du uns das erklären?
Lass mich dazu eine Anekdote erzählen. Vor einigen Jahren nahmen ein paar Freunde mich zu einem Treffen diverser Folk-Musiker mit, die zusammen jammten. Dabei kam es zu einem kleinen, sagen wir, Zwischenfall: Einer der Anwesenden nahm viel zu viel LSD und geriet auf einen Trip, er halluzinierte, eine Armee klassischer chinesischer Krieger würde ihn durch sein Schlafzimmer jagen. Wenige Tage später hatte einer der anderen einen Song darüber geschrieben, wie Steve, der auf den Trip geraten war, vor dieser Armee flüchtet. Als ich darüber nachdachte, fand ich es faszinierend, dass die Leute in der Folk-Szene binnen weniger Tage so schnell und so direkt auf die Ereignisse um sie herum reagieren und einfach einen Song darüber schreiben, was sie beobachtet haben. Diese Spontanität ist etwas, was ich in der Punk- und Hardcore-Szene mittlerweile vermisse, denn in der Szene haben sich merkwürdige Rockstar-Attitüden etabliert. Ich habe Punk- und Hardcore einst dafür geschätzt, dass man in der Szene Spontanität und Direktheit fand. Die Bands und die Hörer standen auf einer Ebene, wie Steve und derjenige, der einen Song über seinen LSD-Trip geschrieben hat. Diese Barrierefreiheit ist bei Punk und Hardcore verloren gegangen – viele Bands geben sich als Rockstars und denken, sie seien Halbgötter, denen die Fans die Füße küssen sollten.
Das sagt jemand, der gerade mit THE OFFSPRING auf USA-Tour war?
Moment, ich habe nicht gesagt, dass ich kommerziellen Erfolg kritisiere. Sondern ich habe die Rockstar-Attitüden mancher Bands kritisiert, die ich am eigenen Leib erlebt habe, wenn Bands auf Tour Hotelzimmer zerschlagen und Umkleideräume in den Clubs verwüstet haben. Das ist asozial, denn irgendjemand, der vermutlich sehr wenig Geld verdient, wird das alles wieder sauber machen müssen. Ich sage aber nicht, dass alle Bands, die wie THE OFFSPRING kommerziell erfolgreich sind, sich so verhalten. Deswegen fallen sie auch gar nicht in diese Halbgötter-Kategorie. Im Gegenteil, ein solches Verhalten habe ich bisher vor allem von kommerziell nicht erfolgreichen, vermeintlichen Punkbands erlebt. Es ist ein Armutszeugnis für die Szene, dass Bands als Punkrock akzeptiert werden, die sich so verhalten, aber jede andere, die ansatzweise Erfolg hat, erst einmal angeprangert wird.
Warum sprichst du von einem Armutszeugnis?
Weil ein solches Verhalten zeigt, dass die Leute nicht verstanden haben, worum es bei Punkrock eigentlich geht. Punkrock und Hardcore gaben den Leuten doch zahlreiche Denkimpulse, um die Welt besser zu verstehen, sie zu kritisieren. Zu diesen gehört der Impuls, die Musikindustrie, ihre wirtschaftlichen Mechanismen, sowie das Verhältnis von Kunst und Kommerz mit all seinen Ecken und Kanten zu verstehen. Die Sache bei einem Denkanstoß ist aber, dass du ja immer noch selber denken und dir deine eigene Meinung bilden musst. Das heißt, ehe du irgendjemanden wegen seines Erfolges anprangerst, solltest du erst einmal seinen künstlerischen Werdegang verstehen und dann darüber nachdenken, warum er so handelt, wie er es tut. Diese Mühe machen sich aber die meisten in der Szene nicht. Vielmehr verhält sich der Großteil der Leute wie Herdentiere, die sofort in den Chor einstimmen, wenn eine Band wie THE OFFSPRING oder GREEN DAY als Sellout abgestempelt wird. Neuerdings werden ja sogar THE GASLIGHT ANTHEM als Sellout bezeichnet, weil sie beim Glastonbury Festival einen Song mit Bruce Springsteen zusammen gespielt haben – was für eine dumme Behauptung! Niemand denkt darüber nach, dass diese Band jahrelang hart gearbeitet hat und der Erfolg, den sie heute hat, wesentliches Resultat dieser Arbeit ist. Außerdem wird der Sellout-Vorwurf ja oft erhoben, wenn eine Band einen Vertrag mit einem Majorlabel schließt. Die Unterscheidung, ein Majorlabel wäre böse und ein Independentlabel gut, ist aber völlige Augenwischerei. Ich war auf Major- und auf Independentlabels und bin von einigen Indies, aber von keinem Major um mein Geld betrogen worden. Und das Schlimme daran ist, dass sich die Indies wegen ihres vermeintlichen Szenebezugs immer aus der Sache herausstehlen können, weil sie sich als dein Freund ausgeben und dir irgendwelche Mistbegründungen dafür liefern, dass sie dir weniger Geld geben müssen, als abgesprochen war.
Wie haben diesen Erfahrungen deine Herangehensweise an deine Solokarriere geprägt?
Ein paar dieser Betrügereien waren möglich, weil ich sehr miese Verträge unterschrieben habe. Daraus habe ich gelernt, dass ich mich sehr genau mit den Details der Musikindustrie, diversen rechtlichen und auch vermarktungstechnischen Details auskennen sollte, um Plattenverträge besser zu verstehen. Nur so kann ich verhindern, noch mal über den Tisch gezogen zu werden. Wenn man wie ich von der Musik lebt, dann trifft dich jeder Betrug ins Mark, weil es unmittelbar um deinen Lohn geht, deswegen finde ich es so immens wichtig, mich sehr gut mit diesen geschäftlichen Dingen auszukennen. Es schockt mich auch immer wieder, wenn sich Bands nicht für das Business interessieren, das mit dem Leben als Fulltime-Musiker einhergeht. Ich sage dir ganz ehrlich, alle diese Horrorgeschichten, dass ein Label eine Band über den Tisch gezogen hat, kommen genau daher: eine Band interessiert sich nicht für das Geschäft und unterschreibt einen Vertrag, der sie benachteiligt. Als Künstler musst du ja nicht einmal selber zum Experten werden, heuere zur Not einen Anwalt an, aber verhalte dich einfach den Regeln deines Business entsprechend!
Das sind ungewöhnliche Worte für einen, der als Sänger von MILLION DEAD einst anarchistische Texte brüllte.
Stimmt, meine politische Einstellung hat sich über die Jahre ein wenig verändert. Ich war und bin immer noch Libertarist und sehe die individuelle Freiheit, das zu tun, was du willst, als das höchste gesellschaftliche Gut an. Früher war ich ein anarchistischer Libertarist, war aber zugegebenermaßen auch einer dieser romantischen Tagträumer, die viel diskutieren, aber wenig umsetzen. Je älter ich wurde, desto pragmatischer wurde ich, legte diverse Ideale ab und bin heute ein absolut pro-kapitalistischer Libertarist. Das kapitalistische System richtet gegenüber dem Kommunismus geringeren Schaden an und ist wenigstens halbwegs freiheitlich. Klar, Kapitalismus ist alles andere als ein perfektes System, Menschen auf der ganzen Welt leiden wegen dieses Systems und es gibt genügend Dinge, die geändert werden müssen. Aber wenn du Kapitalismus wirklich durch Kommunismus ersetzen willst, dann bist du ein Idiot – zumindest wenn du Kommunismus auf gesamtgesellschaftlicher Ebene etablieren willst. Jeder, der ein anarchistisches Leben in einer Kommune oder mit ein paar Kumpels leben will, hat meinen vollen Segen dafür. Auf Ebene der gesamten Gesellschaft wie in England oder Deutschland ist es aber doch Tatsache, dass die meisten Menschen legitimerweise ein Haus und ein Auto haben wollen und auch einmal im Jahr in den Urlaub fahren möchten. Ergo lehnen sie ein kollektivistisches System ab, weswegen dessen Etablierung gegen den Willen der meisten Menschen verstoßen würde.
Nur wenige aus der Punk- und Hardcore-Szene wählen solche Worte.
Das stimmt, ist aber gleichzeitig eine krasse Ironie. Die Punk-, die Hardcore- und die alternative Musikszene sind doch Paradebeispiele für perfekten Kapitalismus. Nimm D.I.Y.-Labels als Beispiel: Ein paar Typen haben eine Idee, gründen ein Label, bringen Musik raus, verkaufen sie an andere Leute, erhalten ein wenig Geld dafür und decken im Idealfall ihre Kosten. Genauso, zweites Beispiel, ist es mit meinen Touren: Ich beteilige mich am Booking, suche die Leute, die als Crew mitfahren, aus und bezahle sie am Ende dafür. Für mich ist das Kapitalismus in Reinform. Deswegen ist es paradox, dass viele Bands marxistische Literatur bei ihren Shows auslegen. Vielen würde ich gerne sagen, dass sie niemals diese Shows spielen dürften, wenn dieses System verwirklicht würde.
Gleichzeitig hat sich deine ehemalige Band MILLION DEAD nach einer Textpassage eines REFUSED-Songs benannt und äußerst linkspolitische Texte geschrieben. Wie passt das alles noch zusammen?
Wie gesagt, ich habe mich von meiner einstigen Einstellung weg entwickelt. Und was die Texte von MILLION DEAD betrifft, so habe ich realisiert, dass ich damals ein ziemlicher Mistkerl war, den Leuten erzählen zu wollen, was sie anders machen sollten. Letuztlich geht die politische Einstellung des Fans keine Band und keinen Songwriter etwas an. Entsprechend sollten sich Künstler auch nicht einbilden, anderen erzählen zu dürfen, was sie zu tun und zu lassen haben.
Allerdings verarbeitest du auf deinem neuen Album „Poetry Of The Deed“ durchaus politische Untertöne.
Was du als Untertöne bezeichnest, würde ich als Kommentare zu gewissen politischen Ereignissen bezeichnen. Es geht auf dem Album darum, Geschichten aus dem Leben zu erzählen. Dass diese hier und da das politische Tagesgeschehen zitieren, ist klar. Schlussendlich bin ich aber ein Songwriter mit sehr persönlichen Texten und kein Protestsongschreiber. Das wollte ich auch niemals sein, denn das Problem bei Protestsongs ist, dass sich langfristig niemand mehr die Musik anhört, sondern die Leute nur auf die politischen Aussagen in den Texten achten.
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