Natürlich könnte man sich von Frank Turner im Interview anlässlich eines neuen Albums einfach Stück für Stück das neue Album „Positive Songs For Negative People“ erklären lassen – mit dem Resultat, genau die Antworten zu bekommen, die er im Zuge des Interviewmarathons, das ein Album begleitet, schon dutzende Male gegeben hat. Also machte ich mich auf, Frank Turner über Nebenstraßen näher zu kommen, und das war eine gute Idee – hätte ich sonst erfahren, dass seine Mutter wenig begeistert von manchen Passagen seines im März erschienenen Buches ist oder dass er weiß, wo in den Sechzigern in London russische Spione ihre Nachrichten austauschten?
Frank, lebst du eigentlich vegetarisch oder vegan?
Früher war ich mal Vegetarier, aber die Prioritäten im Leben ändern sich eben. Das hat mit dem Älterwerden zu tun. Früher war diese ganze Tierrechtsthematik wichtig für mich, aber das hat sich geändert. Mit den Jahren sind andere Dinge für mich in den Vordergrund gerückt, ich weiß jetzt mehr über die Welt, womit ich nicht gesagt haben will, dass ich mich heute für klüger halte. Das hat meiner Meinung nach viel damit zu tun, dass ich die zweite Hälfte meines Lebens fast völlig „on the road“ verbracht habe, als „Reisender Entertainer“. Das ist mein Handwerk – so wie jemand anderes Zimmermann, Lehrer oder Feuerwehrmann ist. Und ich bin eben ein „travelling entertainer“.
Du bist schon ewig Sänger und Gitarrist. Wann hast du gemerkt, dass dir das, was du da tust, sehr wichtig ist?
Von Anfang an! Ich habe es einfach schon immer geliebt, live zu spielen. Ich bin jemand, der sich in seiner Haut oft nicht so recht wohl fühlt, doch die Momente, in denen ich mich rundum gut fühle, sind jene auf der Bühne. Das gibt mir immer einen Kick, wobei es natürlich hilft, wenn die Menschen im Publikum nicht gleichgültig reagieren. Aber selbst wenn die Reaktionen ausbleiben, weiß ich, dass das, was ich da mache, genau das ist, was ich mit meinem Leben anfangen will. Und dass es das ist, was ich richtig gut kann. Es gibt abgesehen davon nicht viel, was ich richtig gut kann – doch auf einer Bühne stehen und singen, das Publikum mitreißen, das kann ich.
Ist es eine bestimmte „Botschaft“, deren Vermittlung dich auf der Bühne so enthusiastisch werden lässt? Oder ist es die begeisterte Reaktion der Menschen vor dir?
Es ist die Kommunikation, und die Empathie. Das sind die wichtigsten Dinge überhaupt. Was eine bestimmte Message betrifft: Ich habe kein „Manifest“ oder so, mir geht es nicht darum, die Menschen dazu zu bringen, eine bestimmte Sichtweise zu übernehmen. Aber sich auf einer Bühne musikalisch auszudrücken und es zu schaffen, dass die anderen Menschen in diesem Raum darauf einsteigen und sich beteiligen, das ist eine fantastische Sache. Damit habe ich jetzt auf sehr umständliche Weise zum Ausdruck gebracht, dass ich es verdammt genieße, wenn die Leute meine Lieder mitsingen. Wenn ein ganzer Saal voller Menschen durch eine Sache verbunden ist, das ist ein magischer Moment.
Du kommst ursprünglich aus der Hardcore-Szene, und da wird es bisweilen durchaus mit einem gewissen Misstrauen gesehen, wenn eine Person so im Vordergrund steht und abgefeiert wird. Musstest du dieses Gefühl erst ablegen, um deine jetzige Rolle genießen zu können?
Ich weiß, was du meinst, und es gibt gerade bei Festivals schon mal Momente, wo man nachdenklich wird. Wenn RAMMSTEIN spielen und man das Gefühl hat, die Menschen da vor der Bühne bewegen sich im Gleichtakt ... Man sollte immer misstrauisch bleiben, aber ich sehe auch nicht, dass das, was ich heutzutage mache, im Kontext von Hardcore oder Punk diskutiert werden sollte. Das ist mir völlig egal. Aus dem Punkrock habe ich aber das Wissen mitgenommen, dass Auftritte eine Konversation mit dem Publikum sein müssen – und kein Monolog von der Bühne herab. Es sollte ein Austausch von Ideen und Energie in beide Richtungen stattfinden, nicht nur in eine Richtung. Ich war nie ein Anhänger des „aristokratischen“ Rock’n’Roll, wo die Band in der Limousine vorfährt, eine Stunde lang zur Masse hinunter spricht und dann wieder in die Limousine steigt. So was ist für mich völlig langweilig. In dieser Hinsicht war das erste richtige Underground-Punk-Konzert für mich damals eine Offenbarung – das waren AGNOSTIC FRONT. Ich schaute mir die Vorband an, und als die fertig waren, packten sie ihre Instrumente weg und sprangen von der Bühne ins Publikum, um bei der zweiten Vorband im Publikum zu tanzen. Und der Typ, der gerade noch bei der ersten Vorband neben mir gestanden hatte, kletterte auf die Bühne und griff sich den Bass, weil er bei der zweiten Vorband spielte. Ich denke, jeder in der Punk-Szene kennt diese „Punkrock-Momente“, diese Erlebnisse und Erfahrungen, bei denen einem so richtig klar wird, worum es bei Punk wirklich geht, wie mächtig diese Bewegung ist, was die Ideen sind. Und für mich war eben dieses Erlebnis so prägend, denn es widersprach dem Bild von Musikern und Bands, das ich bis dahin hatte und wo das Menschen von einem anderen Planeten waren, die immer für einen kurzen Moment auf einer Bühne auftauchten, die man aber sonst nie sah. Menschen, die schöner, reicher, mächtiger und wichtiger sind als andere. Ich erlebte stattdessen, dass der Typ neben mir plötzlich auf der Bühne stand, ein ganz normaler Mensch – ich merkte, dass es da um einen Austausch unter Gleichberechtigten ging und nicht darum, der Verkündigung eines Communiqués durch ein paar verdammte Aristokraten.
So, wie deine Konzerte aus den Clubs in größere Hallen gewandert sind, stelle ich es mir aber als anspruchsvoller vor als vor einigen Jahren noch, diese Nähe zum Publikum sowie den Austausch zu gewährleisten.
Diese Frage beschäftigt mich schon lange und ich rede ständig darüber. 2012 spielte ich meine erste Show in einem Stadion, in der Wembley-Arena, und ich habe lang darüber nachgedacht, ob das eine gute Idee ist oder nicht. Denn ich weiß ja, dass dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, die Nähe, etwas ist, was die Leute an meinen Konzerten schätzen – oder zumindest erzählen sie mir das. Die große Frage war, ob meine Konzerte deshalb bei auch einem Veranstaltungsort in Stadiongröße funktionieren. Würde es mir gelingen, das zu transportieren, was meine Konzerte für die Menschen zu einem besonderen Erlebnis macht? Ich entschied mich dann, einfach den Versuch zu wagen, überlegte mir aber, was ich tun kann, damit bei meinem Konzert auch auf so einer großen Bühne das Persönliche rüberkommt. Ich sah mich dann um nach Musikern, die vor dem gleichen Problem stehen, es aber gemeistert haben – und kam auf Bruce Springsteen, den ich selbst schon oft live gesehen hatte. Seine Auftritte sind immer sehr beeindruckend, wirken persönlich. Die Frage war also: „Wie schafft der das?“
Und, wie schafft er das?
Sein Auftreten, sein Verhalten auf der Bühne macht den Unterschied. Mann muss wissen, dass die Menschen ganz hinten wirklich weit entfernt sind und nicht viel sehen können von dem, was auf der Bühne geschieht. Also muss man seine Gesten entsprechend langsam und groß machen. Und man muss langsam und deutlich reden, auch wegen des Echos. Außerdem muss man den Augenkontakt mit möglichst vielen Leuten im Publikum suchen. Und ganz pauschal geht es einfach darum, sich nicht wie ein hochnäsiger Arsch aufzuführen, sich wichtiger zu fühlen als irgendeine beliebige Person im Publikum. Man muss sich klar sein darüber, dass jeder Einzelne dazu beiträgt, dass eine Show gelingt – ohne Publikum gäbe es die Show nicht.
Wie gehst du mit Situationen um, in denen du es nicht so recht schaffst, eine Verbindung zum Publikum aufzubauen?
Das ist mir schon oft passiert, das sind dann die Abende, wo man einfach von einer schlechten Show sprechen muss. Es sind genau solche Situationen, wenn ich es nicht schaffe, eine Verbindung zum Publikum zu bekommen, und das hasse ich. Aber jeder hat eben mal einen schlechten Tag. Da hilft es nur, beim nächsten Mal wieder alles zu geben. Wir, also ich und die Jungs in meiner Band, sind sehr selbstkritisch, und wir diskutieren immer am nächsten Morgen die Show des Vorabends, wobei meine Regel ist, dass es direkt im Anschluss an das Konzert keine Diskussionen gibt. Wenn es schlecht läuft, habe ich schlechte Laune, so einfach ist das. Ein komisches Gefühl ist das, ich mag es nicht. Seltsam ist nur, dass man manchmal selbst nach als schlecht empfundenen Shows, wenn man sich mit Besuchern unterhält, dennoch zu hören bekommt, was für ein geniales Konzert das doch gewesen sei. Und ich würde am liebsten antworten: „No, it fuckin’ wasn’t!“ Ich sage das natürlich nicht, ich will ja keinem den Spaß verderben, sondern bedanke mich nett. Außerdem gibt es die simple Gesetzmäßigkeit, dass auf eine schlechte Show am nächsten Abend immer eine der gefühlt besten Shows überhaupt folgt. Man plagt sich den ganzen Tag wegen des Auftritts am Abend zuvor, und dann gehst du raus auf die Bühne und willst allen beweisen, dass du zu Recht die Chance bekommen hast, deinen Lebensunterhalt mit deiner Musik zu bestreiten. Du willst es wirklich wissen, und das Ergebnis ist ein gutes Konzert.
Macht einen dieses Gefühl, vom Publikum gefeiert zu werden, süchtig?
Eine spannende Frage, auf die ich keine völlig zufriedenstellende Antwort habe. Bislang habe ich noch keine Entzugserscheinungen, haha. Ich bin wie ein Heroinabhängiger, dem es nicht an Heroin mangelt. Wie sich so ein Entzug anfühlt, werde ich spätestens dann merken, wenn ich eines Tages nicht mehr beliebt bin. Frag mich dann noch mal.
Eine deiner ersten Platten hatte den Titel „Campfire Punk Rock“, also „Lagerfeuer-Punkrock“. Das bringt mich auf Joe Strummer und den Film „The Future Is Unwritten“, in dem er darüber philosophiert, wie wichtig und verbindend dieses „Lagerfeuergefühl“ ist, das Vortragen von Songs nur begleitet von der akustischen Gitarre. Deine Lieder zeichnet aus, dass sie so einfach sind, dass sie eben sowohl im kleinen Kreise am Lagerfeuer wie auf der großen Bühne funktionieren.
Dann lass uns mal theoretisch oder philosophisch werden. Die Gitarre ist aus gutem Grund ein so dankbares Instrument. Es ist das demokratische Instrument des 21. Jahrhunderts. Man kann auf der Gitarre sehr einfach simple Akkorde spielen. Und man kann sie leicht überall hin mitnehmen, man kann sich sehr einfach beim Singen damit begleiten. Ein Klavier kannst du nicht mitnehmen, und eine Geige ist ein schönes Instrument, aber man sich damit nicht so ohne weiteres beim Singen begleiten. Das Akkordeon wiederum ist recht schwer zu spielen. Also ... die Gitarre. „Blowin’ in the wind“ von Bob Dylan bekommt eigentlich jeder hin. Und aus diesem Grund ist das Bild von einer Person, die sich beim Singen auf der Gitarre begleitet, so zeitlos und klassisch. So sehr ich es genieße, dieser Tage mit einer Band unterwegs zu sein und das neue Album als Rock-Album ansehe, letztlich denke ich doch, dass das Skelett meiner Musik auf dem Bild von einem Mann mit seiner Gitarre basiert. Diese Art zu Musizieren ist also das Rückgrat meiner Musik.
Viele meiner Lieblingsbands und -stücke sind auf dieses Prinzip von „Ein Mann und seine Gitarre“ rückführbar. Irgendwelcher bombastischer Progrock oder so funktioniert so reduziert nicht.
Da stimme ich dir absolut zu! Meine Songs – mit zwei Ausnahmen – basieren auf einer ganz normal gestimmten Gitarre. Ich hasse es, wenn Leute zehn Minuten an ihrer Gitarre rumfummeln müssen, um sie zu stimmen. Und ich habe Bands gesehen, die mussten ein Konzert abbrechen, weil ein Effektpedal kaputt gegangen war. Das ist doch albern. Ich liebe die Vorstellung, dass man mich kidnappen und irgendwo auf der Welt wieder aussetzen könnte, mir eine sechssaitige Gitarre in die Hand drückt und ich einfach losspielen könnte.
Würdest du dich als guten Gitarristen bezeichnen?
Ich war lange Jahre meines Lebens der Meinung, dass ich kein guter Gitarrist bin – ich kann beispielsweise keine Gitarrensoli spielen. Aber wenn mir jemand wie Rich Costey, der mein „Tape Deck Heart“-Album produziert, das Kompliment macht, ich sei einer der besten Rhythmusgitarristen, mit denen er gearbeitet habe, dann nehme ich das Kompliment an. Aber wer weiß, vielleicht hat der das ja auch nur gesagt, damit ich mich gut fühle, haha. Ich halte mich selbst für einen einigermaßen guten Rhythmusgitarristen, aber ein Leadgitarrist wie Jimi Hendrix bin ich nicht. Ich schreibe meine Songs erst mal so, dass ich mich selbst beim Singen begleiten kann, und die ganzen anderen Parts arrangieren wir dann später mit der Band drumherum. Ich muss mich dann immer bewusst daran erinnern, etwas weniger zu spielen, denn wenn ich die Songs schreibe, achte ich darauf, dass ich genug Lärm mache, damit der ganze Song begleitet ist. Wenn man aber noch Klavier, Orgel und elektrische Gitarren einbringen will, muss ich mich dazu zwingen, nicht klanglich den ganzen Song in Beschlag zu nehmen.
Hast du jemals Musikunterricht genommen?
Meine Eltern haben mich als Kind zum Klavierunterricht geschickt. Ich war nicht gut, ich habe es gehasst, ich habe nie geübt. Ich habe mich eine Weile durch den Unterricht geschleppt, bis mein Lehrer sagte, ich solle das besser bleiben lassen, Musik sei nicht mein Ding. Ich glaube, das wurde damals nichts, weil ich nicht übte, aber auf diese ganzen Mozart-Stücke und solchen Scheiß hatte ich einfach keinen Bock, das fand ich langweilig. Damals, ich war zehn oder elf, entdeckte ich gerade Metal und Punkrock, und ich wollte eine Gitarre, bekam die auch, und auf der übte ich jeden Tag, stundenlang. So wurde ich zum Musiker. Meine Karriere ist also ein einziges großes „Fuck you!“ an diese Klavierlehrerin. Den Namen verrate ich aber nicht, das wäre gemein.
Aufgenommen habt ihr das neue Album „Positive Songs For Negative People“ in Nashville in den USA. Hat das eine tiefere Bedeutung?
Der Ort nicht, der Produzent Butch Walker schon. Butch hat mir sehr dabei geholfen, dieses neue Album aus meinem Kopf auf Platte zu bekommen, er ist ein wichtiger Faktor dieses Albums. Da sein Studio in Nashville ist, flogen wir dorthin – wäre es in Berlin, hätten wir dort aufgenommen. Die Stadt spielte also keine Rolle. Den Aufnahmen ging eine lange Diskussion mit dem Label voraus. Ich hatte die Idee, das Album quasi live aufzunehmen, es also vorher richtig gut zu proben und es dann einzuspielen – wie schon oft. Ich wollte, dass das Album die Aura eines Debütalbums hat, denn Debütalben entstehen ja oft so, dass die Band seit zwei Jahren oder so die Songs ständig live spielt, dann ins Studio geht und einfach nur spielt, was sie hat, als wäre es ein Live-Auftritt. Die Leute vom Label hielten die Idee für bescheuert, also machte ich mich auf die Suche nach einem Produzenten, der versteht, was ich will. Das Label schlug mir auch ein paar vor, ich unterhielt mich mit einigen, aber keiner schien zu verstehen, worauf ich hinauswill oder hielt die Idee an sich für gut. Das war eine frustrierende Situation, doch letztlich kam ich dann auf Butch Walker, und nur fünf Minuten, nachdem wir uns das erste Mal getroffen hatten, wusste ich, dass es mit ihm hinhauen wird. Der hat einfach verstanden, was ich will, und er hat mich ermutigt, das Album so aufzunehmen – er sagte, er sei sicher, dass die Platte richtig gut werden würde. Und sie wurde gut – Applaus für Butch!
Was machte dich beim ersten Treffen so zuversichtlich, dass er der Richtige ist?
Zum einen ist er Produzent, zum anderen aber auch selbst Songwriter und Musiker. Er hat schon ein paar Soloalben gemacht, und „The Spade“ von 2011 finde ich richtig gut. Klasse Songs, super aufgenommen. Wenn man sich auf die Suche nach einem Produzenten macht, schaut man sich ja um, welche Platten, die man mag, von wem produziert wurden. Und als ich dann „The Spade“ von Butch Walker betrachtete und da stand „produced by Butch Walker“, kam ich mir wie ein Idiot vor. Ich stellte fest, dass er einer der derzeit bekanntesten Produzenten ist, der arbeitet mit Leuten wie Taylor Swift. Die Leute vom Label meinten, er sei viel zu teuer und das Preisniveau von Pop-Platten gewohnt. Ich war sauer, dass das nicht zu klappen schien, doch dann fand ich heraus, dass wir einen gemeinsamen Freund haben. Von dem bekam ich seine Mailadresse, schrieb ihm, und seine Antwort war: „Klar, lass uns das machen, ich finde deine Sachen auch super!“ Ich antwortete, ich sei mir aber nicht sicher, ob ich ihn mir würde leisten können, und er nur: „Hör doch auf mit so einem Scheiß! Du zahlst natürlich nur, was du dir leisten kannst!“
Wie siehst du die Rolle und Aufgabe eines Produzenten, wie sind deine Erfahrungen?
Die können ja die verschiedensten Rollen ausüben. Manche machen alles, andere nur sehr wenig, die stellen nur die Mikrofone auf. Und es gibt Typen wie Steve Albini, die gar nicht Produzent genannt werden wollen. Auf dem anderen Ende der Skala ist ein Typ wie Bob Rock, der auch noch bei der Hälfte der Songs der Platten mitspielt, die er produziert. Meine Erfahrung ist, dass sich Produzenten oft ins Arrangieren der Songs einmischen, aber auf solche Hilfe war ich nie aus. Die SLEEPING SOULS und ich bekommen das auch sehr gut selber hin, wir arbeiten da wirklich immer ewig dran, bevor wir uns überhaupt in die Nähe eines Studios oder eines Produzenten begeben. Die ersten Platten nahm ich zusammen mit Ben Lloyd auf, der bei den SLEEPING SOULS Gitarre spielt. Er wird als Produzent meiner ersten beiden Alben aufgeführt, aber eigentlich waren wir ja nur zwei Freunde, die gemeinsam die Songs aufgenommen haben, die ich im Kopf hatte. Das extremste Gegenstück dazu war die Arbeit mit Rich Costey an „Tape Deck Heart“, wir haben die Songs wirklich alle komplett auseinandergenommen und neu zusammengesetzt. Das war eine interessante Erfahrung, die ich bis dahin nicht kannte, und manche Aspekte daran waren richtig cool und wirkten sich positiv aus ... andere Erfahrungen brauche ich so schnell nicht mehr. Butchs Hauptaufgabe war es, einerseits im Studio für die richtige Atmosphäre zu sorgen, und andererseits sich darum zu kümmern, dass mich keiner stört. Er war sehr gut darin, dem Plattenlabel, das wissen wollte, wie es läuft, klarzumachen, dass sie sich verpissen sollen. Er hat es verstanden, uns in die richtige Stimmung zu versetzen für die Aufnahmen, so dass wir die beste Leistung hinlegen konnten, zu der wir in der Lage waren. Und ich glaube, das ist die wichtigste Aufgabe eines Produzenten: eine Band in die Lage zu versetzen, so gut zu sein wie nur möglich. Der Satz ist nicht von mir, aber er trifft es: „Die Aufgabe eines Produzenten ist es, eine Band besser zu machen, als sie es für möglich gehalten hätte.“ Und dafür muss man wohl so was wie ein Coach sein.
Du lebst schon lange in London, eine der teuersten Städte der Welt mit großen sozialen Problemen durch die Verdrängung Alteingesessener, die irgendwann die Miete nicht mehr zahlen können. Wie erlebst du die Veränderung deiner Stadt?
Meine Familie lebt schon immer in Nord-London und ist sehr groß – ich habe zig Cousinen und Cousins und kenne sie alle. Ich wuchs zwar in Winchester auf, aber wir waren damals ständig in Nord-London zu Besuch, das hat mich geprägt. Und ganz ehrlich, ich liebe London! Ich klinge da jetzt sicher etwas überschwänglich, aber es ist die tollste Stadt der Welt, I fuckin’ love it! Mein liebstes Hobby, wenn ich nicht gerade auf Tour bin, sind historische Spaziergänge durch die Stadt. Ich versuche irgendwelche historischen Orte zu finden, die man nicht so leicht entdeckt. Das macht unglaublichen Spaß, und auch deshalb ist London so großartig. Was nun deine Frage betrifft, so stimmt es, da ist in den letzten Jahren einiger Scheiß passiert, die Gentrifizierung schreitet voran. In meiner Lebenszeit konnte ich mitverfolgen, wie Soho an deren Folgen gestorben ist. Das ist wirklich eine Schande, weil es ein Künstlerviertel war. Aber: Die Kunst ist deshalb ja nicht gestorben, sie findet nur woanders statt. Und das geht heute natürlich weiter, in Camden, in Shoreditch, in Holloway. Und ja, es ist teuer, in London zu leben, aber das ist in den meisten großen Städten so. Bei Vice lief neulich so eine Serie mit dem Titel „Fuck London“ und die hat mich echt genervt, weil da auch ständig geklagt wurde, wie teuer London doch sei. Ja, es ist teuer, und es ist ein Kampf, in London zu überleben. Aber dieser Kampf bringt meiner Meinung nach eben auch oft große Kunst hervor. Die POGUES etwa zogen völlig abgebrannt nach London – und machten dort ihre besten Platten. London hat einfach Seele, und in die bin ich verliebt. Und trotzdem hasse ich einige dieser neuen Hochhäuser, die sie in letzter Zeit in der City gebaut haben. Außerdem: vieles, was so an Negativem über London berichtet wird, kann man auch in jeder anderen Großstadt finden, es ist also im Grunde keine spezifische Kritik an dieser Stadt. Ich bin gerade in Berlin, und was mir meine Freunde hier über die Veränderungen in Kreuzberg und Neukölln erzählen, klingt für mich sehr vertraut.
Sprechen wir über deine Geschichtspaziergänge: Hast du schon mal darüber nachgedacht, „Frank Turner History Walks“ anzubieten? Und was würdest du deinen Gästen zeigen?
Hahaha, genau, wenn meine Musikerkarriere zu Ende ist, werde ich Stadtführer! Wenn mich Freunde in London besuchen, führe ich sie in der Tat durch die Stadt. Das Reizvolle an vielen dieser historisch bedeutsamen Orte ist ihre Unauffälligkeit: du läufst daran vorbei und hast keine Ahnung, dass hier mal was Bedeutsames geschehen ist. Wenn man aber genau hinschaut, kann man die coolsten Dinge entdecken. Neulich zum Beispiel las ich in einem Buch etwas über einen speziellen Ort in Mayfair und so zog ich los, um den zu suchen. In den Sechzigern gab es eine Spionageaffäre um den Cambridge Spy Ring, und diese Agenten haben ihre Nachrichten hinter einer Klappe in einem Laternenmast versteckt. Und was soll ich sagen, dieser Laternenmast existiert noch! Man muss sich hinknien, und dann findet man eine kleine Klappe, und dahinter versteckten die damals ihre Geheimbotschaften. Wie cool ist das? Oder neulich, da zog ich los, um das Grab von John Milton zu finden, von dem das Gedicht „Paradise Lost“ stammt. Ich habe eine Weile gebraucht, und dann habe ich es gefunden – auf einem beeindruckenden alten Friedhof, von dessen Existenz ich bislang nichts gewusst hatte, obwohl ich da schon hunderte Male mit dem Bus dran vorbeigefahren war. Da sind jede Menge spannender Menschen begraben, Arbeiterführer, Vaudeville-Performer ... Solche Geschichten mag ich, und auf so was stößt man in London ständig, denn der Ort ist ja seit über 2.000 Jahren besiedelt. Die Stadt hat ihre ganz eigene Energie.
Ist es dieses Gefühl für Geschichte und Geschichten, das sich auch in deinen Songs und Texten niederschlägt?
Vielleicht. Ich urteile ungern selbst über mein Tun, das sollen andere machen.
Geschichten erzählen kannst du, und nicht nur in Songs, sondern auch in Buchform: Im März 2015 erschien, in Deutschland unbeachtet, dein Buch „The Road Beneath My Feet“, in dem du vom Leben auf Tour erzählst. Das Buch war in Großbritannien in den Bestsellerlisten.
Leider ist mein Deutsch nicht gut genug, um das Buch zu übersetzen, haha. Es ist ein Buch über „The road“, übers Touren. Als mich der Verlag fragte, ob ich nicht ein Buch schreiben wolle, sagte ich sofort nein, denn ich ging davon aus, dass sie eine Autobiografie im Sinn hatten. Mit Mitte dreißig so was zu schreiben ist aber Blödsinn, doch die ließen nicht locker, und so diskutierten wir über verschiedene Ideen. „Get In The Van“ von Henry Rollins hat mein Leben verändert, und etwas in der Art konnte ich mir vorstellen – ein Buch mit einem genau definierten Fokus. Und so schrieb ich ein Buch über acht Jahre auf Tour. Es machte einerseits Spaß, das zu schreiben, andererseits fiel es mir schwerer, als ich dachte. Ich ging das locker an – „Yeah, writing a book is not that hard“ –, aber irgendwann fühlte ich mich ziemlich bescheuert, so gedacht zu haben, denn es war verdammt hart. Es machte aber auch Spaß, wurde gut aufgenommen und landete in UK auf Platz eins der Verkaufscharts. Ich lese ja selbst sehr gerne Bücher über Musik, und als ich noch jünger war, nervte es mich immer, wenn Bücher über eine Band langweilig geschrieben waren. Der interessanteste Teil kam mir oft zu kurz: Wie wurde die Band groß, wie schaffte sie es aus den kleinen Clubs in die großen und dann in die Stadien? Ich wollte wissen, wie es ist, auf Tour zu sein. Ich hoffe deshalb, dass mein Buch interessant für Leute ist, die wissen wollen, wie das so ist.
So viel du von dir erzählst, so merkt man doch, dass du deine Privatsphäre zu schützen versuchst. Wie persönlich ist das Buch also?
Ich versuche, mein Privatleben zu schützen, denn ich will nicht verrückt werden. Das Buch ist persönlich, aber es hat Grenzen, denn auch wenn ich eine Person des öffentlichen Lebens bin, trifft das ja nicht auf die Menschen aus meinem direkten Umfeld zu. Entsprechend äußere ich mich über diese Menschen auch nicht in der Öffentlichkeit. An den entsprechenden Stellen war ich deshalb besonders vorsichtig. Meine Mutter kaufte sich leider auch ein Exemplar des Buches, und meinte nach dem Lesen, es gäbe da ein paar Stellen, über die sie sich gerne mal mit mir unterhalten wolle. Goddamnit! Ich nahm eben eine Menge Drogen, als ich jung war, und ja, ich hatte auch Frauengeschichten auf Tour, über die ich schreibe. Und meine Mutter wollte genau über diese Passagen mit mir reden ...
Wie ehrlich kann man aber sein, wenn man Menschen in seinem Umfeld schützen will? Das verhindert in künstlerischer Hinsicht ja völlige, kompromisslose Offenheit, die große literarische Werke oft auszeichnet.
Von ein paar wenigen Stellen abgesehen fand ich es recht leicht, instinktiv zu entscheiden, wie weit ich gehen kann, wo die Linie zwischen meinem öffentlichen und meinem Privatleben ist. Eine Ausnahme davon ist das „Tape Deck Hear“-Album, einfach deshalb, weil es ein „Schlussmach-Album“ ist. Es ist sehr persönlich, und es geht ganz offensichtlich um eine ganz bestimmte Person, die ich allerdings nicht beim Namen nenne. Wer mich aber privat kennt, der weiß natürlich, wer da gemeint ist. Ich habe viel über dieses Platte nachgedacht, ob es okay ist, bestimmte Dinge zu sagen, und ich bin bis heute nicht sicher, ob das alles 100% okay war.
Andere Musiker und Künstler haben scheinbar kein Problem damit, etwa die sinnfreiesten Fotos via Instagram zu veröffentlichen, und manche Celebrities existieren ja nur deshalb, weil sie so öffentlich privat sind.
Also Celebrities definiere ich als Menschen, die berühmt sein wollen um des Berühmtseins willen, und so was finde ich abstoßend. Ich bin Musiker, ich will ein guter und erfolgreicher Musiker sein, und ich will von möglichst vielen Menschen als Musiker anerkannt sein. Aber ich will nicht, dass sich irgendwer dafür interessiert, was ich zum Frühstück hatte. Wen soll so was interessieren?
Fans zum Beispiel. Wenn dein Freund Chuck Ragan Fotos vom Angeln oder seinen Hunden postet, sind die Fans begeistert und fühlen sich ihm nahe.
Ja, aber Chucks Angelausflüge sind sicher der harmloseste Teil seines Lebens, hahaha. Der lässt sich ja nicht über seine Ehe aus oder sonst etwas Privates. Wenn ich Fotos von mir mit Hunden poste, ist das zwar auch privat, denn ich liebe Hunde, aber innerhalb gewisser Grenzen.
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