FRANK TURNER

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The Road Beneath My Feet

Musiker, die plötzlich Bücher schreiben, gibt es zuhauf, immerhin verkauft sich Literatur besser als CDs. Meistens wird das allerdings nichts. Langweilige Biografien von Bands, die in einem Moment noch unentdeckt auf Stadtfesten spielen, treten 100 Seiten weiter bereits bei riesigen Open Airs auf, fahren dicke Autos, daten Models und nehmen das sechste Album auf. Es gibt allerdings Ausnahmen: Henry Rollins’ „Get in the Van“ ist sicherlich eine davon. Eben dieses Buch war das Vorbild für Frank Turners Tourerinnerungen „The Road Beneath My Feet“, die nun auch auf Deutsch zu haben sind. Übersetzt von, nun ja ... mir.

Aber wie kam ich auf die zunächst reichlich aussichtslose, aber arbeitsreiche Idee, Turners Buch aus dem Englischen ins Deutsche zu übersetzen? Der Gedanke setzte sich eigentlich recht simpel in meinen Kopf fest. Zur Veröffentlichung von Turners aktuellem Studioalbum „Positive Songs For Negative People“ gab es ein großes Interview im Ox-Fanzine, bei dem auch das Buch thematisiert wurde. Es kam zur Sprache, dass (leider) keine deutsche Übersetzung geplant sei. Ich dachte, das würde mich aber interessieren – also, warum es nicht selber machen? Ich habe schon immer gerne etwas „gemacht“. CD-Sampler veröffentlicht, kleine Konzerte veranstaltet, aufgelegt und nicht zuletzt geschrieben. Geld war nie der Antrieb, sondern der Wunsch und das Bedürfnis, etwas auf die Beine zu stellen.

D.I.Y. war mir zwar ein Begriff, aber identifiziert habe ich mich damit nicht. Obwohl ich genau das immer gelebt habe. Das wurde mir erst während der Arbeit an der Übersetzung bewusst. Vielleicht wäre ich ohne die Erfahrungen, die ich bei diversen Fanzines und Blogs sammeln durfte, nie auf die Idee gekommen, die erste Seite des Buchs zu übersetzen, und dann die nächste und dann noch eine. Wahrscheinlich wäre ich vor der vermeintlichen Unmöglichkeit zurückgeschreckt. Warum etwas anfangen, das sowieso nicht zu Ende gebracht wird, hätte ich vielleicht gedacht und mir damit selber im Weg gestanden. Fünf Monate später war schließlich jede einzelne Seite übersetzt.

So euphorisierend es war, die komplette Übersetzung in den Händen zu halten, so demoralisierend war es, sich die schlechte Qualität eingestehen zu müssen. Die gesamte Arbeit erschien plötzlich wertlos, weil das Skript unlesbar war. Natürlich, die Sätze standen nun Schwarz auf Weiß auf dem Papier, nur ohne jeglichen brauchbaren Lesefluss. Nun begann die eigentliche Arbeit. Mehrere Male musste der komplette Text überarbeitet werden. Ich bezweifle, dass überhaupt noch ein Satz aus dem ersten Entwurf stehen geblieben ist. Und nun, fast eineinhalb Jahre, nachdem ich den ersten Satz tippte, erscheint die Übersetzung unter dem englischen Originaltitel „The Road Beneath My Feet“ in Deutschland im Ventil Verlag.

Bei dem Buch handelt es sich nicht um eine Autobiografie. Darauf legt der Autor wert. Der deutsche Untertitel „Tourtagebuch“ beschreibt den Inhalt am besten. Frank Turner erzählt, wie er nach dem Ende seiner Band MILLION DEAD beschloss, mit einer Akustikgitarre alleine weiter Musik zu machen. Er stand in Folge auf kleinen Bühnen in irgendwelchen Pubs auf der britischen Insel, trat früh am Morgen auf Festivals auf, absolvierte kleine D.I.Y.-Touren in den USA, gefolgt von Supportauftritten zunächst in UK, später auch in den USA und Europa und ersten Aufnahmen als Solokünstler bis hin zu Konzerten in größeren Hallen. Das Buch beschreibt den Weg, den Frank Turner ging, und unterstreicht den Versuch, sich so gut es geht treu zu bleiben, seine Integrität zu bewahren und trotzdem Veränderungen zuzulassen.

Seltsamerweise kann ich mich mit vielen Schritten und vor allem Entwicklungen von Frank Turner identifizieren. Klar, ich stehe nicht auf der Bühne, schreibe keine Songs und wahrscheinlich berühre ich auch niemanden mit dem, was ich schreibe. Aber den Weg von kleinem (Anarcho-)Punker hin zu einer liberaleren Weltsicht, ja fast schon einem bürgerlichen Leben kann ich nachvollziehen. Diese Entwicklung und Veränderung des Wesens, nennt es von mir aus Erwachsenwerden, spiegelt sich eben auch im Musikgeschmack wider. „Dookie“ war wichtig für mich, „Schlachtrufe BRD“ kam später dazu und irgendwann auch FUGAZI oder HOT WATER MUSIC. Und dann war Schluss. Nichts gegen die alten Helden, die Platten sind immer noch gut. Aber andere Musik klang interessanter: Ryan Adams, THE HOLD STEADY, Jesse Malin, Tom Waits, die WEAKERTHANS und eben auch Frank Turner.

Dieser vernichtende und bittere Abgesang auf Punkrock („Love ire & song“), der schreckliche Morgen danach, wenn man in einem fremden Haus aufwacht („The real damage“), oder Freundschaften, die ewig halten oder auch nicht („Dan’s song“, „Polaroid picture“) und, ja auch, die Romantisierung des Reisens und Unterwegsseins („The road“ und viele, sehr viele andere), sprachen oder sprechen mich bei Turners Musik an. Seine Lieder haben fast alle einen positiven Grundton, zeigen oftmals einen gewaltigen Mittelfinger in Richtung derer, die sagen, etwas müsste so oder so sein, und die Stücke sind stets ehrlich und aufrichtig. Das heißt nicht, dass mich eine gutgemachte Punkrock-Platte nicht noch immer umhauen kann. Es gibt nur leider zu wenig davon.

Aber darum geht es eigentlich überhaupt nicht. Jeder hätte dieses Buch übersetzen können (zeitweise hatte ich sogar Angst, dass jemand das tut und schneller ist als ich). Genauso kann jeder ein Fanzine starten, einen Blog, ein eigenes Buch schreiben oder Konzerte veranstalten. „Machen“ ist besser, als stundenlang sinnlose Kommentare bei Facebook zu lesen und dann noch mehr Zeit damit zu vergeuden, sich über die Dummheit der Menschheit aufzuregen. Wenn ich daran denke, wie viel Zeit ich in meinem Leben vertrödelt habe, in der ich etwas Sinnvolleres hätte machen können, wird mir ganz anders. Es heißt: Verschwende deine Jugend. Das ist richtig, aber das Erwachsenenalter sollte nicht verschwendet, sondern genutzt werden. Kauft das Buch. Ich habe mir viel Mühe mit der Übersetzung gegeben. Vielleicht ist es nicht perfekt. Aber es ist aus ehrlicher Handarbeit entstanden, nach Feierabend, in der Mittagspause, am Wochenende, mit Jetlag in Hotels, an Flughäfen, in Zügen und Cafés, in jeder freien Minute. Es hat Spaß gemacht, daran zu arbeiten. Aber jetzt mache ich etwas anderes, etwas Neues. Mal sehen, was das wird.



 


Show #155 / Fontaine Palace, Liepaja / Lettland, 4. August 2006

Nach meinem erfolgreichen ersten Ausflug nach Lettland im Frühjahr beschlossen Edgars und ich, uns an einer etwas ambitionierteren Tour zu versuchen. Diesmal im Sommer, wenn keine Unmengen Schnee lagen. Es kam eine Tour zusammen, die auf dem Fonofest-Festival in Cesis in Lettland startete und uns schließlich nach Finnland, Russland, Litauen und Estland bringen sollte. Wie zuvor begleitete mich Jamie Grime auf diesem Osteuropa-Abenteuer.

Das Fonofest war absolut toll – und das, obwohl Jamie es schaffte, sich mit einem Einkaufswagen auf einem BMX-Parcours zu verletzen, aber das ist eine andere Geschichte –, danach ging es weiter nach Norden. In Finnland spielte ich auf einem Festival an einem See, an einem endlos hellen Sommerabend in Lohja. Dann ging es weiter nach Russland. Das war wirklich Neuland für mich. Ich brauchte zunächst ein Visum, um ins Land zu kommen – kein einfaches Unterfangen. Wir nahmen schließlich einen Zug nach St. Petersburg und trafen Vetal, unseren russischen Kontaktmann, und seinen Partner Denis. Nach dem Konzert in St. Petersburg und zwei in Moskau nahmen wir einen Nachtzug zurück nach Lettland.

Wir waren wohl die einzigen zwei Westeuropäer im Zug. Obwohl Vetal uns zum Zug brachte und unser Schlafabteil zeigte, fühlten wir uns überhaupt nicht wohl. Die anderen Passagiere wunderten sich über die beiden Engländer und fragten sich wahrscheinlich, was wir hier zu suchen hätten. Es gab einen wesentlich schnelleren, aber auch teureren Zug, der für die gleiche Strecke nur vier Stunden brauchte, statt der sechzehn Stunden, die unsere Variante dauern würde: ein unbequemer Zug auf einer Inlandsstrecke, in dem alles an die Sowjetunion selig erinnerte. Unsere Mitreisenden waren keinesfalls unhöflich. Wir kamen mit Dimitri, einem etwa fünfzehnjährigen Russen, ins Gespräch, der in der Koje unter uns schlief. Er erzählte, er sei auf der letzten Etappe zurück von Sibirien, wo er seine Großmutter besucht hatte, nach Lettland, wo er wohnte. Die Zugfahrt allein von ihrem Haus bis nach Moskau dauerte drei ganze Tage. Plötzlich fühlte sich unsere missliche Lage weniger schlimm an. Dimitri gefiel es, sein Englisch aufzubessern, und er stellte uns seine Schwester vor, die ebenfalls im Zug saß. Wir aßen unseren Proviant und schliefen bald ein.

An der Grenze wurden wir am nächsten Tag gegen sechs Uhr morgens von einer russischen Grenzpolizistin geweckt, die unsere Papiere prüfte. Würde ich eine Geschichte über Russland schreiben, würde ich jetzt alle Vorurteile bedienen. Sie war stämmig, aufdringlich, sah aus wie ein Mann und schrie uns in einer kruden Mixtur aus englischen und russischen Vokabeln an. Sie schien sehr glücklich darüber zu sein, es ein paar Engländern zeigen zu können. Nachdem sie uns von oben bis unten gemustert hatte, ging sie aus dem Zug, zu ihren uniformierten Kollegen in eine Hütte neben den Schienen. Nach einem kurzen Gespräch kam sie zurück, deutete auf Jamie und mich, dann auf unsere Rucksäcke und meiner Gitarre.

Sie schrie triumphierend: „Buggush!“ Jamie und ich wussten nicht was sie meinte, waren uns aber bewusst, dass sie noch immer unsere Pässe in der Hand hielt. Wir zuckten unschuldig mit den Schultern.

„Buggush!“, schrie sie wieder. Spätestens jetzt bekam jeder im Wagon mit, dass etwas los war, und wir wurden interessiert beobachtet. Von nun an schob ich Panik – ich beschäftige mich nicht gerade gerne mit Offiziellen – und versuchte zu verstehen, was sie von uns wollte. Nach ein paar weiteren „Buggush“ begriff ich, sie meinte „Baggage“. Sie wollte unser Gepäck durchsuchen. Wir gaben ihr also unsere Sachen und ließen sie den Inhalt durchstöbern. Sie schien etwas enttäuscht zu sein, keine zusammengerollten Dollarbündel, russische Staatsgeheimnisse, versteckte Waisenkinder oder was auch immer zu finden. Als sie alles durchsucht hatte, überlegte sie kurz, streckte dann ihre Hand aus und verlangte wütend: „Zweihundert Rubel“!

Damit hatte ich schon gerechnet und der Tatsache geschuldet, dass sie umgerechnet vier Pfund verlangte, war ich bereit zu zahlen. Bevor ich unsere letzten Rubel hervorkramen konnte, sprang Dimitri halbnackt aus seinem Bett.

„Njet!“, brüllte er mit der Stimme der Gerechten. Jamie und ich standen dumm in der Ecke und glaubten nicht, was wir sahen: Ein fünfzehnjähriges halbnacktes Kind setzte sich für uns ein und hielt der Polizistin eine Predigt über Unterdrückung. Wir verstanden nicht, was er sagte, aber er holte richtig aus und erhob ständig den Finger. Die anderen Passagiere waren mindestens genauso beeindruckt und fixierten unterschiedliche Punkte im Abteil, um nicht aufzufallen. Es war fast so wie in einer russischen Version von „Braveheart“. Als er seine Rede beendet hatte, warf die Grenzbeamtin unsere Pässe aufs Bett, drehte sich um und winkte uns über die Grenze.

Es stellte sich raus, dass Dimitri, als patriotischer Russe, sauer auf die Frau war, die alle Vorurteile über Russland oder wenigstens die über die offiziellen Organe und deren Korruptheit bestätigte. Er hatte ihr eindringlich erklärt, dass sie nicht von uns stehlen sollte und als sie merkte, dass sich die Stimmung im Zug gegen sie wandte, ließ sie uns in Ruhe. Ich hatte nie zuvor erlebt, wie ein kleiner Junge mit so großem Mut gegen eine Autoritätsperson vorging – er bleibt für mich ewig ein Held.

Dieser kleine Zwischenfall war allerdings nicht der verrückteste Vorfall auf unserer Reise. Ein paar Tage danach passierte etwas, von dem Jamie und ich seitdem nur noch als „schlimmsten Tag aller Zeiten auf Tour“ sprachen.

Den Abend zuvor spielte ich eine Show in Tallin, der atemberaubend schönen Hauptstadt Estlands, des nördlichsten der drei baltischen Staaten. Es waren nicht viele Leute da, aber sie waren enthusiastisch. Leider war ich zusammen mit einer lokalen HipHop-Band gebucht, die eine arische Attitüde an den Tag legte, die wirklich widerlich war. Der Plan war, am nächsten Morgen den Bus nach Riga zu nehmen, dort unseren Freund Andzs zu treffen und zusammen im Süden die Grenze zu Litauen zu passieren, wo ich für einen Festivalauftritt gebucht war. Schon auf der Karte sah das wie eine echte Herausforderung aus. Die baltischen Staaten sind allerdings alle recht klein, daher waren wir zuversichtlich, es rechtzeitig zu schaffen.

Als wir an der Station ankamen, erfuhren wir zunächst, dass der Bus komplett ausgebucht war, obwohl die Website des Unternehmens noch freie Plätze anzeigte. Der Bus war zwar vollgestopft, aber wir entdeckten noch ein paar freie Sitzplätze. Da es sich um die einzige Verbindung an diesem Tag handelte, mussten wir irgendwie mitkommen. Wir drückten dem Fahrer eine Handvoll dieser seltsamen estnischen Währung in die Hand und er winkte uns an Bord.

Dieser Teil des Trips verlief okay. Bis auf die Drogenkontrolle mit Spürhunden an der Grenze und die Tatsache, dass ich fast meinen Reisepass verloren hätte, als ich den Bus in Riga verlassen musste. Wir machten uns quer durch die Stadt auf den Weg zu Andzs’ Wohnung und kurze Zeit später verließen wir Riga in seiner Schrottkarre. Zum Glück ist Jamie ein wirklich guter Mechaniker und kann Dinge reparieren, bei denen selbst MacGyver blass aussieht. Nach einer halben Stunde unter der Motorhaube, um ein kaputtes Rohr zu reparieren – oder eine Leitung? Oder war es der Kühler? Scheiß drauf – was verstehe ich von Autos? –, ging es weiter. Wenn auch langsamer als zuvor. Ein paar Stunden später, viel später als geplant, erreichten wir die Grenze.

Frank Turner