FAHNENFLUCHT

Foto© by Tim Mithöfer

Eiscreme für Verlierer

Beim letzten Album gab es noch Knatsch: Der Titel war fertig. Die Promo stand. Und dann funkten ihnen Kollegen (ungewollt) mit einer Art „Titelklau“ dazwischen. Dieses Mal, beim neuen Album, dürfte ihnen das nicht passieren – zu eigen und kurios ist der Name „Molotov Zitrone“, den FAHNENFLUCHT für die Platte wählten. Und wie sie klingt? Aggressiv wie immer. Politisch wie immer. Wütend wie immer. Absolut in der Historie dieser seit 28 Jahre existierenden Band verwurzelt eben. Und doch auch ein wenig optimistischer und introspektiver als die Alben zuvor. Wir haben die beiden Gitarristen Mole und Kai sowie Schlagzeuger Jan zu „Molotov Zitrone“ befragt.

Was machen Mitglieder einer Band wie FAHNENFLUCHT eigentlich beruflich?

Jan: Ich bin freiberuflicher Grafikdesigner und Art Director. Ich mache Logo-Design und Branding für Unternehmen. Kleine, große – da ist alles dabei.

Wirst du von den Jungs auch an die Bandsachen rangelassen?
Jan: Ja. Ich mache diesbezüglich eigentlich alles und genieße ihr Vertrauen. Da kann ich machen, was ich will – in Absprache mit den anderen. Es werden Vorschläge in den Raum geschmissen. Es wird ein bisschen drüber geredet. Und dann wird entschieden. Der Vorteil: Wir brauchen so was nicht rauszugeben und an Externe zu vergeben. Warum auch?
Mole: Wenn Grafiksachen anstehen, ist der Jan derjenige, zu dem wir sagen: „Mach mal!“
Jan: Wobei ich zugeben muss: Es ist nicht immer so einfach, den Geschmack von allen zu treffen. Aber mit ein wenig Überzeugungsarbeit klappt’s am Ende meist.

Und stellst du das der Band in Rechnung?
Jan: Haha, nein. Ich verdiene mit dieser Arbeit zwar tatsächlich mein Geld. Aber für die Band wird es natürlich unentgeltlich gemacht.
Kai: Ich bin seit diesem Jahr Doktorand im Bereich Bioinformatik und arbeite sonst noch als Informatiker. Vorher war ich lange Gitarrenlehrer.
Mole: Ich bin die stellvertretende Leitung eines Kindergartens.

Oha. Wissen die Kinder dort, dass du in der Band spielst?
Mole: Ja, aber die Kinder in meiner Gruppe sind drei bis sechs Jahre alt. Die bekommen das nur so ein bisschen nebenbei mit. Viele sind nicht im Bereich Punk unterwegs. Immerhin, bei dem Kindergarten, in dem ich früher gearbeitet habe, ist so was vorgekommen, da standen tatsächlich mal Eltern vor der Bühne. Das war ganz lustig.

Euer neues Album heißt „Molotov Zitrone“. Hört sich interessant an. Irgendwie zwischen hart und bittersüß. Zwischen Randale und Zitroneneis.
Kai: Das trifft es gut. Der Titel steht auf der einen Seite für Resistenz, Widerstand. Auf der anderen Seite für die Zitrone, eine Frucht. Und dieser Gegensatz spiegelt die Songs irgendwie wider: Es gibt in ihnen jetzt auch ein paar Elemente, die ein bisschen biografischer sind, ein bisschen zugänglicher vielleicht. Und trotzdem bleiben auf der anderen Seite dieselben Themen wir früher, politische, gesellschaftskritische. Das ist so in etwa der rote Faden, an dem entlang man die Platte spinnen könnte, wenn man wollte.
Jan: Am Ende hat aber jeder eine andere Interpretation des Titels. Und das ist Absicht, wir wollten das ein Stück weit offen lassen. Jeder kann sich selber etwas denken.
Mole: Es ist eine Symbiose. „Molotov“ ist aggressiv – was immer schon in unserer Musik steckte. Zitrone ist positiver – wie einige Stücke auf dem neuen Album. Optimistische Stücke. Was für uns ziemlich untypisch ist, wenn man sich die alten Platten anhört. Es ist letztlich ein cooler Mix.
Jan: Du hast aber recht, wenn du von „Zitroneneis“ sprichst: Der Name hört sich tatsächlich irgendwie nach einem Eis an. Nach einem mit Geschmacksrichtung Molotov Zitrone quasi, das neben dem Zitronigen eben auch dieses rauchige Benzinaroma hat. Ein Eis, das brennt. Man kann das wunderbar immer weiterspinnen. Das ist ja auch eine Stärke dieses Titels. Eine, die gewissermaßen auch im Text aufgegriffen wird: „Eiscreme für Verlierer: Molotov Zitrone.“

Immerhin dürftet ihr im Falle von „Molotov Zitrone“ keinen Ärger mit dem Titel gehabt haben. Im Interview zum Vorgänger „Weiter Weiter“ 2021 war das anders. Damals sagtet ihr, ihr hättet eigentlich einen anderen Titel für die Platte gehabt, musstet aber feststellen, dass eine andere Band aus eurem Kosmos kurz zuvor schon auf die gleiche Idee gekommen war. Seinerzeit habt ihr den Namen der Band nicht genannt. Könnt ihr ihn jetzt, drei Jahre später, enthüllen?
Kai: Klar, das ist ja jetzt kein Geheimnis mehr. Es war damals tatsächlich so, dass der Albumtitel stand und es auch schon Ideen zum Artwork gab. Ich hatte damit schon angefangen. Und dann haben 100 KILO HERZ einen Post auf Instagram gemacht und ihr neues Album angekündigt: „Stadt Land Flucht“. Und wir waren etwas angepisst, haha.
Mole: Wobei ich sagen muss: Wir waren nicht sauer auf 100 KILO HERZ. Die konnten ja nichts dafür, dass sie die gleiche Idee hatten. Es war wirklich dieses „Zwei Dumme, ein Gedanke“. Und wir haben uns einfach nur geärgert, dass wir in dem ganzen Prozess so weit waren, uns voll auf „Stadt Land Flucht“ eingestellt hatten – und alles wieder umwerfen mussten.

„Molotov Zitrone“ ist nicht nur ein wenig positiver, wie du schon sagtest, Mole. Es ist auch nicht mehr nur ausgewiesen politisch und durchweg aggressiv, wie man das von FAHNENFLUCHT gewöhnt ist. Die Platte ist persönlicher. Vielseitiger. Inhaltlich irgendwie tiefergehend und intimer. Woher rührt das?
Mole: Wir werden alle älter. Wir haben viel mehr persönliche Erfahrungen als mit 18. Bei einigen von uns ist Familie dazugekommen. Und dementsprechend passieren eben eine Menge Dinge, neue Dinge. Das arbeitet in uns. Und das wollen wir natürlich dementsprechend auch verarbeiten. Politisch haben wir ja eigentlich immer schon zu allem etwas gesagt. Nun muss man seine Perspektive, sein Themenfeld aber auch mal erweitern. Dieses Album spricht jedenfalls uns und vielen anderen Menschen in unserem Umfeld aus der Seele. Das ist sehr schön. Es ist schön zu hören, dass diese Songs Menschen berühren.
Jan: Irgendwann saßen wir zusammen und haben überlegt: Was wollen wir überhaupt für ein Album machen? Dann hat jeder seine Themen genannt. Wir haben uns das angehört – und nicht sofort verworfen. Denn wir wussten, wir brauchen ja nicht wieder 12, 13 Stücke über die gleichen Themen wie immer. Natürlich, politische Stücke sind nach wie vor wichtig und werden immer zu FAHHNENFLUCHT gehören. Es ist ja nach wie vor vieles scheiße da draußen. Es muss viel getan werden. Aber wir wollten eben auch mal andere Themen aufgreifen. Und ich denke, das ist uns gelingen. Wir sind sehr offen gewesen. Auch musikalisch – nimm diesen 1980er-Jahre-Sound, der in ein, zwei Stücken vorkommt. Da war das Motto: Okay, lass uns das machen. Lass uns doch einfach eine Mucke machen, die wir selber gerne abseits der Band anhören würden. Was sollte uns daran hindern? Nur der Umstand, dass die vielleicht nicht sofort diesen Stempel „FAHNENFLUCHT“ hat?
Mole: Um das zu ergänzen, wir mussten uns nicht sagen: Jetzt müssen wir wie FAHNENFLUCHT klingen! Denn wir sind ja die Band. Also warum Grenzen setzen? Warum schauen, was von uns erwartet wird? Selbst wenn wir ein Rap-Stück aufnehmen würden, wäre es ja immer noch FAHNENFLUCHT.
Jan: Wenn ich eine neue Platte von einer Band höre, die ich mag, und höre, dass die mal wieder gleich klingt, dann verliert das bei mir völlig an Reiz. Ich finde zum Beispiel das, was F*CKING ANGRY machen, richtig cool. Die haben ja auch einfach mal gemacht, worauf sie Bock hatten. Und das hört man. Das ist einfach toll.
Mole: Man wird ja als Musiker auch reifer und entwickelt Ambitionen, ein wenig weiter zu schauen. Man wird älter, der Tellerrand wird größer. Und man will dann über den hinausschauen und nicht immer nur in der gleichen Blase bleiben. Wenn ich jetzt auf mich persönlich schaue, dann sehe ich das ja: Ich habe früher angefangen mit Skatepunk. Mittlerweile aber bin ich in so vielen Musikbereichen unterwegs, dass ich immer weiter gucken und nicht an einem Punkt stehenbleiben will. Wir werden ja auch musikalisch ein bisschen reifer, dann irgendwann.
Jan: Unser Sänger Thomas sagte zudem: Dadurch, dass die letzte Platte so ultra aggressiv war, wolle er dieses Mal ein bisschen mehr mit seiner Stimme arbeiten und nicht nur schreien. Er wollte mehr ausprobieren und experimentieren.

Im Song „Die Letzten“ verknüpft ihr 1980er-Popkultur mit heute. Was hat denn die Letzte Generation mit dem „Terminator“, „Major Tom“ und „99 Luftballons“ zu tun?
Kai: Wir ziehen einen Bogen von den 1980er Jahren ins Heute. Damals gab es ja auch schon diese dystopischen Filme wie „Mad Max“ und „Terminator“ und Songs wie„Major Tom“, die das spiegelten, was auf der Welt passiert. Und heutzutage ist es eben die Letzte Generation, die darauf hinweist. Der Song ist also ein Schulterschluss mit der aktuellen Generation. Mit den Aktivistinnen und Aktivisten von heute. Und wir spannen den Bogen in die damalige Zeit.

Ihr singt „Am Tag der Rache gibt es Gerechtigkeit“. Bei so was horche ich immer auf. Denn „Rache“ erachte ich als sehr hartes Wort. Es ist ein Wort, mit dem man sehr vorsichtig umgehen muss. Gerade heutzutage. Genauso wie etwa mit dem Wort „Hass“.
Mole: Es gibt auf jeden Fall einige Sachen, bei denen man diskutieren kann, ob man sie macht oder nicht. Ob man etwas so oder so betiteln kann oder soll. Und auch ich habe anfangs zugegebenermaßen so ein bisschen mit dem Wort „Rache“ gehadert. Einerseits. Aber andererseits gibt es zum Beispiel einen tollen Song von TODESKOMMANDO ATOMSTURM namens „Früher war da doch mal Hass“. Und der ist trotz des Begriffs und des Themas „Hass“ großartig. Und unter anderem vor diesem Hintergrund habe ich mich dann am Ende auch mit dem Wort „Rache“ angefreundet. Beziehungsweise gab es viele Diskussionen. Aber wir haben uns dann auch gesagt: Warum soll man das nicht so sagen? Es passt ja!

Was lässt euch tatsächlich so optimistisch sein?
Mole: Mich lassen meine Frau und mein Kind optimistisch sein. Ganz einfach. Wir sind keine 18 mehr. Wir sind nicht mehr die Pseudo-Revoluzzer, die wir damals waren, und betrachten alles negativ, mit Che Guevara auf der Tasche. Aber wir stehen ja trotzdem für Sachen und Werte ein. Und das ist wichtig. Nur wir sind im Endeffekt ein Teil des Ganzen. Zu dem gehören es positive wie negative Sachen. Und von denen muss man auch die positiven mal erwähnen. Man muss nicht immer schlecht gelaunt sein.

Und wenn es trotzdem mal um Dinge geht, die schlechte Laune machen: Seht ihr es, als ausgewiesen politische Band, als eure Aufgabe und Pflicht an, Meinungen kundzutun?
Jan: Das hat mit der Musik meiner Meinung nach nichts zu tun. Ehrlich gesagt wäre es auch so, wenn ich keine Musik machen würde. Das ist einfach unsere Einstellung. Deswegen sind wir überhaupt erst zusammengekommen. Insofern wäre es merkwürdig, wenn wir nicht so handeln und das nicht als Teil von uns sehen würden. Wobei die Musik natürlich ein zusätzliches Ventil ist. Wir sind zwar nicht die Art Band, die auf der Bühne viel redet oder erzählt. Aber wir machen Musik. Und die machen wir, weil wir uns durch sie besser ausdrücken können. Ansonsten würden wir vielleicht bei irgendwelchen Podiumsdiskussionen Vorträge halten, haha.

Ich frage, weil ihr euch ja mitunter auch in den sozialen Medien äußern müsst. Die sprecht ihr im Song „Bildschirmzeit“ an. Und da ist es für mich persönlich bei all dem Müll, den ich dort mittlerweile in politischen Dingen lese, stets eine Gratwanderung zwischen „Ich lasse jetzt mal Dampf ab und kommentiere gegen diesen und jenen menschenverachtenden Post“ und „Es hat eh keinen Sinn, ich verbrenne hier nur Lebenszeit, also lasse ich es sein“. Wie handhabt ihr das?
Jan: Kommentarspalten finde ich richtig furchtbar. Ich erwische mich dabei, dass ich ganz genau weiß, was ich gleich lesen werde, wenn ich auf bestimmte Posts klicke. Und ganz oft denke ich mir dann: Nee, eigentlich will ich mir das gar nicht durchlesen. Letztlich habe ich eigentlich gar keinen Bock auf Social Media.
Mole: Ich meide Social Media mittlerweile sogar eher und schaue nur noch ab und zu mal kurz, ob irgendwelche Bekannten oder Kollegen von mir geschrieben haben. Oder ob Bands, die ich mag, etwas gepostet haben. Ansonsten möchte ich mich lieber im realen Leben bewegen und nicht irgendwelche dummen Bauerndorf-Stammtischparolen von irgendwelchen Vollpfosten lesen, deren Meinung man eh nicht ändern kann, wenn man ihnen antwortet. Die wollen einen doch nur triggern, also geht man am besten gar nicht darauf ein.