Für Alfred Hilsberg war der Anstoß zur Gründung seines Labels ZickZack im Jahr 1980 in Hamburg nach eigenen Angaben die Mentalität von Punk. Etwas, das gegen die herrschende Strömung gerichtet war, gegen die tote Rockmusik mit ihren endlosen Gitarrensoli und aufgeblasenen Live-Shows. Hilsberg war aber auch Journalist bei der Musikzeitschrift Sounds und gilt als derjenige, der den Begriff „Neue Deutsche Welle“ (NDW) geschaffen hatte als Teil einer Überschrift eines Beitrags, den er Ende 1979 schrieb („Neue Deutsche Welle – Aus grauer Städte Mauern“). Rückblickend sieht er dies kritisch. Anfang 2016 erklärte er in einem Zeit-Interview, der Begriff NDW sei gegen seinen Willen für den Artikel genommen worden. Gleichwohl hat sich unter dieser schwammigen Bezeichnung Anfang der Achtziger viel kreatives Potenzial versammelt (um allerdings später in der absoluten Belanglosigkeit zu versanden), das kuriose Veröffentlichungen hervorbrachte. Viele Bands dieser Aufbruchszeit streiften andere Genres, die beispielsweise mit elektronischer Musik sympathisierten (Synthie-Pop), so wie Punk und New Wave, aber auch Malerei, Literatur bis hin zu Dadaismus.
PALAIS SCHAUMBURG „s/t“ LP (Palais Schaumburg, 1981)
Die Single „Wir bauen eine neue Stadt“ vom Debütalbum von PALAIS SCHAUMBURG um Sänger und Gitarrist Holger Hiller (ex-GEISTERFAHRER) ist ein gutes Beispiel für einen intelligent gemachten, abstrakt instrumentierten und extrem tanzbaren Song. Es war ein stark von New Wave beeinflusster Rhythmus der Band aus Hamburg, die in ihrem gesamten Erscheinungsbild fast britisch anmutete. Das war eher die Art von NDW für die Galerien – zumal die Bandmitglieder eine starke Verbindung zur Hamburger Kunsthochschule hatten –, Bars und Clubs denn für den Ratinger Hof in Düsseldorf. Musikalisch war es in jedem Fall vielfällig und exzeptionell, denn Holger Hiller galt als kreativer Feingeist. 2012 hat sich das Quartett in der Originalübersetzung wieder zusammengefunden und spielte Konzert in Berlin, Köln und Tokio.
NICHTS „Made in Eile“ LP (Schallmauer, 1981)
Die Düsseldorfer Band um Sängerin Andrea Mothes und Gitarrist Michael Clauss, ex-KFC, hat nicht viel von der kühlen Distinguiertheit der Berliner IDEAL. Aber Songs wie „Radio“, der es bis in die WDR-Musiksendung „Bananas“ schaffte, „10 Bier zuviel“ oder „Wer du bist“ sind allesamt perfekt für die Zeit nach Mitternacht an der Bar in der halbdunklen Kneipe geeignet. Die Texte von NICHTS, angeblich benannt nach dem Aufdruck auf einer Flasche Korn, waren direkt und authentisch, oder wie „Sounds“ zum Album schrieb: „Happy Untergang aus Deutschland“. Nichtsdestotrotz verkaufte die Band von ihrem Debütalbum und der Single-Auskopplung „Radio“, die auf dem Major CBS erschien, in kurzer Zeit rund 70.000 Exemplare, was ziemlich beachtlich war.
STRATIS „Mùsica Da Ballo“ MC (Creative Tapes, 1984)
Damals nur als Kassette im C40 Format erschienen ist dies ein Kleinod des Kölner Duos STRATIS, bestehend aus Albert Klein und Antonios Stratis, das entfesselnde Synthie-Sounds mit NDW verwebte. Heute würde man das vermutlich Minimal Wave oder Minimal Synth oder dergleichen nennen, und 90% der Bands dieser Genres der Gegenwart würden sich wünschen, nur einmal einen Song wie „Herzlos“ von diesem Tape geschrieben zu haben: ein Floorfiller und Rhythmusmonster sondergleichen, teilweise vergleichbar mit LIAISONS DANGEREUSES und DAF, aber zweifelsfrei auf der tanzbaren Richterskala nach oben offen: zeitlos brillant.
DIN A TESTBILD „Programm 2“ LP (Innovative Communication, 1981)
Die Band – irgendwo im Spannungsfeld von Electro, Avantgarde, NDW und Kunst angesiedelt – wurde 1978 von Mark Eins, später auch bekannt als Mauermaler, und Gudrun Gut (MALARIA!, EINSTÜRZENDE NEUBAUTEN) gegründet, die zu dieser Zeit in West-Berlin ihr Studium der Visuellen Kommunikation begonnen hatte. Jüngst hat Gabi Delgado-López von DAF in einem Beitrag für den WDR zu den mit dem Ratinger Hof in Düsseldorf assoziierten Bands treffend hervorgehoben, wie wichtig der Austausch von Kunst und Underground in diesen Jahren war. DIN A TESTBILD sind hier exemplarisch. Das Musikerkollektiv gilt als prägend für experimentellen frühen NDW und die Berliner Avantgarde.
ÖSTRO 430 „Durch dick & dünn“ 12“ (Schallmauer, 1981)
Vier junge Frauen aus Düsseldorf, die wie die deutsche Antwort auf THE SLITS oder THE AU PAIRS daherkamen. Laut, radikal und oft plakativ provozierend inszenierten sie sich so gut, dass sie den FEHLFARBEN auffielen und in ihr Vorprogramm genommen wurden. Wenn man sich das Video zum Song „S-Bahn“ anschaut, kann man dieses Gefühl von Energie, Wut und Antihaltung förmlich inhalieren. Ein grandioser Song dieser Zeit. In der S-Bahn hätten die Bandmitglieder einem die Bierdose bei nur einer blöden Bemerkung ohne Vorwarnung an den Kopf geworfen.
MITTAGSPAUSE „s/t“ 2x7“ (Pure Freude, 1979)
Ein kurzlebiges – gleichwohl zur Legende gewordenes – Projekt vom späteren FEHLFARBEN-Mastermind Peter Hein, das gerade mal von 1978 bis Ende 1979 existierte und zu dessen Erstbesetzung auch Gabi Delgado-López (später DAF) zählte. Allerdings hat die Band viel vom dem Sound vorweggenommen, der später die FEHLFARBEN als Ikonen des deutschen Undergrounds bekannt machte. Bereits hier brilliert Peter Hein mit subtil-gehaltvollen Texten wie „Ernstfall“ und „Innenstadtfront“. Auf diesem Album befindet sich auch der Song „Militürk“. Der Text stammt von Gabi Delgado-López und findet sich später sowohl auf dem Album „Monarchie und Alltag“ von FEHLFARBEN als auch als „Kebab Träume“ auf dem DAF-Album „Für immer“ (1982) wieder.
GEILE TIERE „s/t“ LP (GeeBeeDee, 1981)
Das Berliner Duo Luciano Castelli und Wolfgang Ludwig Cihlarz – der später als expressionistischer Maler unter dem Namen Salomé zur Gruppierung „Moritzplatz Boys“ zählte, die im Umfeld der Galerie am Moritzplatz in Berlin entstand – lieferte auf ihrem einzigen Album eine Synthese aus experimenteller Musik, NDW, Avantgarde und Electronica. Sie traten oft in dem von IDEAL besungenen Club Dschungel auf, eine Art Berliner Pendant des New Yorker Studio 54. „Hübsch gemachte Synthi-Platte, die wegen ihrer Sprüche übers Vögeln auch gern von Punks gehört wird“, schrieb Alfred Hilsberg im Sounds. Mit ihrer avantgardistischen Performance hätten sie gut in das Vorprogramm von Klaus Nomi gepasst.
GRAUZONE „s/t“ LP (Off Course, 1981)
Vermutlich die bekannteste Schweizer Band aus diesem Umfeld, die mit „Eisbär“ ihren größten Erfolg feierte, was zweifelsfrei nicht ihr bester Song war. Das, was damals das unterkühlte NDW- und Synthie-Wave-Image der in den Kunstnebel im Stroboskopgewitter abtauchenden Dancefloor-Protagonisten in Schwarz ausmachte, kommt perfekt in ihrem epochalen Song „Wütendes Glas“ zum Ausdruck: „Zerspringendes Glas, blutendes Gesicht / Schnelles Leben, künstliches Licht / Geübte Bewegung, liebkosende Hand / Tanzende Körper verlieren den Verstand“.
DER MODERNE MAN „80 Tage auf See“ LP (No Fun, 1980)
Die Band aus Hannover mit Wurzeln im Punk (Sänger Michael Jarick aka Ziggy XY spielte zuvor bei THE WORST) war eine der wenigen NDW-Bands, die von John Peel auf BBC Radio 1 gespielt wurde. Möglicherweise deshalb, weil die Band auf ihrem Debütalbum ein wenig wie die frühen WIRE klingt. „Sounds“ bescheinigte dem Quartett, „ein gutes Stück deutscher Popmusik“ abgeliefert zu haben. Gitarrist E.K.T. erinnerte sich später: „Im Studio lief so ziemlich alles falsch. Ziggy passte die Studioarbeit und die Richtung der Musik nicht mehr. Das Schlagzeug holperte, die Instrumente lagen daneben.“ Vermutlich kein Einzelfall bei NDW-Bands.
DER PLAN „Normalette Surprise“ 12“ (Optional/Ata Tak, 1981)
Die Band von Moritz Reichelt, Kurt Dahlke (Der Pyrolator) und Frank Fenstermacher (später FEHLFARBEN, auch als A Certain Frank bekannt) gilt als Wegbereiter der frühen NDW. Es ging um eine avantgardistisch mit Dada versetzte Version von elektronischem Pop-Schlager – oder etwas in der Art. Vor allem ging es um Kunst und Improvisation. Die Single „Da vorne steht ne Ampel“ schoss 1980 als einer der ersten NDW-Hits in die Charts. Vermutlich hätte es Andreas Dorau („Fred vom Jupiter“) ohne DER PLAN niemals gegeben. Ihre erste Single auf Ata Tak von 1979 hatte die Band noch – mehr D.I.Y.-Ethos geht vermutlich nicht – mit einem simplen Kassettendiktiergerät aufgenommen.
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