Anfang der 1980er Jahre gab es einen regelrechten Hype um Hardcore-Punk-Bands aus Finnland. Befeuert wurde dieser Hype sicherlich durch den 1982 auf Propaganda Records erschienenen Sampler „Russia Bombs Finland“, der vom Labelbetreiber Heikki Vilenius zusammengestellt wurde. Mit Bands wie BASTARDS, KAAOS, RIISTETYT, TERVEET KÄDET oder APPENDIX war hier erstmals die Speerspitze des Finnland-Punk zu hören, die krasse Hörproben ihres Könnens abgaben. Das gefiel vor allem den deutschen Nieten- und Iro-Punks, was letztendlich dazu führte, dass das Kölner Label Rock-O-Rama eine Vielzahl an Lizenzpressungen von Propaganda Records in Deutschland rausbrachte. So konnte man damals die LPs der finnischen Hardcore-Punk-Bands flächendeckend in Deutschland in den Plattenläden bekommen. Dieser Sampler-Klassiker wurde 2008 von Höhnie Records neu aufgelegt, wobei Höhnie noch weitere LPs von Bands aus Finnland wiederveröffentlichte, die zuvor auf Rock-O-Rama erschienen waren. Das verhinderte, dass das bis heute von stramm rechten Leuten weitergeführte Rock-O-Rama-Label weiter Geld mit diesen Platten scheffeln konnte.
Eine der schillerndsten und heftigsten finnischen Hardcore-Punk-Bands der Achtziger waren definitiv KAAOS aus Tampere, die sich im März 1980 gründeten. Über die Jahre hinweg war Gitarrist und Sänger Jakke festes Stammmitglied der Band. Bis zur Auflösung im Dezember 1985 hatten KAAOS eine Vielzahl an Mitgliedern, von denen in der Zwischenzeit leider einige verstorben sind. 1981 erschien die erste Split-7“ gemeinsam mit CADGERS (die sich kurz danach in RIISTETYT umbenannten), die im Original heute eine der teuersten Hardcore-Punk-Singles aus Finnland ist und im Durchschnitt für 1.000 Euro gehandelt wird. Die vier Songs von KAAOS auf dieser Split-7“ gelten heute als Kult: „Kytät on natsisikoja“ (Nazibullen), „Et sä voi olla vapaa“ (Gewalt auf den Straßen), „Tulevaiuus“ (Zukunft) und „Ei sääntöjä“ (Keine Regeln). Diese Split-7“ erschien auf P. Tuotanto Records von Vote Vasko, der bis heute als einer der wichtigsten Knotenpunkte in Bezug auf Vertrieb und Bandkontakte der finnischen Punk-Szene gilt. Im vergangenen Jahr wurde die Split-7“ in überarbeiteter Form (Sound und Farbcover) von Henning Prochnow auf Noise Attack Records wiederveröffentlicht. Ein weiteres Highlight im KAAOS-Katalog ist sicherlich auch die 7“ „Totaalinen Kaaos“ (Totales Chaos) von 1982 mit neun kolossalen Songs. 1984 brachten KAAOS mit „Ristiinnaulittu Kaaos“ (Gekreuzigtes Chaos) auf Barabbas Records endlich ihre Debüt-LP raus und waren eine der wenigen guten finnischen Bands, die sich nicht durch Rock-O-Rama in Deutschland in Form von Lizenzpressungen haben verwursten lassen. Stattdessen erschien 1984 auf dem Hamburger Label Weird System eine Split-LP mit TERVEET KÄDET.
Eine weitere bekannte finnische Punkband ist bis heute RIISTETYT (Die Ausgebeuteten), die sich ebenfalls 1981 in Tampere gründeten. Nach der Split-7“ mit KAAOS ergab sich ab 1983 eine etwas stabilere Bandbesetzung, wobei mit Nappi (bs) und Jaske (dr) zwei Leute von KAAOS, sowie Rike (gt) von den BASTARDS das Line-up um Urmitglied Lazze (voc) ergänzten. Die Debüt-LP „Valiton Vankina“ (Staatsgefangener) von 1982 auf Propaganda Records ist ganz klar ein echter Klunker unter den damaligen Finnen-Punk-Veröffentlichungen, da sie durch eine extrem gute Aufnahmequalität hervorsticht und dazu eine Vielzahl von guten Songs enthält. Die gleichen Stücke erschienen ein Jahr später als Deutschland-Pressung auf Rock-O-Rama, allerdings wurden sämtliche Titel auf Englisch übersetzt. Auf dem Höhepunkt ihrer Bekanntheit Mitte der Achtziger wurden sie auf eine neunwöchige USA-Tour eingeladen, wo sie mit den bekanntesten Punkbands der damaligen Zeit zusammenspielten. Allerdings hatten sich RIISTETYT musikalisch bereits anders orientiert, mehr in Richtung von Bands wie LORDS OF THE NEW CHURCH. Damals hatten die Band ihren Namen bereits von RIISTETYT in HOLY DOLLS abgeändert und wollte auf den großen Underground-Rock-Zug aufspringen. Zum Glück wurden RIISTETYT im alten Stil ab den Neunzigern wieder fortgeführt, was insgesamt zu neun Alben und sechs EPs führte. Speziell in Brasilien sind sie über lange Jahre sehr gut angekommen. Höhnie als auch Svart Records haben die Platten von RIISTETYT in den vergangenen Jahren wieder verfügbar gemacht.
Eine weitere bekannte Band ist APPENDIX aus Pori an der finnischen Westküste gegenüber von Schweden, die sich im Winter 1981/82 gründeten und bereits 1984 wieder auflösten. Seit den Neunzigern sind sie wieder aktiv, treten regelmäßig auf, spielen kleinere Touren in Europa oder auch mal wie 2015 in den USA und Mexiko. In Finnland haben sie 1983 mit ihrer Debüt-7“ „Huora“ (Hure) auf Propaganda Records für massives Aufsehen gesorgt, so dass im gleichen Jahr die LP „Ei Raha Oo Mun Valuuttaa“ (Geld ist nicht meine Währung) nachgeschoben wurde. Ende 1983 nahmen APPENDIX ihre zweite LP auf, die allerdings nicht mehr in Finnland erschien, sondern exklusiv in Deutschland auf Rock-O-Rama unter dem Titel „Top Of The Pops“. Über die Jahrzehnte ist der Sänger Mikki Borgersen das einzige Originalmitglied geblieben, wobei seine sehr markante Stimme aber immer sofort erkennbar ist. Das amerikanische Label Puke N Vomit hat zuletzt die beide ersten LPs wiederveröffentlicht, so dass man diese Klassiker für (relativ) kleines Geld bekommen kann. Fun Fact: Mein einziges T-Shirt einer finnischen Band stammt ausgerechnet von APPENDIX, da sie vor ein paar Jahren in Essen spielten. Grandios!
Massiv bekannt auf dem europäischen Festland sind auch TERVEET KÄDET (Gesunde Hände) aus dem nordfinnischen Tornio am Bottnischen Meerbusen direkt an der schwedischen Grenze. Bereits 1980 gründete sich die Band, wobei Sänger Lajä und Drummer Peedro noch von der Erstbesetzung stammen. Ich habe TERVEET KÄDET zum ersten Mal vor zehn Jahren auf dem Rebellion Festival in England live sehen können und war vom musikalischen Können und ihrer Präsenz extrem begeistert. Im Zeitraum von 1980 bis Mitte 1983 hatten TERVEET KÄDET bereits vier Singles auf diversen Labels veröffentlicht, wobei auf der dritten 7“ „Ääretön Joulu“ (Unendliche Weihnachten) der Song „Outo maa“ (Seltsames Land) enthalten war, der später auf dem „Welcome To 1984“-LP-Sampler von Maximum Rocknroll aus den USA erschien und TERVEET KÄDET weltweit bekannt machte. 1983 kamen dann die ersten beiden 12“s auf Propaganda Records, wobei die zweite, selbstbetitelte 12“ von Rock-O-Rama als Lizenzpressung mit einem neuen Cover und englischen Songtiteln versehen wurde. Von TERVEET KÄDET erschien in den vergangenen Jahren eine Vielzahl an Singles und Alben, wobei 2022 von Svart Records eine wunderbare 5LP-Box mit allen frühen Aufnahmen (Singles und LPs) veröffentlicht wurde.
Die BASTARDS aus Tampere müssen als eine sehr effektive Band bezeichnet werden, denn im Zeitraum der Gründung im August 1981 bis zur Auflösung Ende 1983 haben sie eine Vielzahl an Aufnahmen zustande bekommen. Die 1982 auf Propaganda Records veröffentlichte 7“ „Maailma Palaa Ja Kuolee“ (Die Welt steht in Flammen) sorgte massiv für Interesse bei den finnischen Punks, daher ist es keine Überraschung, dass ihre LP „Järjetön Maailma“ (Kranke Welt) 1983 für Propaganda zum Renner des Jahres wurde. Während bei anderen Bands die LP-Originalaufnahmen 1:1 von Rock-O-Rama aus Köln in Lizenz übernommen werden, spielten die BASTARDS ihre LP unter dem Titel „Siberian Hardcore“ komplett neu ein, inklusive englischer Texte. Das führte dazu, dass die BASTARDS recht viele Konzerte in Italien, Deutschland und Dänemark spielen konnten. Gitarrist Rike Jokela ist inzwischen ein international bekannter Filmregisseur, der unter anderem 2018 bis 2021 bei der Krimiserie „Deadwind“ Regie führte, die auf Netflix zu sehen ist. Rike spielte in den Achtzigern nach dem Ende der BASTARDS auch noch bei RIISTETYT und den HOLY DOLLS. 2022 fanden die BASTARDS wieder zusammen und nahmen die 7“ „Ei Sotaa“ (Kein Krieg) auf, die 2023 auf dem Hamburger Label Noise Attack erschien.
In der Kleinstadt Vilpulla gründeten sich bereits 1978 RATTUS, die vermutlich von allen finnischen Bands am meisten auf Tour waren. In den Achtzigern habe ich RATTUS leider verpasst, doch 2017 konnte ich sie auf dem Rebellion Festival in England live erleben, direkt hintereinander mit den Schweden CRUDE S.S. – wäre ich an diesem Tag gestorben, wäre ich glücklich gewesen. RATTUS haben in den Achtzigern sechs Singles veröffentlicht, wobei sie 1980 mit eine der ersten Punkbands waren. Die LP „WC Räjähtää“ (Explodierte Toilette) von 1983 auf Poko war dann ein markantes Ausrufezeichen, das die Band über ihre Kleinstadt hinaus bekannt machte. 1984 nahm sich das New Yorker Label Ratcage Records der Band an und veröffentlichte das selbstbetitelte zweite Album, das RATTUS nun auch zu internationaler Bekanntheit verhalf. 1988 war nach zehn Jahren Bandgeschichte abrupt Schluss. Aber glücklicherweise kam die Band 2001 wieder zusammen und ist seither stets aktiv geblieben. Bis heute werden neue Platten aufgenommen und Touren gespielt. Geiler heißer Scheiß, echt!
Aus Ulvila, einer Kleinstadt direkt in der Nähe von Pori an der Küste von Westfinnland, kamen DESTRUCKTIONS. Ihre LP „Vox Populi“ erschien 1983 auf Rock-O-Rama und es zerschießt mein simples Punker-Hirn bis zum heutigen Tag, wenn ich mir diesen Finnen-Hardcore-Punk anhöre. Hier sind neben dem begnadeten Sänger Mike Poison unter anderem auch noch Miksa Huhdanpää von APPENDIX und Kari „Poko“ Pienimäki von KAAOS am Start. Höhnie Records hat 2007 die Diskografie-LP „Complete Destrucktions“ veröffentlicht, 2022 gab es mit der „40 Years Later EP“ sogar ein aktuelles Lebenszeichen von der Band. Die Songs dieser EP sind wirklich sehr cool und lassen klar erahnen, dass die Bandmitglieder es noch voll draufhaben. Das US-Label Puke N Vomit hat die „Vox Populi“-LP 2023 noch einmal neu aufgelegt.
Nun zur Varus-Schlacht in den Teutoburger Wald! Quatsch, das war ein Witz. Am Eingang zum Museum in Kalkriese prangt seit einiger Zeit ein VARAUS-Aufkleber. Meine Fresse, VARAUS (Reservierung)... was für eine kranke Scheiße haben die denn rausgehauen? Sie stammen aus dem Ort Hyrylä im Süden Finnlands und haben 1982 eine halbe LP veröffentlicht, also eine einseitig bespielte 12“ mit dem Titel „1/2 LP“ mit neun Songs für die Ewigkeit. Unfassbar, dass diese Platte inzwischen für 500 bis 600 Euro gehandelt wird. Ein Jahr später, 1983, brachten VARAUS noch die „Tuomittu Elämään E.P.“ (Zum Leben verurteilt) raus. Leider sind Sänger Jone Vaarala (2008) und Drummer Hande Pussinen (2021) inzwischen verstorben, aber vor seinem Tod konnte Hande noch mit Noise Attack Records aus Deutschland eine Wiederveröffentlichung der „1/2 LP“ als auch der 7“ vereinbaren.
Aus Rauma an der westfinnischen Küste etwas unterhalb von Pori stammt die Band MELAKKA (Aufstand), die ein bisschen später Mitte der Achtziger aktiv waren, dafür aber umso intensiver dem typischen Finnen-Hardcore-Punk frönten. Im Zeitraum von 1984 bis 1986 nahmen MELAKKA zwei Singles als auch ein Demo auf. Die Singles „Ei ...“ (Nein) von 1984 sowie „Itsenäisyyspäivä“ (Unabhängigkeitstag) von 1985 hatten eine sehr gute Reichweite und die Band wurde dadurch auch im Kernland von Europa bekannt, ohne dass sie einen Longplayer veröffentlicht hatten. 1986 nahmen sie noch innerhalb von fünf Stunden ein 3-Song-Demo auf, mit dem sie Plattenlabels wegen einer LP-Veröffentlichung kontaktierten, leider ohne Erfolg. Erst im neuen Jahrtausend klappte dies in Form einer Diskografie-LP mit den Songs der beiden Singles plus den Demotracks als auch weiteren Proberaumaufnahmen. „R.I.P Recordings 1984-1986“ wurde zunächst von der Band in Eigenregie rausgebracht und danach mehrfach neu aufgelegt. Zuletzt erschien 2022 ein wunderbar restaurierter (Sound, Cover, Inlay ...) Rerelease dieser LP auf Noise Attack.
KANSAN UUTISET (Volksnachrichten) aus Helsinki benannten sich nach der gleichnamigen Zeitung der finnischen Linkspartei. Diese Band hat während ihres Bestehens nur das Album „Beautiful Dreams“ veröffentlicht, das 1983 auf Rock-O-Rama erschien. Im Vergleich zu anderen Finnenbands waren KANSAN UUTISET wesentlich härter und standen für klassischen Chaos-Punk. Von der „Schneller-lauter-härter“-Fraktion wurde das Album frenetisch aufgenommen, nach dem Erscheinen der LP war auch gleich wieder Schluss mit der Band. Seit 2006 gibt es aber immer mal wieder vereinzelte Auftritte von KANSAN UUTISET.
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #121 August/September 2015 und Axel M. Gundlach
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #126 Juni/Juli 2016 und Markus Kolodziej
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #130 Februar/März 2017 und Markus Kolodziej
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #140 Oktober/November 2018 und Markus Kolodziej
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #162 Juni/Juli 2022 und Michael „Slayer“ Schneider
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #163 August/September 2022 und Michael „Slayer“ Schneider
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #171 Dezember 2023/Januar 2024 2023 und Helge Schreiber
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #172 Februar/März 2024 und Helge Schreiber
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #173 April/Mai 2024 und Helge Schreiber
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #174 Juni/Juli 2024 und Helge Schreiber
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #175 August/September 2024 und Helge Schreiber