DER KANON DES GUTEN GESCHMACKS

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NIEDERLÄNDISCHE PUNKBANDS DER 1980ER JAHRE

Mitte der 1980er Jahre herrschte bei uns im Ruhrpott eine totale Ödnis, was gute Punk-Locations betraf. Dafür gab es aber jenseits der niederländisch-deutschen Grenze, nur rund ein bis zwei Stunden Autofahrt entfernt, in so gut wie jeder Kleinstadt einen guten Club, in dem massig Konzerte mit vielen internationalen Bands stattfanden. Etwa das Doornroosje in Nimwegen, den Bauplatz in Venlo, die Goudvishal in Arnheim, den Chi-Chi Club in Winterswijk, das Babylon in Hengelo oder das Vera in Groningen. Dazu gab es natürlich auch immer mega gute Konzerte in Amsterdam, vor allem in besetzten Häusern wie De Muur, Vrankrijk, Van Hall oder Emma. Innerhalb der Punkrock-Szene gab es viele grenzüberschreitende Kontakte , so dass es einen lebhaften Austausch zwischen den Protagonist:innen der beiden Länder gab.

B.G.K. aus Amsterdam waren die erste niederländische Punkband, die 1984 in den USA auf Tour war. B.G.K. steht für BALTHASAR GERARDS KOMMANDO – ein Verweis auf Balthasar Gérard, der am 10. Juli 1584 König Willem van Oranje mit drei Pistolenschüssen ermordete, wofür er vier Tage später gevierteilt wurde. Anfang der 1980er Jahre gab es in den Niederlanden wohl kaum eine bessere Möglichkeit, die öffentliche Meinung gegen sich aufzubringen als mit diesem Bandnamen. B.G.K. gingen hervor aus der Band NITWITZ, die 1981 die „Scorched Earth Policy“-12“ sowie eine Split-LP namens „Wielingen Walgt“ mit GÖTTERFLIES veröffentlicht hatten. Zwei Leute von NITWITZ waren Gründungsmitglieder von B.G.K., die bereits 1983 mit ihrer Debüt-LP „Jonestown Aloha!“ für mächtig Furore sorgten und spätestens 1984 mit der „White Male Dumbiance“-7“ weltweit wahrgenommen wurden. Auf ihrer US-Tour im Jahr 1984 teilten sie sich mit dem Who’s Who der amerikanischen Hardcore-Punk-Szene die Bühne. 1988 war dann leider wieder Schluss mit der Band. Sänger René van de Meer emigrierte nach Kalifornien und wurde dort Hundetrainer. Gitarrist Tony Leeuwenburgh war so in etwa das Mastermind von B.G.K. und Verwalter ihres musikalischen Nachlasses. So war es 1999 kein Wunder, das sämtliche Studioaufnahmen von B.G.K. auf einer Diskografie-Doppel-LP auf Alternative Tentacles Records von Jello Biafra erschienen. Tony Leeuwenburg war nach dem Ende von B.G.K. an vielen anderen Bands und Projekten beteiligt, zum Beispiel LOVESLUG und den reformierten NITWITZ, spielte außerdem als Tourmusiker bei diversen Bands, wie bei den DEAD BOYS. Im Oktober 2023 verstarb Tony Leeuwenburgh leider an Krebs. In den letzten zwei Jahren vor seinem Tod hatte Tony aber noch zusammen mit anderen bekannten Musikern aus den USA und Europa eine ganze Reihe Songs aufgenommen, die Mitte 2024 auf Vinyl veröffentlicht werden sollen.

Bei FUNERAL ORATION aus Amsterdam liegt das Schöne und das Traurige sehr nah beieinander. Während sich die Punkbands in Europa 1983 noch sehr nach englischem Punkrock anhörten und eher rumpeligen und simplen Deutschpunk spielten, betörten FUNEREAL ORATION uns mit ihrem Mix aus wunderbaren melodischen Songs, die sich an der Oberkante der Melancholie bewegten und sofort ein Lächeln auf den Lippen erzeugten. FUNERAL ORATION existierten von 1983 bis 1999 und waren international eine der bekanntesten niederländischen Punkbands, zumindest in den Neunzigern. Die letzten drei ihrer insgesamt acht Alben veröffentlichten sie ab 1995 auf Hopeless Records aus Van Nuys in Kalifornien, wobei FUNERAL ORATION auch dreimal auf US-Tour waren. Aber gerade die Veröffentlichungen aus der Anfangszeit, das „The Godsend“-Tape und die „Shadowland“-12“ von 1984 sowie die „Communion“-LP von 1985 sind bis heute die Favoriten der Fans. „Communion“ wurde zum Beispiel von den Lesern des kalifornischen Fanzines Flipside auf Platz drei der besten Alben des Jahres gewählt. Der traurige Aspekt bei FUNERAL ORATION ist allerdings die hohe Mortalitätsrate bei den Bandmitgliedern. Sänger Peter Zirschky (2005) und Schlagzeuger Eric Jansen (2008) starben bei tragischen Unfällen. Bassist William Steinhäuser ging durch die Corona-Pandemie mit seiner Transportfirma Bankrott, woraufhin Willy leider komplett von der Bildfläche verschwand, so dass sein Umfeld das Schlimmste befürchtet. Mehr möchte ich über den Verbleib dieses tollen Menschen nicht sagen, außer: Gerüchteküche fuck off!

Eine der bekanntesten Hausbesetzer-Bands waren PANDEMONIUM aus dem beschaulichen Venlo, gleich an der deutsch-niederländischen Grenze. Durch die Grenznähe fielen vor allem PANDEMONIUM durch eine ganze Reihe von deutschen Liedtexten auf, wie zum Beispiel „Mit schwarzer Fahne“, „Wir fahren gegen Nazis“, oder „Zuviel“. Die Band bestand aus den beiden Brüdern Danny (gt) und Rowdy Lommen (dr), die mit einem Migranten-Background in der niederländischen Hardcore-Punk-Szene eher eine Ausnahme waren. Allerdings war dieser Umstand nie ein Thema und die beiden waren immer voll integriert. Bassist und Sänger Peter Janssen gehörte mit zum harten Kern der Hausbesetzerszene, nach dem Ende der Band 1986 verschrieb er sich voll dem aktiven Häuserkampf, lebte einige Jahre im Untergrund und war mit der deutschen Szene im Umfeld der Revolutionären Zellen verbunden. Heute fungiert „Der Peter“, wie er selbst genannt werden möchte, als „juristischer Beistand“ für Menschen, die von Arbeitgebern, Gentrifizierung oder dem Staat in Bedrängnis gebracht werden. Bereits 1981 hatte sich PANDEMONIUM gegründet, wobei es damals natürlich keine Treffpunkte oder Konzertorte in Venlo gab, daher besetzten sie ein Haus in der Nähe des Hauptbahnhofs. Der „VHC“ (Venlo Hardcore Club) existierte nur bis Ende 1984 und wurde von der Polizei geräumt. Im gleichen Jahr gab es auch noch ein Konzert von PANDEMONIUM im Hotel Wilhelmina, das allerdings ausuferte und einen Schaden von 7.000 Gulden verursachte, der nie beglichen wurde, so dass dort keine weiteren Konzerte durchgeführt werden konnten. Man zog weiter und so wurde ein Haus direkt gegenüber dem Venloer Hbf mit einer leerstehenden Bäckerei besetzt, das als „Bauplatz“ bezeichnet wurde, wo Mitte bis Ende der Achtziger alle wichtigen Punkbands live spielten. Zu den Konzerten kamen auch Hunderte von Punks aus Deutschland, vorrangig aus dem Ruhrgebiet. Schlagzeuger Rowdy war nach dem Ende von PANDEMONIUM in den frühen Neunzigern noch bei NEGAZIONE, während sein Bruder Danny von der Gitarre zum Schlagzeug wechselte und bei GORE schleppenden Doom/Noise spielte. „Der Peter“ widmete sich, insofern er der Öffentlichkeit gestattete ihn wahrzunehmen, seinen Büchern mit hochwertigen englischsprachigen Texten und Gedichten, zudem veröffentlichte er unter seinem Künstlernamen Obras-del-Alma antifaschistische Ölgemälde. Im Herbst 2024 wird die 1984er Debüt-LP „Wir fahren gegen Nazis“ auf Noise Attack Records von Henning Prochnow wiederveröffentlicht, wobei ihr sicher sein könnt, dass ich hier die Finger mit im Spiel hatte.

Ich muss gestehen, dass ich in Bezug auf NEUROOT aus Arnheim kein bisschen objektiv sein kann. Ich bin in großem Maß abhängig von der Musik dieser Band und mache jeden Scheiß mit, habe sogar den Bandschriftzug auf meinem rechten Arm tätowiert. Ich bin ein Fanboy! NEUROOT hatten sich bereits 1980 gegründet, wobei Arnheim damals den Konzertort Stockvishal vorweisen konnte. Arnheim ist eine durchschnittlich große Grenzstadt, dennoch hatte sie sich in der europäischen Musikszene als Zwischenstopp auf den Konzerttouren bekannter englischer Bands wie SEX PISTOLS, CLASH, SIOUXSIE AND THE BANSHEES, CURE, BAUHAUS oder SPECIALS etabliert, was dazu führte, dass sich dort eine größere Punk-Szene formierte. Leider kam es Anfang der Achtziger zur Schließung von Stockvishal, woraufhin sich eine Menge Punks zur Besetzung eines neuen Gebäudekomplexes entschlossen und diesen Goudvishal (Goldfisch-Halle) nannten. Im Vergleich zu anderen Squats war Goudvishal allerdings das einzige Squat, wo niemand wohnte, denn über lange Jahre hinweg wurde sie für alle möglichen Konzerte genutzt. In den letzten Jahren wurden zwei Compilation-LPs mit jeder Menge cooler Live-Songs von Dutzenden sehr guten Hardcore-Punk-Bands veröffentlicht. 2022 erschien zudem das Goudvishal-Buch von Marcel Stol und Henk Wentink, wo auf mehreren hundert großformatigen Seiten die sehr spannende Geschichte des Squats dargestellt wird. NEUROOT haben 1983 das „Macht kaput was euch kaput macht“-Tape veröffentlicht und 1985 die „Might Is Right“-EP nachgelegt. Auf dieser 7“ befand sich das Stück „(Wir sind) Die Ratten vom Müll“, das für viele Punks Mitte der Achtziger zu einem Kultsong wurde, auch gerade in Deutschland. Markant war bei NEUROOT vor allem der extrem mächtige Bass, der sich durch deine Eingeweide frisst. NEUROOT hatten die Tendenz, sich den heftigen Grooves zu öffnen, obwohl sie auch mächtig aufs Gaspedal drücken konnten. 2012 formierte sich die Band erneut, wobei Bassist/Sänger Marcel heute das einzige verbliebene Originalmitglied ist. Von der alten Besetzung ist seit 2022 Drummer Jako wieder mit an Bord, der 1987 auf der „Plead Insanity“-LP zu hören war. In den vergangenen Jahren waren NEUROOT viermal auf Tour, besuchten zehn Länder in Südostasien, zudem ist für 2024 die erste US-Tour gebucht. Ihre neue LP „False Profit“ wird im Frühjahr 2024 auf dem englischen Label Scene Report Records erscheinen. Stay tuned!

Ebenfalls aus Amsterdam stammten FRITES MODERN, die europaweit für Aufsehen sorgten mit ihrer 1984 veröffentlichten LP „Veel, Vet, Goor En Duur“ („Viel, fettig, eklig und teuer“) und international mit ihrem Song „Je bent een puist in mijn nek“ („Du bist ein Pickel an meinem Hals“), der auf der legendären Compilation-LP „Welcome To 1984“ erschien, die vom kalifornischen Fanzine Maximum Rocknroll veröffentlicht wurde. Eine großartige Zusammenstellung von Punkbands aus aller Welt, die vom ersten bis zum letzten Song bis heute für Gänsehaut sorgt. Von 1982 bis 1985 war diese ungewöhnliche Band in Amsterdam aktiv und überraschte mit der Erkenntnis, dass man als Band auch nur mit einer einzigen LP über Jahrzehnte hinweg einen gewaltigen Eindruck hinterlassen kann. 2018 wurde die erste Kassette von 1983 mit dem Titel „6MET“ zum Record Store Day als 10“ erstmalig auf Vinyl wiederveröffentlicht. Schlagzeuger Barend van der Meer spielte in den Neunzigern noch bei SMART BOMB und in den Nuller und Zehner Jahren bei THE WORKS, die jeweils mehrere Alben veröffentlichten. Es ist gar nicht so einfach, mehr Infos über FRITES MODERN zu finden, außer dass sie in ihrer Anfangszeit mit NITWITZ gemeinsame Konzerte spielten als auch den Proberaum teilten. Auf Facebook findet sich eine FRITES MODERN-Seite, die eher selten als regelmäßig gepflegt wird.

GEPØPEL war ursprünglich 1983 ein Ein-Mann-Projekt von Niels de Wit aus Volendam, einem kleinen Ort an der Küste oberhalb von Amsterdam, der touristisch hochgradig verseucht ist, da einem dort ein Bilderbuch-Holland aus dem vorletzten Jahrhundert vorgaukelt wird. Bereits 1984 war aus GEPØPEL eine komplette Band in Vierer-Besetzung geworden, die sich musikalisch an US-Acts wie D.R.I., NEOS oder auch ihren Landsleuten B.G.K. orientierte. Sie spielten eine Menge Konzerte mit Bands wie PANDEMONIUM, NEUROOT, ZYKLOME A, CAPITAL SCUM oder INDIREKT. 1985 erschien die „Paracide“-7“, die GEPØPEL im Nu international bekannt machte, im Anschluss gingen zusammen mit FUNERAL ORATION auf Tour in Spanien und Deutschland. Als sich die Band 1985 wieder auflöste, waren die Mitglieder erst 17 oder 18 Jahre alt und hatten doch so viel mehr erlebt als fast alle anderen in ihrer Generation. Da zuletzt Willy Steinhäuser von FUNERAL ORATION am Bass ausgeholfen hatte und als Fahrer zu Konzerten diente, stieg GEPØPEL-Drummer Erik Jansen bei ihnen ein. Sänger/Gitarrist Niels de Wit spielte 1985 auch bei INDIREKT.

INDIREKT gründeten sich 1982 in Hoorn, einer wunderschönen Hafenstadt am Ijsselmeer unweit von Amsterdam. Sie waren eine der ersten niederländischen Punkbands mit herausragenden Frauen am Mikro. Die erste Sängerin – und auch auf der 1984er Debüt-7“ „Nieuws Voor Doven En Slechthorenden“ („Neuigkeiten für die Tauben und Schwerhörigen“) zu hören – war Marjolein, die Schwester des Schlagzeugers Jeroen. 1985 orientierte sie sich musikalisch um und so kam Anneke Kip als neue Frontfrau zu INDIREKT. Ab 1985 explodierte die Anzahl der gespielten Konzerte, wobei die LP „Op Oorlogspad“ („Auf dem Kriegspfad“) der Band ein großes Maß an Popularität verschaffte, woraufhin sie regelmäßig kleine Touren in den Benelux-Staaten, Deutschland, Dänemark oder im Baskenland machen konnten. Wobei sie bei ihren Auftritten im KuKoZ Paderborn einen Negativ-Rekord aufstellten, indem sie bei zwei Konzerten innerhalb weniger Monate jeweils auf der dortigen Polizeiwache landeten. 1986 erschien die „Nacht und Nebel“-7“, auf der es darum geht, dass während der deutschen Besetzung im zweiten Weltkrieg niederländische Juden und Widerstandskämpfer von den Nazis verschleppt wurden und spurlos verschwanden. 1987 gab es noch eine Split-Doppel-LP mit VERNON WALTERS, mit denen INDIREKT einen engen Kontakt pflegten. Ende 1987 spielten INDIREKT ihr letztes Konzert, wobei nur ein paar Jahre später, 1992, zwei Reunion-Shows stattfanden. Ein weiteres Mal traten INDIREKT im Jahr 2003 auf, anlässlich eines Gedenkkonzerts für den in Spanien ermordeten VERNON WALTERS-Sänger Hans, der Opfer eines rachsüchtigen Immobilien-Hais geworden war. Die Benefiz-Veranstaltung zugunsten von Hans’ Tochter Lotus eröffneten INDIREKT mit fünf Akustikstücken. 2008 erschien auf dem kalifornischen Label Grand Theft Audio die Doppel-CD „Total War Path“ mit sämtlichen Studioaufnahmen der Band sowie zehn Live-Mitschnitte aus dem Amsterdamer Melkweg von 1987, plus fünf komplett neue Songs, für die sie anlässlich der Veröffentlichung dieser Platte extra noch mal ins Studio gegangen sind. Noise Attack Records aus Hohn rereleaste 2022 sowohl die „Nacht und Nebel“-7“ als auch die „Op Oorlogspad“-LP, die soundtechnisch restauriert und zudem mit einem hervorragenden 16-seitigen Booklet, Textblatt-Poster und Anti-Shell Aufkleber (wie in den Achtzigern) ausgestattet wurde.

Man musste nicht aus einer Großstadt kommen, um als eine der wirklich harten Punkbands zu gelten, was ZMIV aus der Kleinstadt Meppel, nördlich von Zwolle beziehungsweise östlich vom Ijsselmeer, unter Beweis stellten. Sie existierten on 1979 bis 1984 und wurden vor allem wegen ihrer 1982 erschienenen 7“ „Banzai! Here’s ZMIV – Beware!“ über die Landesgrenzen hinweg bekannt wurden, die im Original zu einem hochbezahlten Sammlerstück wurde. Aus deutscher Sicht war dabei sicherlich „Wir haben es nicht gewusst“ ihr größter Hit, der seinerzeit auf keinem Punk-Mixtape fehlen durfte. Es ist zum einen eine Anspielung auf die Verdrängungskultur der deutschen Kriegsgeneration, die sich von jeglicher Schuld nach dem Ende des WWII freisprechen wollte. Zugleich war der Song aber ausdrücklich Klaus-Jürgen Rattay gewidmet, der am 22.09.1981 in Berlin im Anschluss an die Räumung mehrerer besetzter Häuser den Tod fand, was zu vielen Protestaktionen führte, unter anderem auch in der gut vernetzten Kraakerszene in den Niederlanden. Die Einleitung der Linernotes zur Diskografie-LP „Noise Of ZMIV 1979-1984“ von 2005 liest sich wie folgt: „Die niederländische Punk-Szene war aufgebracht und mit Wut gefüllt, was danach schrie, dass sich etwas grundlegend ändern sollte, was sich falsch anfühlte ... In den Straßen brannte es und das System sollte fallen!!! Äußerlich waren unsere Nieten, Iros und gespiketen Haare der sichtbare Protest!“ 1983 erschienen drei weitere Studiosongs auf dem LP-Sampler „Als Je Haar Maar Goed Zit“ („Solange deine Haare schön sind“), die ihren Kultstatus weiter manifestierten. Im Jahr 2023 kam auf Noise Attack eine Nachpressung der ersten 7“, inklusive Linernotes, Aufklebern und Poster, selbstverständlich auch mit einer ansprechenden Soundrestaurierung.

DE BOEGIES (Die Zündkerzen), sind eine in den Niederlanden bis heute populäre Punkband, auch wenn es sie seit Jahrzehnten nicht mehr gibt. Bereits 1978 in Groningen gegründet, brachten sie bis zu ihrer Auflösung vier LPs raus: „Wy Zyn Zwyn“ („Wir sind Schweine“, 1984), „Parels Voor De Zwynen“ („Perlen vor die Säue“, 1986), „Zwijnen Bij Candlelight“ („Schweine bei Kerzenlicht“, 1988) und „A Terrible Swine Disease“ (1989) heraus. Zwei Songs werden den Fans auf ewig in Erinnerung bleiben, und zwar „A-sociaal ’81“ von der ersten LP und „Mèh“ (das niederländische Pendant zu „Nellie the elephant“ von TOY DOLLS) von der zweiten. Die Musik von DE BOEGIES stand immer für eine gewisse Fröhlichkeit und Partylaune, obwohl ihre Texte nie belanglos waren. DE BOEGIES versuchten zum Ende der Achtziger hin ihre stetig wachsende Popularität auch außerhalb der Niederlande zu steigern, daher nahmen sie ihre vierte und letzte LP in englischer Sprache auf. Allerdings kamen sie, was das Touren angeht, nicht über Belgien und West-Deutschland hinaus. Am 30. Juni 1990 spielten DE BOEGIES ihr letztes Konzert in Oosterport. Die Bandmitglieder spielten in den folgenden Jahren noch bei DANDRUFF! und JAMMAH TAMMAH.

Für den Abschluss meines Berichts sorgen LÄRM aus Amersfoort, deren Musik Anfang der Achtziger ein echter Gamechanger war, in den Niederlanden und darüber hinaus. Im Dezember 1982 hatten sich LÄRM gegründet, wobei im ersten Jahr noch Sängerin Dorien am Mikrofon stand. Die Brüder Paul (gt) und Olav (dr) van den Berg bildeten gemeinsam mit Jos Houtveen (bs) den Kern der Band und es entstand ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das bis heute anhält. Eigentlich sollte man bei LÄRM nicht von Musik sprechen, sondern von Krach ... oder eben LÄRM. Nicht umsonst trug ihre erste Veröffentlichung, eine Split-LP mit STANX von 1984, den Titel „Campaign For Musical Destruction“. LÄRM waren definitiv eine der ersten Hardcore-Punk-Bands überhaupt und klatschten einem ihre ultraschnellen Songs so schwindelerregend wie möglich um die Ohren. Allein auf der Split-LP befinden sich 28 Tracks von ihnen, aufgenommen mit ihrem neuen Sänger Menno . Es folgte eine große Anzahl an Konzerten. 1984 war eine umfangreiche Tour durch Spanien und Italien geplant, doch auf dem Weg nach Barcelona blieb ihr alter VW-Bus mit irreparablem Motorschaden im Baskenland liegen, so dass sie den Rest der Tour per Zug absolvierten – der Italien-Teil fiel allerdings aus. 1987 tourten sie gemeinsam mit HERESY und den Belgiern HEIBEL durch England, 1988 folgte eine Tour auf dem europäischen Festland, ebenfalls mit HERESY. Die LÄRM-Bandmitglieder, schon seit Anfang der Achtziger Teil der Straight-Edge-Bewegung, waren damals unfassbar umtriebig. Im Grachtkerk-Squat in Amersfoort betrieben sie den Kippenhok-Club (Hühnerstall), wo jede Menge Konzerte von Bands aus der ganzen Welt stattfanden. Außerdem gaben die van den Berg-Brüder das Definitive Choice Fanzine raus, das auch drei legendäre Video-Compilations mit selbst gedrehtem Material umfasste, wobei von vielen der Bands keine weiteren Filmaufnahmen bekannt sind. Im Dezember 1989 lösten sich LÄRM auf, nachdem die Szene sich stark verändert hatte. Ungebrochen war aber die politische und gesellschaftskritische Einstellung der Bandmitglieder, so dass Paul, Olav und Jos ab 1990 als SEEIN RED weitermachten, mit zahllosen Veröffentlichungen und Touren bis heute. Zu bestimmten Anlässen gab es in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer mal wieder Reunion-Shows von LÄRM oder auch Neuaufnahmen alter Songs. Erst Anfang letzten Jahres hat Noise Attack die klassische Split-LP von LÄRM und STANX wieder neu aufgelegt, soundtechnisch und visuell natürlich fein aufgemöbelt. So muss das! Mein Hörschaden hat definitiv auch mit dieser Band zu tun. Ewige Liebe!