In den 80er Jahren gab es in Skandinavien bereits sehr viele Punkbands, auch fanden viele der Schallplatten ihren Weg zu uns nach Deutschland. Allerdings war die Anzahl der Bands, die aus Dänemark, Schweden oder Finnland auf Tour nach Zentraleuropa kamen, verschwindend gering. Anders sah es bei den norwegischen Bands aus, die regelmäßig und auch oft bei uns spielten. Viele der Bands waren echte Publikumslieblinge und heißbegehrt. Es gab die sogenannte „Blitz-Route“, denn vom Blitz-Squat in Oslo aus wurden Touren in ganz Europe organisiert.
Diese Bands sorgten für viel Freude, allerdings geraten diese famosen Bands mit ihren feinen Leuten immer mehr in Vergessenheit. 2014 gab es im staatlichen Rockheim-Museum in Trondheim eine Ausstellung über die norwegischen Punkbands, die in Mitteleuropa sehr bekannt waren. Der Titel der Ausstellung war „Network of Friends“, Dolf vom Trust Fanzine und ich waren maßgeblich beteiligt. Daher lade ich euch zu einem kleinen Wiedersehen mit zehn norwegischen Bands ein, wie gehabt subjektiv und parteiisch ausgewählt.
Als Ursprung von vielen als wichtig betrachteten Punkbands der Achtziger Jahre muss man sicherlich SVART FRAMTID (Schwarze Zukunft) nennen. Diese Band aus Oslo war eine der ersten norwegischen Hardcore-Punk-Bands, die in Deutschland und Holland auf Tour waren. Zuerst kamen sie 1983 mit einem Interrail-Ticket ausgestattet nach Deutschland, im Jahr darauf gemeinsam mit den Engländern DISORDER. Seit dieser Zeit hat der SVART FRAMTID-Sänger Gunnar Nuven einen großen DISORDER-Schriftzug über den kompletten Rücken tätowiert. Gunnar gründete zudem das X-Port Platter-Label, auf dem zuerst die 7“ seiner eigenen Band veröffentlicht wurde und darauf folgend von weiteren norwegischen Bands. Zudem waren die Mitglieder von SVART FRAMTID sehr eng mit dem Blitz-Squat in Oslo verbunden. Der Begriff „Blitz-Route“ bezeichnet den Umstand, dass das Blitz-Squat der Dreh- und Angelpunkt für die Planung vieler Touren norwegischer Bands in den folgenden Jahrzehnten war. „1984“ von SVART FRAMTID gilt bis heute als die wichtigste norwegische Hardcore-Punk-7“ der frühen 80er Jahre. Sänger Gunnar Nuven lebt seit Jahrzehnten in Karlsruhe, wo er in weiteren Bands sang.
Der Start von KAFKA PROSESS aus Oslo beruhte auf der Auflösung von SVART FRAMTID, die sich über die weitere musikalische Ausrichtung uneinig waren. Sänger Gunnar Nuven, Bassist Fridtjof Benneche und Gitarrist Nils Aune machten mit dem großartigen BANNLYST-Schlagzeuger Thomas Fosseide aus Molde weiter und verfeinerten ihren aberwitzig schnellen und saucoolen Hardcore-Punk-Stil weiter. Im Zeitraum von 1985 bis 1987 gingen sie ebenfalls mehrfach auf Tour, unter anderem nach Dänemark, Deutschland und Holland. 1986 erschien zudem die Split-LP „One Day Son This Will Be Yourz“ mit DISORDER. Im Jahr 2000 erschien auf Skuld Records eine KAFKA PROSESS-Diskografie-LP „Ingen Fattige, Ingen Rike“, für die ich einen exklusiven und anderweitig zuvor nicht veröffentlichten Studiosong von meinem Tapesampler „Disorder Disorder Disorder“ von 1985 als auch eins meiner Live-Fotos von KAFKA PROSESS für das Backcover zur Verfügung stellen konnte.
Ein weiterer Hotspot für Punkrock war die Kleinstadt Molde (1982 lebten dort 20.000 Menschen) an der nordwestlichen Küste, etwa 220 km von Trondheim entfernt. Im Jahr 2020 erschien der Doppel-LP-Sampler „Molde Punx Go Marching Out“ mit 14 Bands, deren Songs allesamt von 1983 von einem einzigen Tapesampler stammten. Die bekannteste Band aus Molde waren BANNLYST (Verbannt), die 1985 auf Tour in England waren und ihre einzige 7“ auf X-Port Plater veröffentlichten. Die Musik von BANNLYST gilt bis heute als Blaupause für den klassischen norwegischen Hardcore-Punk, der sich rasend schnell und brutal anhört, zudem vom mega-kehligen Gesang getragen wird. In den Neunzigern führten KORT PROSESS und seit den 2010er Jahren DØDSDØMT diesen Stil perfekt fort. BANNLYST-Sänger Finn Erik Tangen war später Drummer von SO MUCH HATE und zuletzt bei DANGER!MAN, Gitarrist Børre Løvik war mit STENGTE DØRER und SO MUCH HATE erfolgreich, Drummer Thomas Fosseide war bei KAFKA PROSESS und STENGTE DØRER aktiv und Bassist Per Arne Haugen bei SO MUCH HATE.
Nach dem Ende von KAFKA PROSESS und BANNLYST taten sich Mitglieder von beiden Bands zusammen und gründeten SO MUCH HATE, die im Zeitraum von 1987 bis 1996 die aktivste norwegische Hardcore-Punkband waren. Sie waren gefühlt ständig auf Tour und haben weit über 400 Konzerte gespielt. SO MUCH HATE waren sehr eng mit dem Blitz-Squat verbunden und galten als kompromisslose Band mit Rückgrat gegenüber gesellschaftlicher Konformität. Sie brachten drei Studioalben, eine Single und zwei Live-Alben heraus und waren landauf, landab eine gern gesehene Band in allen autonomen Häusern, Juzis und anderen DIY-Konzertorten.
Der letzte Satz zu SO MUCH HATE trifft uneingeschränkt auch auf die Osloer Band LIFE ... BUT HOW TO LIVE IT? zu, die im Zeitraum von 1988 bis 1994 bestanden. Ähnlich wie bei JINGO DE LUNCH in Deutschland brachten LBHTLI? den rockigen Aspekt in den Punkrock zurück. Das lag vor allem an der einzigartigen Spielweise von Gitarrist Roger Andreassen als auch an der charismatischen Frontfrau Katja Benneche Osvold. Fun Fact am Rande: Ende der 80er Jahre waren alle Bandmitglieder Dreadlock-Träger, was zur damaligen Zeit ein typisches äußerliches Merkmal innerhalb der europäischen Hardcore-Punk-Szene war und null mit etwaiger Reggae-Liebhaberei zu tun hatte. Dass dieses Merkmal der Punk-Subkultur heute als „kulturelle Aneignung“ bezeichnet wird, zeugt von der totalen Unkenntnis der Deutungshoheit-Taliban heutzutage. LBHTLI? spielten ebenfalls Touren und hunderte Konzerte in ganz Europa, veröffentlichten drei Studioalben, zwei Singles und vier Live-Alben. Gitarrist Roger und sein Bruder Tom Andreassen spielten in den Jahrzehnten darauf in weiteren Bands zusammen, wie zum Beispiel DRUNK und DANGER!MAN. Sängerin Katja wurde Lehrerin und singt seit 2014 in der Band CASTRO zusammen mit Leuten der Trondheimer Bands ANGOR WAT beziehungsweise ISRAELVIS. Drummer Dyret Jensen war später bei 2:20 und CAPTAIN NOT RESPONSIBLE aktiv. Sämtliche LBHTLI?-Studioalben wurden in den letzten Jahren von Boss Tuneage Records aus England wiederveröffentlicht.
Der Kern von LBHTLI? waren die Brüder Roger und Tom Andreassen, die 1984 im nah am Polarkreis gelegenen Harstad ihre erste Band BARN AV REGNBUEN (Kinder des Regenbogens) gründeten. Harstad liegt ca. 100 km westlich von Narvik direkt an der Küste. 1986 erschien auf X-Port Plater die Debüt-7“ „Det E’kje Nåkka Artig Længer“, gefolgt von einer Flexi-Single mit dem Titel „Helter Og Skurker!“ auf Barneplater. Als Band konnten sie hoch oben im Norden nichts reißen, deshalb zogen die Brüder Anfang 1988 ins 1.400 km entfernte Oslo, woraufhin sich dann sehr schnell LBHTLI? gründeten. 2006 erschien eine BARN AV REGNBUEN-Diskografie-LP auf Cradle To Grave Records, zudem hatte ich das Glück, im Rahmen des vierzigjährigen Jubiläums des Blitz-Squat 2022 ein komplettes einmaliges und vor allem grandioses Reunion-Konzert von BARN AV REGNBUEN zu sehen, bei dem der Original-Drummer Ulf Bendiksen das Dreier-Line-up komplettierte.
Eine weitere in Deutschland von Mitte der 80er bis Mitte der 90er Jahre sehr beliebte Band war STENGTE DØRER (Verschlossene Türen). Sie bestand wie bereits erwähnt aus Børre Løvik (BANNLYST), dem Bassisten Jo Raknes, zudem saß Thomas Fosseide (BANNLYST/KAFKA PROSES) am Schlagzeug. 1985 veröffentlichten STENGTE DØRER auf X-Port Plater ihre erste Split-7“ mit der jugoslawischen Band PROCES, wobei alle weiteren Platten von STENGTE DØRER (vier LPs, eine 7“) auf den deutschen Plattenlabels Double A aus Wuppertal und Beri Beri aus Hamburg erschienen. Daher spielte die Band regelmäßig einzelne Konzerte oder Touren in Deutschland. Sänger Hasse Jørgensen singt seit Ende der 2000er Jahre bei KNUSTE RUTER (Zerbrochene Fenster), die sich musikalisch sehr ähnlich wie STENGTE DØRER anhören. Hasse erlitt von einigen Jahren einen schweren Schlaganfall, der ihn halbseitig lähmte. Trotzdem schafft es Hasse, live eindrucksvoll zu performen – er steht felsenfest aufrecht am Standmikro und haut mit fester Stimme seine Texte raus. 2022 hatte ich das Glück, auf dem Grinebitern-Festival in Horten, 90 km südlich von Oslo, direkt am Oslo-Fjord gelegen, direkt hintereinander sowohl KNUSTE RUTER als auch STENGTE DØRER live zu sehen.
In der norwegischen Punk-Szene gibt es eine Art Zweiteilung. Es gibt zum einen das große DIY-Netz der Punkbands rund um das Blitz-Squat, aber auch eine Menge Bands, die immer schon ihr eigenes Ding durchgezogen haben. Heute gibt es viele Gruppen, die sich mit ihrer Version von modernem Punkrock abgrenzen und ihre Platten vorrangig zum Beispiel auf Fysisk Format Records veröffentlichen. Im Jahr 1983 gründete sich in Moss, 100 km südlich von Oslo gelegen, die Band SISTE DAGERS HELVETE (Die Hölle der letzten Tage), deren „The Hell“-LP 1984 auf dem deutschen Rock-O-Rama-Label veröffentlicht wurde und als erstes norwegisches Hardcore-Punk-Album gilt. Die Aufnahmen der LP wurden über das finnische Propaganda-Label ohne Kenntnis der Band an R-O-R Records weitergeleitet, wobei der Sound auf dem Studiomaster negativ verändert wurde als auch Songtitel auf dem Cover verwechselt wurden. 2005 erschien auf Cradle To Grave Records eine im Sinne der Band remasterte Neuauflage von „The Hell“ und 2010 veröffentlichte Fysisk Format eine Diskografie-CD mit den Songs der remastertern LP, einem Track vom „Na Eller Aldri“-7“-Sampler, drei Songs von einem weiteren Tapesampler von 1985, plus 13 Live-Songs von einem Reunion-Konzert von 2009. Über die Band erfährt man heutzutage nur sehr wenig. Drummer Rune Johnsen spielte später zumeist in lokalen Bands, während Gitarrist und Sänger Morten Henriksen seit langen Jahren mit der coolen Powerpop-Band THE YUM YUMS erfolgreich ist.
Als erste Hardcore-Punk-Band Norwegens gelten BETONG HYSTERIA aus Oslo, die gerade mal zwei Jahre von 1981 bis 1983 existierten. Es war die erste Band von Gitarrist Nils Aune, der anschließend für die markanten Gitarrenriffs bei SVART FRAMTID und KAFKA PROSESS verantwortlich war. 1982 erschien die einzige BETONG HYSTERIA-7“, die „Spontan Abort“ hieß. Der erste Song „Snuten kommer“ („Die Bullen kommen“) beginnt mit Originaltönen von einer gewalttätigen Straßenschlacht in Oslo zwischen Punks und der Polizei und geht dann in einen großartigen schnellen Hardcore-Punk-Song über, der die pure Wut der Band bündelt. Dieser Song hatte europaweit in den frühen 80er Jahren einen Kultstatus unter den Punks, ähnlich wie „A.C.A.B.“ von SLIME oder „Züri brännt“ von TNT aus der Schweiz. 2011 erschien von BETONG HYSTERIA eine posthume 7“ mit acht im Dezember 1982 aufgenommenen Demotracks. 2008 steuerte die Band zudem einen Song für einen Patrik Fitzgerald-Tribute-Sampler bei, was Gerüchte um eine offizielle Reunion befeuerte, die letztendlich nicht zustande kam. Kritisch und kontrovers zu bewerten ist zudem das Verhalten von Sänger Geir Brurok, der sich Anfang der 90er Jahre in einem Zeitungsartikel als „Nationalist“ bezeichnete und auch mit bekannten norwegischen Nazis abhing, wodurch er zur Persona non grata in der subkulturellen Szene wurde. Erst 2007 distanzierte er sich öffentlich von Fremdenfeindlichkeit und Sexismus. Das „Gschmäckle“ wird allerdings ewig haften bleiben.
ANGOR WAT waren eine der frühen Punkbands aus Trondheim, einem weiteren Zentrum der Punk-Szene, die vornehmlich im UFFA-Squat angesiedelt war. ANGOR WAT gründeten sich 1981 und waren vor allem von englischen Polit-Punk-Bands wie CRASS beeinflusst. 1983 ging es mit dem Einstieg des Gitarristen Viggo Mastad spürbar voran, allerdings dauerte es bis 1984, bis eine erste Veröffentlichung in Form eines Split-Tapes mit BANNLYST erschien. Die Leute von ANGOR WAT betrieben alles auf einem DIY-Level, soll heißen sie machten gemeinsam das Knall-Fanzine, das Knall-Tapelabel als auch das Knallsyndikatet-Label. 1985 erschien die „General Strike“-LP auf dem englischen Children Of The Revolution-Label (C.O.R.), was ANGOR WAR die Gelegenheit einbrachte, eine Englandtour zu spielen. 1986 ging es mit der Band zu Ende, aber das Knall-Imperium blieb bestehen. 1988 gründeten die Gitarristen Viggo Mastad, Morten Skjørholm und Drummer Jens-Petter Wiig die Band ISRAELVIS beziehungsweise Jahrzehnte später dann CASTRO, die ebenfalls viel unterwegs waren.
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