Gerade in der Provinz sind Tätowierungen noch immer weit mehr als bloße Hingucker. Besonders hier zeigt sich, wer man ist und wo man steht. Kommt ein großflächiges Bekenntnis auf der Haut zu einem bestimmten Lebensstil dazu, sind die Fronten bald geklärt. COR aus Rügen kennen das. COR ist für die vier Bandmitglieder mehr als nur eine Band, sie selbst bezeichnen es als „Freistil – Kampfstil – Lebensstil“. Seit zehn Jahren gibt es COR und mit ihrem neuen Album „Snack Platt orrer stirb!“ gibt es auch genauso viele Plattenveröffentlichungen. Musikalisch reicht die Bandbreite von Hardcore über Thrash Metal bis zu Punkrock mit deutschen Texten – made auf Rügen. Sänger Friedemann, Gitarrist Pilse, Basser Matze und Schlagzeuger Hanse verbinden ihren musikalischen, Punkrock-beeinflussten Lebensstil auch noch mit etwas anderem: mit der Liebe zu bunten Bildern auf der Haut. Die ist auch immer wieder Thema in ihren Liedern, Videos oder auf ihren Plattencovern. Vor allem Sänger Friedemann fällt durch viele, kaum zu übersehende Tattoos auf. Deshalb stand er dem Ox für unser Tattoo-Special Rede und Antwort.
Was war zuerst da bei euch: die Tattoos oder die Musik?
Bei mir war es definitiv die Musik. Damit habe ich circa 1988 oder 1989 die ersten Erfahrungen gesammelt. Das erste Tattoo gab es dann 1993. Die restlichen Bandkollegen sind in Sachen Tattoo ja eher Leichtgewichte, aber auch da kam erst die Musik, dann die Tattoos.
Was ist wichtiger für euch?
Das kann man so nicht sagen. Es ist auch eine relativ sinnlose Herangehensweise, weil beide Dinge für uns zu einem Lebensgefühl gehören und deshalb gleichberechtigt nebeneinander stehen und zusammenhängen. Ich könnte mir ein Leben ohne Musik oder ohne Tätowierungen nicht vorstellen.
Die meisten von euch sind recht auffällig tätowiert. Wie reagieren die Einheimischen auf euch beziehungsweise die Massen von Touristen?
Auf Rügen und hier in der Region kenne ich niemanden, der so stark tätowiert ist wie ich, und klar, man ist ein Außenseiter. Aber das ist völlig okay, denn ich war mir dessen bewusst und habe es so gewollt. Man sollte über die ablehnenden Reaktionen auf ungewöhnliche Dinge, die man tut, nicht klagen, denn Ungewöhnliches, Fremdes und nicht Genormtes wird immer mit Misstrauen betrachtet. Das Ganze hat aber den Vorteil, dass es mir leichter fällt, Freund und Feind auseinanderzuhalten, denn die Ablehnung oder das Annehmen erfolgt direkt und man erkennt die Einstellung am ersten Blick. Und was Touristen denken, interessiert mich nicht. Sie sind Gast und ich bin der Eingeborene.
Wie seid ihr zum Punk/Hardcore gekommen?
Ich bin über die Anti-DDR-Bewegung da reingerutscht, weil meine Familie sehr in der Kirche engagiert war und den Ost-Staat immer abgelehnt hat. So wurde mir die Aufsässigkeit schon in die Wiege gelegt. Also ging ich den klassischen Weg in einer kleinen Punkergruppe – ich glaube, die einzigen fünf Punks auf Rügen – und natürlich mit musikalischen Ambitionen. Das war sehr abenteuerlich, aber besonders direkt nach der Wende war viel los in der Szene und ich war mit meiner Combo unterwegs und mittendrin. Eine gute, lehrreiche Zeit. Die anderen COR-Mitglieder haben keine Punk- oder Hardcore-Vergangenheit, sondern kommen eher aus dem metallischen Lager.
Wann habt ihr euch euer erstes Tattoo stechen lassen und was war das?
Mein erstes Tattoo bekam ich 1993 – Bart Simpson. Bei Matze, unserem Bassisten, gab’s das erste vor sechs Jahren und es war ein COR-Schriftzug über den Bauch. Gitarrist Pilses erstes gab’s vor sieben Jahren und war auch ein COR-Schriftzug, allerdings am Unterschenkel, und Drummer Hanses erstes Tattoo gab’s auch vor sechs Jahren und es war – tärää und Überraschung! – ein COR-Schriftzug auf dem Oberarm. Alles nicht sehr innovativ, aber es zeigt die Verbundenheit mit der Band, die unser aller Lebensmittelpunkt ist. Ich persönlich besitze vier COR-Querverweise als Tattoo.
Was bedeuten euch eure Tattoos?
Für mich ist ein Tattoo eine Erinnerung an ein Stück Lebensweg, an besondere Menschen, besondere Momente, besondere Musik, besonderes Leid – Dinge, die ich nie vergessen will. Deshalb lasse ich sie mir in die Haut stechen oder steche sie mir selbst. Sie sind nicht nur ein Teil von mir, sie sind ich.
Bereut ihr welche davon?
Nein, nicht eins.
Wo lasst ihr euch tätowieren?
Ich hatte sehr viele Tätowierer, aber in den letzten Jahren tätowiert mich nur meine Freundin, die auf Rügen in einem Laden arbeitet und sehr schöne Sachen macht. Einfache Dinge steche ich mir auch selbst in die freien Stellen, an die ich drankomme. Auch die Band wird von mir oder meiner Freundin tätowiert. Ich bin nur der Bauarbeiter, der die einfachen Sachen sticht, meine Freundin Susann macht die komplizierten und dicken Dinger.
Ihr seid seit zehn Jahren als Band aktiv. Wie hat sich eure Musik entwickelt?
So wie wir uns als Personen entwickelt haben. Musikalisch wächst man mit den Jahren, das Zusammenspiel perfektioniert sich und man lässt die Musik einfließen, die man selbst auch hört. Und wir hören sehr breitgefächert, von Blues bis Ska und Hardcore und Metal und Punk etc. In den Texten hinterlässt das Leben natürlich auch seine Spuren und manche Dinge betrachte ich anders als früher. Aber wütend und bissig sind wir immer noch, nur vielleicht manchmal ein wenig melancholischer als zu Beginn.
Was ist eigentlich Trashrock?
Unsere Mixtur aus allen Stilen der Gitarrenmusik. Ich sage immer, wir bedienen uns an den Resten der Musikgeschichte und präsentieren unseren eigenen Sud. Rock aus Resten, Rock aus Müll mit einer ordentlichen Prise Rotz. Was dabei herauskommt, muss nicht unbedingt Müll sein, das zu bewerten liegt aber im Ohr des Hörers.
Haben sich eure Tattoos mit euer Musik weiterentwickelt? Oder ist das ganz was anderes für euch?
Mit der Tattoo-Entwicklung ist es wie mit der musikalischen Entwicklung. Das Leben hinterlässt seine Spuren. Klar hat man musikalische Erlebnisse, wie bestimmte Textzeilen oder Schlagworte, die man sich verewigen lässt. Aber auf meinem Körper befinden sich auch Andenken an Lebensbereiche, mit denen die Musik nicht so viel zu tun hat. Im Endeffekt ergibt sich aber aus dem Zusammenspiel von Musik und Tätowierung ein großer Teil meiner Person.
Das Motto auf eurer Bandseite lautet „Freistil – Kampfstil – Lebensstil“. Wie drückt sich das aus?
Darin, dass wir unser Ding machen. Unser Credo ist: „Keinen Führer, keinen Gott“. Wir basteln uns unsere Welt selbst, leben unser Leben nach unseren Vorstellungen oder versuchen es zumindest. Dass diese Freiheit viel Kraft und viel Kampf kostet und es sie nicht umsonst und hinterhergeworfen gibt, ist uns dabei täglich bewusst. Aber wir haben gewählt und fühlen uns ganz gut damit.
Ihr seid nicht nur tätowiert, sondern thematisiert Tattoos auch immer wieder in euren Liedern. Das bekannteste dazu ist sicher „Farben“ und euer Video über die Tattoo- und Subkulturklischees ist auch ein Hingucker. Wo überall kommt die Thematik vor?
Ach, ich betrachte das Thema „tätowierter Mensch in der Provinz“ mit Ironie. Wie vorher schon gesagt, wollte ich immer so sein, und deshalb ist es okay. Ich versuche, den „normalen“ Menschen nur mitzuteilen, dass auch ich lesen, rechnen und schreiben kann und abgesehen von der Farbe auch nur aus Haut und Knochen bestehe. Dazu gibt es hin und wieder mal ein lustiges Lied, denn allzu oft möchte ich meinen Normalzustand nicht kommentieren.
Wieso ist das Thema so wichtig für euch?
Eigentlich ist es das nicht. Mir war immer wichtig, mich von der grauen Masse ein wenig abzugrenzen, und das ist gelungen. Ich bin sehr glücklich mit diesen Körperbildern und vielleicht sollte ich mal ein ruhiges Stück über diesen unfassbaren Segen schreiben. Ich kann aber auch gut mit Leuten, die Tattoos nicht so mögen und ihr Ding durchziehen. Ich denke, dass zum Beispiel meine große Tochter dazu eine ganz andere Meinung hat als der liebe Vater. Soll sie auch.
In „Farben“ heißt es: „Ihr beginnt mich zu hassen / Weil meine Farben niemals verblassen“. Was meint ihr damit?
Na ja, wenn du selbst grau und farblos und mutlos durchs Leben schleichst und vor dir springen bunte, gut gelaunte und fröhliche Menschen rum, kannst du schon Hass bekommen. Aber auch dieses Lied lebt natürlich ein wenig von Ironie – und vom ausgestreckten Mittelfinger.
Kann man es sich nicht einfach machen und sagen: „Ja, Junge, hättest dich halt nicht tätowieren lassen“?
Höre ich oft oder habe ich oft gehört, hat ein wenig nachgelassen. Ist aber wahrscheinlich, weil ich kein Junge mehr bin, sondern ein mittelalter Mann. Vor einem halben Jahr hatte ich dazu mal eine schöne Begegnung beim Bäcker. Ich wollte von der netten Frau Verkäuferin ein Stück Kuchen und bekam es auch mit der Bemerkung: „Junger Mann, warum sind Sie so tätowiert?“. Ich fragte zurück: „Junge Frau, warum tragen Sie eine Dauerwelle?“ Wir haben kurz geschwiegen, um uns dann anzulachen und zu mögen. Mach dein Ding, trag Dauerwelle, Tattoos, Schnauzbart oder Nasenring – Hauptsache, du bist glücklich.
Sind Tätowierungen politisch für euch?
Sie können Statements beinhalten, so wie etwa mein „Attitude zählt“-Tattoo an der Schläfe. Ich bin da offensiv. Jeder kann sehen, mit wem er es zu tun hat. Aber das ist meine Meinung und ich kenne genug Leute, für die ist ein Tattoo „nur“ Schmuck und auch das ist eine gute, akzeptable Variante.
Die Tattoo-Legende Herbert Hoffmann hat einmal geschrieben: „Nichttätowierte vermögen sich nicht in unsere Empfindungen und unsere Mentalität hineinzudenken. Sie begreifen nicht, wie tief die Wurzeln der Tätowierung in uns hineinreichen; sie kennen nicht das Gefühl von besonderer Freiheit, von Unabhängigkeit und Lebensglück.“ Wie steht ihr dazu?
Der Mann hat damit alles gesagt!
Gehören für euch Tattoos und Musik zusammen?
Nicht immer und zwingend, aber oft und gern.
Wollt ihr noch etwas zum Thema loswerden?
Wir wünschen allen Tätowierten, dass eure Farben niemals verblassen. Und wenn die Leute reden, immer an den guten Herrn Hoffmann und seinen Satz denken, denn sie wissen und fühlen es nicht!
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