COR

Foto© by Tom Haagen

Mit Highspeed in die Sackgasse

COR sind eine der markantesten Bands unserer Szene. Gestartet waren sie vor rund 20 Jahren mal als Hardcore-Band, doch stilistisch hat sich die Formation von der Ostseeinsel Rügen um den schon optisch markanten Frontmann Friedemann lange schon von Genre-Standards gelöst. Aber wo andere Bands beliebiger wurden, ist es hier eckiger und unbequemer geworden, konzeptionell wie textlich. Nach „Friedensmüde“ von 2020 und Friedemanns Soloalbum 2021 folgt nun „Gott der Möglichkeiten“, eine Mischung aus „normalem“ Album und Spoken Word-Platte. Friedemann und Robert beantworteten meine Fragen dazu.

Wie und mit was, welchen Aktivitäten, Tätigkeiten, etc. habt ihr die letzten zwei Jahre überstanden? Im Sommer 2020 kam ja euer Album „Friedensmüde“, aber das ging noch auf die Prä-Corona-Zeit zurück ... und 2021 dann das Friedemann-Soloalbum „In der Gegenwart der Vergangenheit“.

Friedemann: Wir sind alle Familienväter und haben uns in den zwei Jahren mit unseren Familien beschäftigt, gearbeitet und versucht, nicht im Frust und Wirrwarr der Zeit die Orientierung zu verlieren. Als Band haben wir relativ wenig Zeit miteinander verbracht, aber dann doch im Rahmen eines „Bandcamps“ die vorliegende Platte „Gott der Möglichkeiten“ auf die Beine gestellt. Die Idee dazu hatten wir schon länger im Kopf, und nun gab es Zeit und Ort, das in Ruhe umzusetzen. Tourtechnisch ging nicht viel, da erzähle ich nichts Neues, aber wir waren bemüht, wenigstens eine Handvoll Shows zu spielen. Bei meinen Solosachen ist das natürlich einfacher gewesen, da ich nicht mit einer Band proben, sondern das meiste alleine entwickeln und dann im Studio mit Eike Freese umsetzen konnte. Ein wenig schade ist, dass die „Friedensmüde“-Platte von COR und die „In der Gegenwart der Vergangenheit“-Platte von mir trotz sehr guter Kritiken und dem Wohlwollen der Hörer nicht die Aufmerksamkeit bekamen, die sie verdient hätten. Aber das holen wir jetzt auf den Touren nach.
Robert: Als wir für die „Friedensmüde“-Platte im April 2020 ins Studio gefahren sind, ging es mit Corona ja gerade richtig los und wir hofften, wie viele andere auch, dass man Ende des Jahres wieder touren kann. Im Nachhinein illusorisch, aber damals waren wir vom Songmaterial zu überzeugt und von der Situation natürlich zu überrascht, als dass uns ein Zurückhalten sinnvoll erschien. Dann spielten wir eine Handvoll Konzerte. Für die ausgefallene Herbst-Tour 2020 haben wir eine Songwriting-Session außerhalb des Proberaums geplant und auf dem Völchower Berg entstanden dann die Songs für „Gott der Möglichkeiten“.

Apropos „Friedensmüde“: Wir sprachen damals über den Titel, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine hat der eine neue Bedeutung. Was für Gedanken habt ihr dazu?
Friedemann: Unser musikalisches Schaffen und das vieler anderer Bands, Schriftsteller und denkenden Menschen dreht sich seit Anbeginn um die Tatsache, dass Krieg, Umweltkatastrophen und absolutes Chaos möglich sind und wir als Menschheit immer nur einen Schritt davon entfernt sind. Unser Überflussleben hat uns in der Illusion leben lassen, dass es nur nach vorne geht und wir alle friedlich tanzend und singend in den ständigen Sonnenaufgang reisen. Zumindest ich habe das nie geglaubt, und wenn ich seit meiner frühsten Jugend auf diese Welt und unseren Umgang mit ihr, der Natur und unseren Mitmenschen geschaut habe, ist mir schlecht geworden und ich habe Text und Musik genutzt, um das anzumahnen. Vielen ist das – auch in unserer Szene – aufgestoßen und wir haben als Band oft zu hören bekommen, dass ich nicht so viel quatschen, sondern mal lieber über Saufen, F***en und Fußball singen soll. Ich bin verwundert, wenn die Menschheit jetzt völlig überrascht ist von den Problemen, vor denen wir stehen. Für mich war das abzusehen. Wir leben in einer Zeit des Turbokapitalismus, der keine Rücksicht auf egal was nimmt und nur an der schnellen effizienten Geldvermehrung interessiert ist. Krieg nimmt er in Kauf, Gewalt, Unterdrückung, Viruspandemien, Homophobie, Ungleichheit der Menschen und deren Unterscheidung und Abstufung in Geschlechter, Hautfarben und Religionszugehörigkeiten. Dass unsere Highspeedlebensart in die Sackgasse führt, wussten wir alle, nicht wann, nicht wie, nicht wo – aber dass!
Robert: „Friedensmüde“ traf damals den Nagel auf den Kopf. Allerdings habe auch ich so eine aggressive Kriegspolitik seitens Putin nicht kommen sehen. Alleine dieses Thema könnte Bücher füllen. Ich kann nur sagen, dass wir als Band damals eine aggressive Grundstimmung im Land wahrnahmen. Durch Übersättigung in jeglicher Form ist diese Friedensmüdigkeit entstanden, die verschiedene Ausprägungen hat. Der Krieg in der Ukraine ist wirklich die mit Abstand schlimmste Form.

Zwanzig Jahre COR feiert ihr dieses Jahr – nicht?
Friedemann: Wir hassen es, uns in den Mittelpunkt zu stellen und irgendwelche Jahrestage zu feiern. Keine Extrashirts, kein sinnloses Jubiläumsmerchandise, das die Welt nur noch vermüllter zurücklässt und den Hörern das Geld aus der Tasche zieht. Seien wir ehrlich: Warum feiern Bands solche Feste? Um extra Einnahmen zu generieren. Scheiß auf zwanzig Jahre, es kommen noch genügend andere – oder eben nicht! Wir haben das gemacht, wozu wir da sind: eine Platte. Eine Besondere, eine Art Hörbuch namens „Gott der Möglichkeiten“ und damit den COR-typischen Stil auf die Spitze getrieben: Inhalt plus Musik. Es geht um das Thema Lebensgeschwindigkeit, wie sie uns krank macht und wie man aussteigen kann, ein klares Ja zum Leben sagt und welche Möglichkeiten und Verpflichtungen aus einer anderen Art zu leben erwachsen. Das heißt nicht, dass wir den Stein der Weisen gefunden hätten, das heißt nur, dass wir über uns nachdenken, reflektieren und eine Idee entwickeln. Ob richtig oder falsch, müssen andere entscheiden.

Könnt ihr mal irgendwie versuchen zusammenzufassen, was zwanzig Jahre in und mit so einer Band mit einem machen, wie sie einen verändern, das Leben prägen, die Personen, die Persönlichkeit?
Friedemann: Ich kann hier nur für mich sprechen. Ich liebe es immer noch, Musik zu machen, zu hören und zu erleben. Ich treffe gerne Gleichgesinnte, gebe ihnen Kraft durch unsere/meine Musik und nehme Kraft von ihnen entgegen, indem sie mir von ihrem Leben und ihrer Wirklichkeit erzählen. Ich verachte und hasse die Kommerzialisierung unserer Szene, die Geldmachmentalität vieler Bands, Managements, Labels, Merchhändler und bin traurig, dass wir diese Welt nicht viel besser gemacht haben, sondern uns zu sehr mit unserer Selbstbeweihräucherung befasst haben und keine Szene mit Musikern und Zuhörern auf Augenhöhe, sondern mit Rockstar-Attitüde – wir oben, ihr unten – aufgebaut haben. Es wird viel von Freiheit und dem Bekämpfen des Systems und des Kapitalismus schwadroniert, aber viele Bands und Szeneinterne sind einfach nur auf den Möglichkeitenzug, den ihnen das System geschickt geboten hat, aufgesprungen und ihre Ware ist Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Antifaschismus etc. und sie verkaufen sie über die Wege, die sie verachten, unter Nutzung der Strukturen, die sie ablehnen. Wir sind gescheitert und sollten so ehrlich sein, das zu erkennen, und uns aufmachen, unsere mit vielen Worten und T-Shirt-Sprüchen beschworene Vision in die Tat umzusetzen.

Nun ist euer neues Album „Gott der Möglichkeiten“ ein ... tja ... Konzeptalbum? Zehn Stücke sind darauf, nur ganz bedingt wird mal hardcorig geballert, siehe „Tempo Tempo Mr. Rausch“, stattdessen gibt es Düster-Atmosphärisches wie „Angst“ – und vor allem „Spoken Word“-Stücke, von Friedemann vorgelesene Texte. Wie habt ihr das Album, seine Bausteine entwickelt?
Friedemann: Die Idee war lange schon in meinem Kopf, die Jungs hatten Bock drauf. Das Krankwerden durch den alltäglichen „Ich muss abliefern“-Stress, ist ein großes Thema. Die Hektik der Zeit, der wir uns bewusst oder unbewusst unterwerfen, macht krank und tötet uns. Dieses Hamsterrad zu verlassen, sich neu zu ordnen und sich zu orientieren, Möglichkeiten zu entdecken und den Mut zu haben, Neuland zu betreten, ist nicht unmöglich und befreit die Menschen von der Last der Ansprüche und Versuchungen der Gesellschaft. Ich selber ringe täglich mit mir, um nicht in der großen Mühle zermahlen und zerstört zu werden, und somit hat die Platte sehr starke autobiografische Züge. All die Hektik, der Stress, die Angst, die Krankheit, das Ja zum Leben und der Blick nach vorne – all das bin auch ich, all das sind auch wir.
Robert: Als wir uns im Oktober 2020 auf den Völchower Berg eine Woche einsperrten, um neue Songs zu schreiben, hatte Friedemann vorher schon diese Idee. Wir wussten, dass wir nach „Friedensmüde“ nicht einfach nur ein Album nachlegen wollten. Also haben wir fünf komplett unterschiedliche Songs passend zur Story geschrieben. In dieser einen Woche haben wir also die Stücke geschrieben und danach auch nicht mehr dran gebastelt, um den Spirit nicht verlieren.

Ihr schreibt zur Idee des Albums: „Es geht um die Hektik der Zeit, darum dass Geschwindigkeit und ewiges Wachstumsdenken die Welt zerstört und die Menschen krank macht. Es geht um Auswege aus diesem Dilemma, um Möglichkeiten, eine Alternative zur vorgegeben Taktung zu finden, und darum, persönliche Entscheidungen zu treffen und ein ‚Gott‘ der Möglichkeiten zu sein, das eigene Leben selbstbestimmt zu führen und für sich und seine Nächsten zu gestalten.“ Heavy stuff ... Welche Momente, welche konkreten Erlebnisse gab es, die euch zu dieser Erkenntnis führten?
Friedemann: Ich bin 2011 schwer erkrankt und musste mein Leben umstellen, um zu überleben. Ich habe in die Dunkelheit gesehen und den Schmerz gespürt. Aber ich wollte nicht aufgeben, denn ich liebe das Leben. Es ist ein Geschenk, nur wir selbst erkennen das zu spät und treten es mit Füßen. Ich bin nicht mehr derselbe Mensch wie vor 2011, ich bin angeschlagene und beschädigte Ware. Aber das ist okay, ich nehme es an und kämpfe meine Kämpfe. Ist das aussichtslos? Wenn man es hinnimmt, ja, wenn man dagegen angeht, nein!

Ich drücke es mal so aus: Die Pandemie hat mit den verschiedensten Menschen die seltsamsten Dinge angestellt. Ist und war es die Pandemie, die zu „Gott der Möglichkeiten“ geführt hat?
Friedemann: Nein. Das hat damit nichts zu tun. Der Grundstein für diese Geschichte liegt wie gesagt im Jahre 2011. Die Veränderungen im sozialen Gefüge und im Alltag der Menschen und deren Auswüchse machen das Thema aber sehr aktuell. Wir verzeichnen in den letzten Jahren einen dramatischen Anstieg von psychischen Erkrankungen und erleben eine Gesellschaft am Limit. Vielleicht können wir dem einen oder anderen Menschen mit dieser Platte Hilfe und Anstoß sein, seine Lebensrealität bewusst zu ändern und zu gestalten. Das wäre schön. Außerdem gab uns diese Form der Veröffentlichung die Möglichkeit, musikalisch Dinge zu probieren, extrem unterschiedliche Stimmungen in Musik zu fassen und den COR-Sound zu erweitern und als Band weiter zusammenzuwachsen.
Robert: Die Idee eines weiteren Hörspielalbums gab es schon vor der Pandemie. Tino und ich kommen musikalisch aus sehr experimentellen Ecken des Post-Metal und Progressive. Die Symbiose aus beiden Welten hatte schon beim Schreiben für „Friedensmüde“ für spannende Jam-Sessions gesorgt. Das zu vertiefen war jetzt unser Plan. Songs wie „Angst“ oder „Gott der Möglichkeiten“ würden, so denke ich, auf anderen COR-Alben vielleicht auch gar nicht funktionieren. Die Pandemie hat uns vielleicht jetzt eher ermutigt, dann jetzt diese Idee auch umzusetzen.

Nun ist der Grat zwischen Gedanken wie den auf dem Album geäußerten und – verzeiht mir diese konkrete Frage bitte – womöglich esoterisch-religiösem Geschwafel potenziell schmal. Und ja, ihr schwafelt und schwurbelt nicht, aber wie geht man mit dem Wunsch nach dem Stellen von Fragen und Finden von Antworten um, ohne letztlich in Gemeinplätzen aus der Wellness-Hölle zu enden?
Friedemann: Ich bin ein wissenschaftsgläubiger Mensch . Es gibt Corona. Corona ist ein Virus. Es ist eine ansteckende, für bestimmte Gruppen gefährliche Krankheit. Das Virus kann mutieren und gefährlicher oder unbedenklicher werden. Es gibt die Möglichkeit, sich impfen zu lassen. Wir müssen weiter forschen, um dieses Virus besser zu verstehen und vielleicht in den Griff zu bekommen. Das sind grob zusammengefasst die Erkenntnisse und der Stand der Wissenschaft. Was aus diesen paar Sätzen von Gegnern und Befürwortern und von Medien und Staat gemacht wurde, ist in meinen Augen lächerlich und zeigt die tiefe gesellschaftliche Spaltung, mit der wir uns seit vielen Jahren abfinden. Jeder glaubt seine Wahrheit, wir hören uns nicht zu, versuchen keine gemeinsame Lösung zu finden, sondern fallen verbal und physisch übereinander her. Was machen wir eigentlich, wenn wir als Gesellschaft mal richtige Probleme bekommen, die nur gemeinsam zu lösen sind? Beim Gedanken daran wird mir mulmig. Ich finde, jeder kann seine Meinung zu diesem Thema in einer vernünftigen Art und Weise äußern und dann kann man das diskutieren oder halt nicht. Aber man muss auch akzeptieren, dass es dazu viele Ansätze geben kann und einem selbst das nicht immer passen muss. Ich selber bin geimpft, weil ich es für mich und meine Familie vernünftig finde, aber habe auch viele Freunde und Bekannte, die das für sich eben ablehnen. So ist es und wir finden Mittel und Wege, um trotzdem miteinander leben zu können. Strömungen in der Gesellschaft, die zu einfach jedem Thema Dünnschiss erzählen, wird es immer geben. Das sollten wir aushalten und uns nicht deswegen zerlegen. Fragen müssen gestellt werden, staatliche Anordnungen hinterfragt werden, Kritik erlaubt sein und ein queres Denken – das wir als offene Linke jahrzehntelang für uns beansprucht haben – sollte möglich sein. Das ist oft unangenehm und demokratische Prozesse sind anstrengend und verlangen Einsatz, aber wenn wir uns dem verweigern, sind wir moralisch bankrott.