BOYSETSFIRE

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Spiritualität, Dummheit und bayrische Arroganz

Vor einigen Jahren, es muss um 1990 gewesen sein, hat in München ein kleiner Junge auf einen Fernseher gedeutet und seine Eltern zum Lächeln gebracht. Sie konnten ja nicht ahnen, welchen Einfluss das eben gesehene METALLICA-Video auf das Leben ihres Sohnes haben sollte. Für den damals Zwölfjährigen aber stand seit diesem Moment fest, wie er später einmal sein Geld verdienen wollte, und es war ihm egal, ob seine Familie ihn dabei ernst nahm: Robert Ehrenbrand wollte Musiker werden. Fünfzehn Jahre später spielt der belächelte Metal-Fan von einst bei BOYSETSFIRE und damit bei einer der wichtigsten Hardcore-Bands der letzten Jahre. Viel Grund zum Feiern hatte er seit seinem Einstieg allerdings nicht. Im Gegenteil. Er fand sich in einer Band wieder, der ihr dunkelstes Kapitel gerade unmittelbar bevorstand. Für das Ox nahm sich Robert Ehrenbrand die Zeit, einmal zurückzublicken und seine Geschichte zu erzählen.

Den Ehrenbrands war das Schmunzeln über den Berufswunsch ihres Sohnes kaum vergangen, da begann ihr Sprössling auch schon, in Bands zu spielen. Kurz nach der Jahrtausendwende war er seinem Traum mit MY HERO DIED TODAY schließlich so nahe wie niemals zuvor in seinem Leben. Die Band hatte drei Jahre hart für den Erfolg gearbeitet und bereits mit Größen wie CONVERGE, REFUSED oder NAPALM DEATH gespielt. Nun stand man unmittelbar vor einer achtwöchigen Tour durch die Vereinigten Staaten, was für eine europäische Band ein ganz bemerkenswerter Vorgang war (und immer noch ist). Doch es sollte nicht soweit kommen. Die Band zerbrach. Die Persönlichkeiten der gerade mal Zwanzigjährigen waren einfach zu unterschiedlich, als dass man sie zusammen mit Alkohol und Disziplinlosigkeit in einen engen Tourbus stecken konnte. Kurz vor dem Ende war das Bandgefüge durch Streit und Machtkämpfe so marode geworden, dass sich sogar um Kleinigkeiten wie T-Shirt-Designs „riesige Dramen“ abspielten.
Trotzdem wurde in diesem „totalen emotionalen Chaos“ der Grundstein für Roberts musikalische Karriere gelegt. Zum Beispiel an jenem Tag, als MY HERO DIED TODAY nach Manchester fuhren: „Oise, unser Fahrer, ist auf der Fähre zusammengebrochen, weil er 16 Stunden durchgefahren ist. Und dann haben wir nach dieser Tortur vor drei Leuten gespielt. Ich weiß noch, wie frustriert ich damals war. Ausgerechnet Oise hat mich dann zur Seite genommen und war sehr streng mit mir. Er wolle mich heute kein bisschen schlechter spielen sehen, als bei einem Auftritt mit NAPALM DEATH vor 2.000 Leuten. Das sind Lektionen, die man niemals vergisst. Ohne MY HERO DIED TODAY wäre alles, was nachher passiert ist, so nicht gekommen.“ Nicht zuletzt, da eine aufstrebende Band namens BOYSETSFIRE die Münchner auf ihre erste Europatour mitnahm. Die dabei entstandenen Freundschaften sollten noch eine wichtige Rolle im Leben des Mannes spielen, der nie etwas anderes vorhatte, als Musik zu machen.

Doch so kurz nach dem Ende von MY HERO DIED TODAY überwog erst einmal die Enttäuschung. Ehrenbrand kehrte seiner Heimatstadt München den Rücken und zog – auch der Liebe wegen – nach Berlin. Kein leichter Schritt. „Schließlich bin ich mit ganzem Herzen und Dickschädel Bayer und habe einen ganz engen Bezug zu dieser Stadt“, gesteht Robert, der während der ersten Zeit in der Hauptstadt zudem von Geldsorgen geplagt wurde. Diese hatten jedoch ein Ende, als ihn eines Tages ein Spaziergang am Sony-Gebäude am Potsdamer Platz vorbeiführte. Dort paarten sich seine Geldnot und seine Rotznäsigkeit mit seinem Interesse an den Strukturen einer Plattenfirma. Seine Kurzentschlossenheit brachte ihm tatsächlich ein Vorstellungsgespräch und nach einem Praktikum einen sehr gut bezahlten Job als Assistent in der Promotion-Abteilung ein. Es gab da allerdings ein kleines Problem. Robert wollte kein Teil des Major-Apparates sein: „Es war mir völlig Wurst, wie viele Platten eine Jennifer Lopez verkauft. Das ganze System der Major-Firmen hat einfach nicht mit dem übereingestimmt, was ich für richtig halte. Ich konnte da vieles lernen, was ich nicht will in meinem Leben.“
Und so kündigte er von einem Tag auf den nächsten, ohne zu wissen, wie es weitergehen sollte. Robert erinnert sich noch lebhaft an die Reaktionen seiner Arbeitskollegen. Sie hielten ihn für verrückt, schließlich sind Jobs bei Plattenfirmen nicht so einfach zu bekommen und gelten bei vielen als eine Art Privileg. Für Ehrenbrand kein Argument: „Ich würde nie etwas machen, nur um die Miete zu bezahlen. Dazu ist das Leben zu kurz. Ich hatte da schon immer so ein ganz klein wenig Gottvertrauen, wenn ich von ganzem Herzen eine Entscheidung treffe. Ich glaube, bei mir paart sich Spiritualität mit Dummheit und bayrischer Arroganz.“

Man kann diesen Glauben an eine höhere Macht besser nachvollziehen, wenn man weiß, dass Roberts Unsicherheit seine berufliche Zukunft betreffend gerade einmal einen Tag dauern sollte. Dann läutete das Telefon. Matt, der Schlagzeuger von BOYSETSFIRE, wollte seinen alten Freund aus vergangenen Tourtagen dazu überreden, die anstehenden Europadaten mit DEATH BY STEREO als Roadie zu begleiten. Er wusste natürlich um Roberts guten Job und rief deshalb ohne große Hoffnung und mehr um der alten Zeiten Willen an. Völlig unerwartet bekam er eine Zusage. „Das war erst einmal nur ein Grund für uns, zusammen rumzuhängen“, gesteht der Blondschopf heute. Doch der frischgebackene Roadie nahm seine Arbeit verdammt ernst. Er arbeitete vierzehn Stunden am Tag und hatte am Ende der Tour fast genauso viele Kilos verloren.
Robert begleitete BOYSETSFIRE insgesamt ein halbes Jahr durch die ganze Welt. Länger konnte er den Drang, selbst Musik zu machen, nicht unterdrücken. Er hatte BOYSETSFIRE also bereits gekündigt, als deren Bassist nach einem Auftritt bei „Rock im Park“ seinen Ausstieg verkündete. Rob Avery kam mit dem anstrengenden Tourleben einfach nicht mehr zurecht und wollte nur noch nach Hause zu seiner Frau. Zwar bot er der Band an, die laufende Tour zu Ende zu spielen, doch dies wurde abgelehnt. „Entweder ganz oder gar nicht“, lautete die Begründung. Das Meeting, in dem sich BOYSETSFIRE über einen Nachfolger beratschlagten, soll weniger als zehn Minuten gedauert haben. Es war dennoch kein unüberlegter Schnellschuss: „Lange bevor das Ganze passiert ist, habe ich Chad ein paar Lieder von mir auf der Akustikgitarre vorgespielt. Und Jahre später hat er mir dann verraten, dass er an diesem Nachmittag entschieden hat, irgendwann einmal etwas mit mir zu machen.“

Robert selbst benötigte noch weniger Zeit als die Band, um sich zu entscheiden. Er musste keine Sekunde nachdenken. Nur eines gab es noch zu tun. Er musste mit Rob sprechen: „Ich wollte wissen, ob das ihn Ordnung für ihn ist. Erst als er meinte, dass er sich nichts mehr wünschen könnte, als dass einer seiner Freunde die Lieder spielt, die er geschrieben hat, habe ich zugesagt.“ Robert blieben nur wenige Stunden, um gemeinsam mit Rob zu üben, dann brach dieser zum Flughafen auf. Und das auf einem Instrument, das ihm nicht vertraut war. Schließlich war er ja eigentlich Gitarrist. Doch wieder kam ihm der Zufall zu Hilfe – er selbst würde wahrscheinlich von Schicksal sprechen. Just an diesem Tag streikte der Tourbus und die Show am Abend musste abgesagt werden. Trotzdem: es blieb nur ein Tag Zeit, um siebzehn Songs zu lernen.
Am nächsten Abend betrat Robert die Bühne in Budapest, ohne vorher ein einziges Mal mit der Band geprobt zu haben. Aufgrund eines Stromausfalls war nicht einmal mehr Zeit für einen Soundcheck gewesen. Er stand in dem ausverkauften Club und hörte das Gitarren-Feedback am Anfang von „After the eulogy“. Das war der Moment, als er zum ersten Mal mit BOYSETSFIRE Musik machte. Der kleine Junge aus München war am Ziel seiner Träume angekommen. Er war vom ersten Tag an voll in die Band integriert und bekam sofort nach seinem Einstieg ein zwanzigprozentiges Mitspracherecht sowie zwanzig Prozent der Einnahmen.
Von da an verschwimmen Robert Ehrenbrands Erinnerungen etwas. Gerade in der ersten Zeit mit BOYSETSFIRE passierten einfach zu viele Dinge auf einmal. Ein Arbeitsvisum für die USA musste beantragt werden. Die Wohnung in Berlin musste aufgelöst, die Möbel verkauft werden. „Alles Kleinigkeiten, die an sich kein Problem sind. Aber wenn du in einem Tourbus von Budapest nach Prag hockst, dann ist das plötzlich eine ganz schöne Herausforderung“, lacht Robert inzwischen. Doch mit Hilfe seiner damaligen Freundin und seiner Familie schaffte er den Sprung nach Amerika. Er zog zu Sänger Nathan Gray ins Bandhaus von BOYSETSFIRE, einem Farmhaus, in dem sich auch der Proberaum befand. „Ich habe auf einer schimmeligen Matratze auf dem Boden gepennt, mit nur einer Decke. Das war mein ganzer Besitz. Von einem relativ komfortablen Lebensstil in Berlin bin ich zu einer Art Penner geworden.“

Inzwischen hat er sich in Amerika eingelebt. Er wohnt mit seiner Freundin Kate und zwei Katzen in Asbury Park, New Jersey – direkt am Strand. „Das ist natürlich eine Sache, die in München eher schwierig wird“, grinst Robert, der sich trotz gelegentlichem Heimweh deshalb nicht beschweren will. Er ist angekommen. Zumindest, soweit ihm das möglich ist: „Ich gehöre leider zu den Menschen, die nie richtig ankommen. Ich habe immer Träume, die über das hinausgehen, was ich im Moment mache.“ Wenigstens als Bassist fühlt er sich am Ziel: „Ein guter Bassist zu werden, hat bis zu den Aufnahmen des neuen Albums gedauert. Sachen nachzuspielen, die ein anderer geschrieben hat, das ging ganz gut. Aber eine Basslinie für ein neues Lied zu schreiben, ist etwas ganz anderes.“
Mit „The Misery Index: Notes From The Plague Years“ erscheint nun also in diesen Tagen das erste BOYSETSFIRE-Album, bei dem die Ehrenbrands nicht nur den Namen ihres Sohnes im Booklet lesen können, sondern auch ihren eigenen. Er wird ganz oben in Roberts Dankesliste abgedruckt sein. Vielleicht lächeln sie dann wieder. So wie damals, als ihr Sohn sich für einen Beruf entschied.

Robert, wie sehr bist du selbst über deine bisherige musikalische Karriere erstaunt?

Ich bin nicht nur erstaunt, ich bin vor allem auch sehr dankbar. Alle meine Träume aus MY HERO DIED TODAY-Zeiten haben sich inzwischen erfüllt. Manchmal denke ich, dass es fast schon unverdient ist, dass jemand so viel Glück hat. Ich bin total erstaunt, total dankbar und teilweise – wie bei jedem anderen Beruf auch – total genervt, haha.

Ist es nicht auch ein bisschen schade, dass sich alle deine musikalischen Träume bereits erfüllt haben?

Schade finde ich es nicht, nur eben manchmal unverdient. Viele der Lieder, die wir spielen, habe ich nicht geschrieben, und ich kenne Hunderte Musiker, die besser sind als ich. Aber es ist jetzt so, wie es ist. Ich will das Beste daraus machen. Gerade die Schwierigkeiten mit unserer Plattenfirma waren Anlass für mich, mein Mitspracherecht geltend zu machen. Ich wollte mein Stimmrecht so ehrlich und so nahe am Herzen gebaut einsetzen, wie es irgendwie möglich war.

Nach deinen Erfahrungen als Assistent bei einer Major-Plattenfirma muss es dich doch geärgert haben, dass BOYSETSFIRE kurz vor deinem Einstieg bei Wind-up Records unterschrieben hatten?

Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich mit der Plattenfirma überhaupt nicht zufrieden war. Ich kann aber nachvollziehen, warum die Band diesen Schritt gemacht hat. Es waren dieselben Gründe wie damals bei RAGE AGAINST THE MACHINE. Außerdem wurden sie von Victory behandelt wie Scheiße. Und da kam das Angebot von Wind-up wie gerufen.

Was genau wirfst du Victory Records denn vor?

Ich kenne Tony Brummel nicht persönlich, aber ich höre keine guten Dinge über ihn. Ich glaube, dass er seine Bands nicht anständig bezahlt. Für BOYSETSFIRE war eine Platte jedenfalls genug, um nicht weiter auf seinem Label sein zu wollen. Aber ich war zu der Zeit natürlich noch nicht in der Band und will jetzt keinen Streit mit Victory anfangen. Doch ich weiß, was meine Jungs mir so erzählen. In meinen Augen ist das ein unseriöses Label.

Dafür waren BOYSETSFIRE dann beim Major-Sublabel Wind-up Kollegen von Bands wie EVANESCENCE ...

Wind-up ist ja kein Major im eigentlichen Sinn. Die haben außerhalb Amerikas eben keine Büros und arbeiten deshalb beim Vertrieb mit Sony zusammen. Aber in Amerika selbst gibt es einen Besitzer, den man anrufen kann. Das ist wie eine Independent-Firma ...

... dann aber eine mit sehr seltsamen Bands.

Das stimmt, die Bands waren schrecklich. Aber ich halte niemandem etwas vor. Wer weiß, was ich damals getan hätte. Ich verstehe, was BOYSETSFIRE damit bezwecken wollten. Und die Versprechungen von Seiten des Labels waren riesig. Natürlich gibt es auch mit Equal Vision und Burning Heart hin und wieder Diskussionen, aber letztendlich wissen die ganz genau, wen sie da unter Vertrag genommen haben. Es freut mich, dass beide jetzt so begeistert von der neuen Platte sind.

Die haben euch einen Vertrag gegeben, ohne die neue Platte zu kennen?

Bis auf ein paar Demo-Versionen, die dann so aber auch nicht auf der Platte waren, haben sie kein einziges Lied gekannt. Ihr Wissen über die Platte war also sehr gering, haha.

Wenn man euer neues Album gehört hat, ist es nicht nachvollziehbar, dass Wind-up keinen Hit darauf ausmachen konnten.

Um ehrlich zu sein, war ich auch etwas überrascht. Mir wird immer klarer, dass sich Wind-up nicht ganz bewusst waren, wer wir sind. Ich glaube, sie hatten einfach Angst vor uns als Band. Die leben in einer anderen Welt. Wir wurden von denen immer wieder hingehalten. Mal hieß es, wir können machen, was wir wollen und sollen ins Studio gehen. Und einen Tag später, unmittelbar vor der Abfahrt, haben sie uns dann zurückgepfiffen, weil die Radioabteilung angeblich fand, dass da kein Hit auf dem Album sei. Das ist doch uns egal, ob da ein Hit drauf ist oder nicht. Wir glauben, dass die Platte gut ist, und dass sie in musikalischer und textlicher Hinsicht einen Fortschritt für uns darstellt. Aber wenn ich mir ein Lied wie „Empire“ anhöre, dann frage ich mich schon, warum das nicht im Radio gespielt werden soll. Wind-up haben es dann einfach so hingestellt, als hätten wir kein Interesse daran, erfolgreich zu sein. Das letzte Wort von ihnen war dann aber, dass sie die Platte veröffentlichen würden. Doch wir wollten sie lieber mit Leuten herausbringen, denen wir vertrauen. Und das ist bei Burning Heart und Equal Vision definitiv der Fall.

Am Ende der Beziehung zu Wind-up brachten diese ja dann sogar einen Co-Songwriter ins Spiel, der euch helfen sollte, eine Single zu schreiben. Wie sehr zweifelt man in so einem Moment an seinen Fähigkeiten als Musiker?

Ich habe nie an irgendetwas gezweifelt. Ich hatte ja auch gar keine Ambitionen in diese Richtung. Natürlich freue ich mich, wenn ein Lied, das ich geschrieben habe, im Radio läuft. Aber der Grund, warum ich Musik mache, ist ein anderer. Es geht mir ganz sicher nicht darum, in die Charts zu kommen. Sich zu verbiegen und ein fremdes Lied als sein eigenes auszugeben, das kam überhaupt nicht in Frage. Ich wäre eher ausgestiegen, als das zu tun. Mit einer Welt, in der Lügen verkauft werden, möchte ich nichts zu tun haben. Das ist es, was ich unter Ausverkauf verstehe. Ausverkauf hat nichts mit Erfolg zu tun. Ausverkauf bedeutet sich zu verändern, um Erfolg zu haben. Ich habe keine Angst vor dem Erfolg oder lehne ihn ab, aber er ist nicht die Triebfeder hinter dem, was ich tue. Das war nicht so als ich 16 war und das ist heute mit 27 auch nicht so. Natürlich bin ich dankbar, dass ich mit Musik meine Miete bezahlen kann. Zumindest teilweise. Du darfst ja auch nicht vergessen, dass wir alle noch nebenher auf dem Bau oder in anderen Jobs arbeiten. Viele Leute wissen das ja gar nicht. Und ich glaube, die wollen das auch gar nicht hören, haha.

Inwiefern unterscheidet sich das Album, das jetzt veröffentlicht wird, vom dem, das auf Wind-up erscheinen sollte?

Fast alle Lieder wurden ja zu Wind-up-Zeiten geschrieben, insofern hat sich eigentlich kaum etwas verändert. Die einzige Änderung war, dass es keinen Produzenten gab, sondern unser Gitarrist die Platte aufgenommen hat. Als wir ins Studio gingen, gab es keine Plattenfirma und kein Management, die uns hätten reinreden können. Es gab keinerlei Verpflichtungen und keine andere Meinung als unsere eigene. Wirklich jeder Sound, jedes Geräusch, jedes Sample, alles ist genau so, wie wir uns das vorgestellt haben. Und ich glaube, das hört man. Wir haben mehr als jemals zuvor nur das gemacht, was wir wirklich wollten. Leichtverträglichkeit kann man dem Album auf jeden Fall nicht vorwerfen. Keine BOYSETSFIRE-Platte ging bisher so weit. Die eingängigsten Lieder, die wir jemals gemacht haben, stehen ganz nahe bei den härtesten, die man jemals von uns gehört hat. Und ein Abklatsch von irgendeinem unserer vorherigen Alben ist es auch nicht. Das war mir das Wichtigste. Es würde mir das Herz brechen, wenn jemand behaupten würde, dass „The Misery Index“ wie ein zweites „After The Eulogy“ klingt.

Welche Ziele hast du noch in deinem Leben? Musikalisch hast du ja alle deine Träume verwirklicht.

Ich möchte weiterhin einigermaßen geradlinig durch das Leben gehen. Ich möchte kreativ sein. Ich möchte mich nicht verkaufen müssen, um meinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Das muss aber nicht unbedingt etwas mit Musik zu tun haben. Ein veganes Restaurant könnte das genauso bedienen. Aber mein wichtigstes Ziel ist es, spirituell weiterzukommen, eine Balance zu finden in meinem Leben.

Glaubst du an das Schicksal? So wie du deine Lebensgeschichte schilderst, könnte man das annehmen.

Ich bin allgemein ein sehr gläubiger Mensch. Mit 16 war SHELTER meine Lieblingsband, ich habe immer noch mein 108-Tattoo. Ich habe mir da natürlich nur gewisse Teile rausgepickt. Richtige Krishnas hätten da bestimmt gesagt, dass ich überhaupt nichts verstanden habe. Ich glaube an Karma. Ich glaube, dass Dinge, die man in seinem Leben tut, auf einen zurückfallen. Ich glaube an Wiedergeburt, und ich glaube an Schicksal. Ich glaube, dass alle Menschen miteinander verbunden sind. Das sind spirituelle Dinge, an die in Asien jeder glaubt. Auch Musik ist für mich etwas Spirituelles. Ich fühle mich jeder Lehre nah, die akzeptiert, dass wir mehr sind als nur ein Körper, dass es eine Seele gibt, die nach unserem Tod weiter existiert. Aber von organisierter Religion halte ich mich fern. Ich bin kein Mitglied irgendeiner Kirche.

Was hältst du in diesem Zusammenhang von der christlichen Musikszene? Gerade in Amerika scheint die ja sehr groß zu sein. Eine Band wie UNDEROATH betet dort auf der Bühne, während Gott bei Konzerten in Deutschland mit keinem Ton erwähnt wird.

So etwas hinterlässt natürlich schon einen etwas faden Beigeschmack. Aber ich will mir da keine Meinung darüber erlauben, weil ich nicht viele dieser Bands kenne. Die christlichen Bands, die ich auf Tour getroffen habe, sind aber oft die Besoffensten von allen. Aber ich will niemandem etwas vorhalten. Jede Band kann machen, was sie will, solange niemand ausgeschlossen wird, weil er an etwas anderes glaubt. Wir haben alle unsere eigenen Wahrheiten. Auch wenn einer sagt, dass er nicht an Gott glaubt, ist das eine Suche nach Wahrheit. Spiritualität ist etwas ganz Persönliches. Das ist nur eine Facette meiner Person. Mit BOYSETSFIRE hat das ohnehin nichts zu tun.

Viele christliche Bands, die sich selbst in der Hardcore-Szene verorten, vertreten sehr konservative Ansichten. Inwieweit verraten sie damit die Wurzeln der Hardcore-Bewegung?

Alles, was mit konservativem Gedankengut zu tun hat, ist relativ weit von meiner Wahrheit entfernt. Am weitesten sogar. Wenn eine Band sagt, sie unterstützten George Bush, dann sind das für mich Arschlöcher. Aber ich finde schon, dass Spiritualität im Hardcore erlaubt sein sollte. Niemand würde doch anzweifeln, dass die BAD BRAINS eine der wichtigsten Hardcore-Bands sind. Und das war eine sehr spirituelle Band. Das waren Rastas. Wenn sich Spiritualität allerdings mit zynisch-konservativem Gedankengut mischt, dann muss ich das ablehnen.

Wenn du auf deine bisherige musikalische Karriere zurückblickst und eine Zwischenbilanz ziehst: Was war dein bisher größter Erfolg?

Sicherlich, dass die neue Platte überhaupt noch rauskommt. Das war so schwierig, dass ich echt gezweifelt habe, ob ich das durchhalte. Ich kann nicht in Worte fassen, wie stolz mich das macht, dass wir alle fünf noch dabei sind.

BOYSETSFIRE hätten also an der Auseinandersetzung mit Wind-up zerbrechen können?

Ich bin mir nicht sicher, ob BOYSETSFIRE zerbrochen wären. Aber ich weiß, dass ich nahe dran war, aufzugeben. Es gab eine Zeit, in der ich dachte, dass ich nicht stark genug bin. Und ich weiß, dass es anderen in der Band auch so ging. Ich habe nur aus einem Grund nicht hingeschmissen: Ich habe an uns geglaubt.