ARCHITECTS

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Ein neues Kapitel

Die letzten Jahre waren die wohl düstersten und zugleich erfolgreichsten für ARCHITECTS aus Brighton, England. Eine verwirrende Ambivalenz, die nun Zuversicht und Selbstvertrauen weicht. Das Ergebnis ist ein überraschendes Album: „For Those That Wish To Exist“ erscheint am 26. Februar. Wir sprechen mit Sänger Sam Carter per Videocall über den jüngsten Weg seiner Band, die Besonderheiten der neuen Platte und Nachhaltigkeit in der Musikbranche.

Was würde ich geben, jetzt in Deutschland zu sein und ein Konzert zu spielen!“, verkündet Sam gleich zu Beginn unseres Gesprächs. „Das Jahr ist einfach Müll“, fügt er sarkastisch lachend hinzu. „Aber ich bin überzeugt, die Stimmung auf den ersten Konzerten nach Corona wird gigantisch sein.“ Hoffentlich. Sam überlegt: „Oder alle sind wahnsinnig kritisch: Jetzt habe ich ein Jahr gewartet und dann das?“ Wir lachen. Auch ARCHITECTS hätte Corona fast einen Strich durch die Rechnung gemacht. Nachdem die Jungs auf Bali an ihrem Album geschrieben hatten, konnte Drummer Dan Searle gerade noch den letzten Flug nach England ergattern, um dort gemeinsam mit den anderen das Studio zu entern – wenngleich die Bandmitglieder aufgrund von Kontaktbeschränkungen einige Teile ganz alleine aufnehmen mussten.

Auf Schicksal folgt Neuanfang
„For Those That Wish To Exist“ heißt ihr neues und überraschendes Werk mit Einflüssen von Industrial und Nu-Metal über Trance-Vibes bis Pop. Wie eine im Mathcore verwurzelte Metalband dort ankommt? Ein Blick zurück: Mit ihrem sechsten Album „Lost Forever // Lost Together“ finden die Jungs aus Brighton ihre magische Formel, wie Sam es beschreibt. Technischer Metal, wuchtiger Core und große Detailverliebtheit. Inhaltlich wird es düster. Es folgt „All Our Gods Have Abandoned Us“ und Tom Searle, Gitarrist, Songwriter und Mastermind der Band, verarbeitet seinen Kampf gegen den Krebs, dem er 2016 letztendlich unterliegt. Die Antwort seiner Bandkollegen, „Holy Hell“, basiert auf vielen von Tom hinterlassenen Fragmenten. Ein furchteinflößendes und zugleich wichtiges Album, das Raum zum Trauern, Verarbeiten und Lernen gibt. „Was waren wir verunsichert, als wir ‚Holy Hell‘ schrieben“, erinnert sich Sam. „Dann reagierten die Leute derartig positiv und plötzlich spielten wir die größten Shows unserer Karriere.“

Nun also das erste Album ganz ohne Tom, dafür mit der großen Frage: Wie sollen ARCHITECTS zukünftig klingen? Eines stand fest: „Wir wollten unbedingt vermeiden, wie eine ARCHITECTS-Coverband zu klingen. Tom und sein Songwriting waren einzigartig, damit können und wollen wir nicht konkurrieren. Auch wollten wir den gemeinsamen Erfolg nicht für selbstverständlich nehmen und einfach genauso weitermachen.“ Ein nervenaufreibender Prozess, unheimlich, einschüchternd. Die besten Dinge geschehen aber ja bekanntlich außerhalb der eigenen Komfortzone und tatsächlich: „Kennst du dieses kribbelige Gefühl, wenn du das erste Mal etwas Neues probierst?“

Herausforderung macht kreativ
Wenn Metalbands ihren Sound ändern, ernten sie oft harsche Kritik bei ihren Fans. Beeinflusst das den Findungsprozess? „Ja, absolut“, bestätigt Sam. „ARCHITECTS sind auch die Band unserer Fans. Deshalb wollten wir unbedingt unseren Vibe beibehalten. Du kannst ja nicht plötzlich klingen wie die BEATLES! Man muss sich schon etwas zusammenreißen“, fügt er lachend hinzu. Das ist gelungen. „For Those That Wish To Exist“ besitzt trotz neuer Komponenten die altbekannte Handschrift – und ist ein herausragend kreatives Werk. Typisch ARCHITECTS. Jedes Bandmitglied entwickelt sich stets weiter. Auf der letzten Tour standen drei Keyboards auf der Bühne, bedient von Gitarrist Adam Christianson. Drummer Dan verantwortete die elektronischen Parts, Bassist Alex „Ali“ Dean entwickelte einen brutalen Subbass. Und Gitarrist Josh Middleton kam noch während der Tour mit großartig rockigen Riffs um die Ecke, die sich nun auf der neuen Platte wiederfinden. Die unterwegs gesammelte Erfahrung wurde ins Studio transportiert – und perfektioniert. „Mit unseren Live-Fähigkeiten im Hinterkopf konnten wir viel Selbstvertrauen gewinnen“, verrät Sam. „Als Musiker möchtest du gewisse Dinge ausprobiert haben und für manches fehlte uns vorher vielleicht der Mut. Dabei haben wir glatt selber vergessen, wie anders einige der Songs klingen“, gesteht er. „Als wir dann die fertigen Aufnahmen hörten, wurde uns ganz anders. Hoffentlich geht das gut, dachten wir.“ Es geht gut. Das Ergebnis dürfte ARCHITECTS vollends in den Rock-Olymp katapultieren.

Trotz des neugewonnenen Selbstvertrauens drängt sich ein Gedanke immer wieder auf: Wie hätte es Tom gemacht? Seine letzte Vision, ein ganz bestimmter Sound. „Er sprach von Bio-Industrial“, erinnert sich Sam. „Für uns klang das etwas kryptisch, aber als wir ‚Animals‘ schrieben, wurde es uns klar. Dieser elektronische, marschierende Sound, der zum einen von uns, aber vielleicht auch von RAMMSTEIN in einer riesigen Halle gespielt werden könnte.“ Stammten früher alle Songs aus Toms Feder, ist nun die gesamte Band involviert. Vor allem Dan erfindet sich hier neu und besticht bei Songwriting und Aufnahmen mit Feinsinn. Was würde sein Zwillingsbruder wohl zum neuen Sound seiner Band sagen? Sam weiß darauf nur eine Antwort: „Er wäre völlig verblüfft. Er könnte kaum glauben, was wir auf die Beine gestellt haben.“

Heraus sticht auch Sams Stimme, die neben den bekannten, einzigartigen Screams nun auch sachte Melodien und poppige Refrains einwandfrei meistert. Wie stellt man das an? „Ich interessiere mich für andere Genres, entdecke gerne neue Wege und probiere etwas aus. Plötzlich stehe ich da und denke: Mist, jetzt muss ich sieben verschiedene Vocal-Styles umsetzen. Und dann beginnt die Arbeit.“ Auch wenn alle Texte aus Dans Feder stammen, arbeitet Sam mit Freude jede noch so kleine Nuance und Harmonie heraus. „Ich fuchse mich gerne in die Details hinein. Hier noch ein Effekt, dort noch ein Layer? Oh, yes!“, freut sich Sam. Und seine Stimme ist ein dankbares Instrument: Die schiere Vielschichtigkeit sorgt dafür, dass die Raffinesse kein Produkt des Studios bleibt, sondern sich auch auf die Bühne transportieren lässt. „Diesmal könnte es anders werden“, warnt Sam grinsend. „Ein Glück machen Josh und Adam nun Backing-Vocals. Ich habe denen schon gesagt, sie müssen mir live aushelfen.“ Ein Konzert gaben ARCHITECTS bereits – exklusiv und live gestreamt aus der Royal Albert Hall in London. Ohne Publikum, dafür mit tausenden Zuschauern weltweit vor den Bildschirmen. Das Feedback? Überwältigend positiv. „Es fühlte sich an, als hätten wir eine ganze Release-Tour in eine einzige Show komprimiert.“

Freunde im Netz und auf Platte
Im Begeisterungssturm um die neuen Songs finden sich auch viele Genrefremde. Wie überzeugt eine Metalband HipHop-Heads und Country-Fans? „Vielleicht hören sie heraus, dass wir selbst von vielen verschiedenen Musikstilen beeinflusst werden“, mutmaßt Sam. Oder sie schätzen schlichtweg gutes Songwriting. Insbesondere Reaction-Videos haben in Zeiten ohne Konzerte für Sam eine besondere Bedeutung: „Sie sind aktuell der einzige Weg für uns mitzuerleben, wie die Leute auf unsere neuen Songs reagieren. Das erwärmt unsere Herzen in diesen verrückten Zeiten.“

Schwärmerei auch unter Musikerkollegen: Gleich drei Features präsentiert „For Those That Wish To Exist“. Wenig überraschend erscheint Winston McCall von PARKWAY DRIVE. Die Bands sind eng befreundet und gerade auf Toms letzter Tour unterstützten die Australier ARCHITECTS und ihren erkrankten Gitarristen enorm. Dieses Feature soll nun ein bleibendes Zeichen für ihre Freundschaft setzen. Schon ungewöhnlicher lesen sich die Namen Simon Neil, BIFFY CLYRO, und Mike Kerr, ROYAL BLOOD. Auch hier liegen Freundschaften zugrunde, der Blick über die Genregrenzen ist also nur ein logischer Anlass, gemeinsame Sache zu machen. „Ich denke, Freundschaft sollte eine Voraussetzung für ein Feature sein. Zwar habe ich mal mit GOOD CHARLOTTE einen Song aufgenommen, das war ein Kindheitstraum von mir, aber für Geld würde ich das nicht machen. Aktuell bekomme ich viele Anfragen, was mir extrem schmeichelt, lehne aber fast alle ab. Ich will schließlich nicht, dass ich irgendwann auf jedem Album auftauche und kurz ‚Hallo‘ sage. Nur wenn Bob Dylan anrufen würde, wäre ich sofort am Start“, lacht Sam.

Tu, was du kannst, aber tu was
Nach zwei sehr persönlichen Alben kehren ARCHITECTS mit „For Those That Wish To Exist“ zu ihren Wurzeln zurück und zu sozialkritischen Themen rund um Gesellschaft, Politik und Umweltschutz. Wut über Ignoranz, Unverständnis, Egoismus. Was nervt aktuell am meisten? „Ich habe das Gefühl, derzeit ist jeder mit jedem im Krieg, beharrt auf seinen Standpunkt, sieht sich im Recht. Es findet kaum noch ein Diskurs statt“, erläutert Sam. „Unheimlich, vor allem inmitten einer Pandemie. Da muss man sich einfach mal zusammenraufen und gemeinsam überlegen, was die beste Vorgehensweise ist. Das Gleiche gilt für den Klimawandel. Es gibt zwei Lager und die Leugner ziehen gar nicht in Erwägung, sich mit der wissenschaftlichen Seite zu befassen. Wie kann das sein? Ich lebe in England und spüre, dass sich das Klima verändert.“ Generell beunruhigt Sam der Mangel an Empathie und Freundlichkeit, dass Menschen sich noch immer angegriffen fühlen, wenn man „Black Lives Matter“ sagt, und voller Streitlust reagieren, wenn es mal nicht um sie geht. „Wir leben in einer gruseligen Welt.“

Auch an ihre Fans haben ARCHITECTS Erwartungen. In erster Linie, nett zueinander zu sein. Das gelingt ganz gut: „Ich empfinde unsere Shows als herzlich und sicher, Konzerte, zu denen du alleine kommst und mit einem Freund gehst. Darauf bin ich stolz.“ Das liegt sicherlich auch an der Band selbst, die mit gutem Beispiel vorangeht. „Das ist eigentlich ganz einfach. Es gibt schließlich genügend Arschloch-Rockbands da draußen“, meint Sam, der schon mal ein Konzert unterbrochen hat, um einen Mann aus dem Publikum wutentbrannt zurechtzuweisen, weil der einer Frau beim Crowdsurfen an die Brust fasste. Auch in Sachen Nachhaltigkeit handelt die Band. Plastikflaschen wurden vollständig vom Tour-Setup eliminiert, stattdessen gibt es Wasserfilter und wiederverwendbare Flaschen für die gesamte Crew. Wenn Flugreisen unumgänglich sind, setzen sie auf CO2-ausgleichende Tickets, für die beispielsweise Bäume gepflanzt werden. Das gesamte ARCHITECTS-Sortiment bei ihrem größten Merchandise-Anbieter Impericon wird aktuell auf Bio-Baumwolle umgestellt und nebenbei entstand eine streng limitierte fair produzierte Kollektion. „Wir wollen sicherstellen, nur genau so viel zu produzieren, wie wir tatsächlich verkaufen.“ Ganz wichtig ist Sam aber vor allem, dass niemand verurteilt wird, der noch nicht so weit ist. „Jeder noch so kleine Schritt zählt. Mir ist schon bewusst, dass wir in einer glücklichen Position sind. Früher hätten wir uns zwischen teureren Flugtickets und Abendessen entscheiden müssen. Heute verfügen wir über die Mittel, gewisse Investitionen zu tätigen und besagten Wasserfilter oder auch unsere Fahrräder mit auf Tour nehmen zu können, um vor Ort dann unmotorisiert unterwegs zu sein.“

All das spiegelt sich auf „For Those That Wish To Exist“. „Es kommt stark darauf an, in welcher Stimmung du bist, ob du unser Album als positiv oder negativ wahrnimmst“, sagt Sam. „Mal ist man voller Tatendrang, mal fühlt man sich erschöpft und verwirrt, was die Probleme unserer Welt und unseren eigenen Einfluss darauf angeht. Das ist okay. Nimm dir Zeit für dich und lade deine Batterien auf, um wieder durchstarten zu können. Wir alle haben die Kraft, Dinge zu verändern, aber wir müssen dabei auch auf uns selbst achtgeben, um nicht auszubrennen.“

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Quarantäne-Top-3-Alben
Sams Top-3-Alben für die Quarantäne:
TOUCHÉ AMORÉ – „Lament“
Phoebe Bridgers – „Punisher“
LOATHE – „I Let It In And It Took Everything“