ARCHITECTS aus Brighton übertrafen sich mit jedem ihrer Alben selbst, spielten sich mit Einzigartigkeit und musikalischer Perfektion bis an die Spitze der Metalcore-Liga. Dann der große Schicksalsschlag: Tom Searle, Gitarrist und Mastermind der Band, verliert am 20. August 2016 seinen langen Kampf gegen den Krebs. Für die anderen Bandmitglieder brechen schwierige und hochemotionale Jahre an. In dieser Zeit entsteht „Holy Hell“, das achte ARCHITECTS-Album. Dan Searle, Drummer und Toms Zwillingsbruder, erzählt uns davon in einem bewegenden Gespräch.
Plötzlich ist nichts mehr, wie es einmal war. Eine geliebte Person zu verlieren, zählt zu den wohl schlimmsten Ereignissen unseres Lebens. Genau davon handelt „Holy Hell“, ein ganz besonderes Album für ARCHITECTS. Drummer Dan ist froh, dass es nun das Licht der Welt erblickt: „Es war eine anstrengende Zeit, die Arbeit an dieser Platte erwies sich als äußerst fordernd. Wir mussten uns nicht nur persönlich, sondern auch beruflich mit dem Tod auseinandersetzen. Er ließ uns einfach nie los.“ Schon Ende 2016 begannen sie, neue Songs zu schreiben. Bis dahin stammte ein Großteil der Musik aus Toms Feder. Zu der abgrundtiefen Trauer gesellte sich also ein großes Umdenken, was die strukturelle Arbeit der Band betraf. Josh Middleton, früherer Tour-Gitarrist, nun vollwertiges Bandmitglied, und Dan nahmen beim Songwriting das Heft in die Hand: „Wir haben ständig hin und her überlegt, ein riesiger Druck, und immer im Hinterkopf: Es muss ein Album werden, das Tom glücklich gemacht hätte. Dieser Anspruch wog sehr schwer auf meinen Schultern.“ Dans Stimme wirkt, als würde das Gewicht noch immer auf ihm lasten. „Nachts wachte ich auf, hatte eine Melodie oder eine Textzeile im Kopf und fragte mich pausenlos: Sind wir auf dem richtigen Weg? Das trieb mich an den Rand des Wahnsinns. Zum Glück ist das nun abgeschlossen.“
Im Kreis der Hölle
Anders als von ARCHITECTS gewohnt, sucht man politische Inhalte auf „Holy Hell“ vergebens. „Dieses Album drückt meine innersten Gefühle aus: Trauer, Verzweiflung, Wut, Verwirrung. Dennoch war es stets unser Bestreben, nicht den Tod in den Vordergrund zu stellen, sondern den Umgang mit ihm. In so einer Situation ist es wichtig, zu lernen, mit dem Schicksal zurechtzukommen, ohne dass es einen zerstört.“ Dan dachte viel nach, über die Vergänglichkeit, die Gegenwart und die Welt: „Mir ist sehr stark bewusst geworden, dass wir alle irgendwann sterben werden. Der Tod ist unumgänglich. Umso wichtiger ist es doch, aus unserem Leben hier auf Erden das Beste herauszuholen. Viele Leute verstehen das nicht, sie denken, wir hätten ewig Zeit. Ich habe gelernt, die kleinen Dinge mehr zu schätzen. Raus in die Natur gehen, frische Luft spüren, schöne Momente mit Freunden und Familie verbringen. Irrwitziger Weise gaben mir genau diese Dinge letztendlich die nötige Kraft, um mit der Trauer umzugehen. Ich kann nicht abstreiten, dass man auch mal Richtung Alkohol und Drogen schielt, aber die kleinen, schönen Augenblicke des Lebens bringen so viel mehr.“
Es gibt sie, die Songs mit den rohen Emotionen über den Verlust und die höllischen Schmerzen, die er verursacht. Das Zuhören tut fast weh, doch permanent schwingt ein Hoffnungsschimmer mit. „Die Arbeit an ‚Holy Hell‘ hat mir zu hundert Prozent geholfen, mit diesem Verlust umzugehen. Es war ein immens wichtiger Prozess, aber auch eine absurd-bizarre Situation: Ich schreibe dieses Album, das sich nicht nur um den Tod meines Bruders, sondern zugleich des Gitarristen meiner Band und maßgeblichen Kopf hinter unseren vergangenen Alben dreht. Ich habe die Band 2004 mit Tom gegründet. Er fehlt so sehr ...“
Eine komplexe und ungewöhnliche Situation – die den Fans bewusst ist. „Die Leute, die wissen, dass mein Bruder starb, werden die sein, die dieses Album hören“, erklärt Dan. „Das ist herausfordernd, weil man alles offenlegen muss. Ich kann nicht einfach ein Album schreiben, mit dem ich meine Trauer bewältige. Jeder wird genau hinhören und es verstehen wollen. Und dann ist da noch die Verantwortung meiner Band gegenüber, die auch wahnsinnig trauert.“ Eröffnet diese Komplexität andere Dimensionen von Emotionen? „Absolut! Man kann keine ehrlicheren Songs schreiben. Sie beinhalten so viel Gefühl und Kraft. Auf ‚Holy Hell‘ verbergen sich einige Passagen, bei denen die Menschen sehr genau verstehen werden, woher diese Emotionen stammen.“
Das jüngste Gericht
Wie fühlt es sich an, bald mit diesen persönlichen Songs auf den Bühnen der Welt zu stehen, in gleißendes Scheinwerferlicht getaucht, vor sich tausende erwartungsvolle Fans? „Ich freue mich darauf, bald dort rauszugehen“, versichert Dan. „Diese Songs tragen etwas Positives in sich. Ich hoffe sehr, dort draußen auf Menschen zu treffen, denen es geht wie uns, die sich mit ‚Holy Hell‘ identifizieren, die mitfühlen, uns verstehen.“
„Holy Hell“ klingt wie ein typisches ARCHITECTS-Album, wenn man so etwas sagen kann. Zwar zeigen die Jungs aus Brighton seit Bandgründung eine kontinuierliche Weiterentwicklung ihres Sounds, doch seit „Lost Forever // Lost Together“ zeichnete sich eine unverwechselbare Linie ab, der auch ihr letztes Werk, „All Our Gods Have Abandoned Us“, folgte. In diese Kerbe schlägt nun ebenfalls die neueste Platte.
Hat man nie überlegt, nach einem so harten Schicksalsschlag einen völlig neuen Weg zu wählen? Oder sollte die Platte Toms Ideen vollenden, ihm auf diese Weise Tribut zollen? Dan wird nachdenklich: „Eine sehr interessante Frage. Es gab diesen innerlichen Drang, einen anderen Weg zu gehen, die Identität zu ändern, als eine Art Flucht, um uns nicht mit der Vergangenheit und allem, was damit verknüpft ist, intensiver auseinandersetzen zu müssen. Aber es fühlte sich nicht richtig an.“ Dan hatte eine Vorstellung davon, wohin Tom die Band gerne gelenkt hätte. Noch kurz vor seinem Tod haben die beiden Brüder Gespräche über das nun veröffentlichte Album geführt.
Der Tod ist keine Niederlage
Die dominierende Emotion des ARCHITECTS-Sounds ist Wut, aber „Holy Hell“ erweitert ihn um einen neuen Aspekt. „Wir waren zwar wütend, aber in erster Linie niedergeschlagen. Und manchmal sagt der Sound doch mehr als tausend Worte. Also haben wir hier und da untypische Elemente, etwa Synthesizer, integriert. ‚Death is not defeat‘ zum Beispiel klingt deutlich hoffnungsvoller. Dieser Song ist eine Nachricht an meinen Bruder, die besagt, dass es okay war, dass er gestorben ist. Wir hätten zwar noch viele wunderbare Dinge gemeinsam erlebt, aber im Angesicht seiner Krankheit und der ihm verbleibenden Zeit, haben wir alles gegeben. Die Hauptsache ist doch, dass es ihm jetzt besser geht. Wir akzeptieren das, denn irgendwann werden auch wir sterben und ich hoffe, ihn dann irgendwo wiederzusehen. Das ist eine sehr kraftvolle, ermutigende Message, meiner Meinung nach der richtige Weg, dieses Album zu eröffnen. Es ist wichtig, diesen Punkt herauszustellen, denn mein Bruder hätte nicht gewollt, dass wir in Trauer versinken. Eines Tages, wenn wir diese Erde verlassen müssen, wird alles gut sein. Ich spreche nicht über Himmel oder Hölle. Niemand weiß, was nach dem Leben kommt – vielleicht auch einfach nichts. Das ist auch okay. Es wird uns nicht schlecht gehen.“
Der gesamte Prozess rund um die neue Platte war intensiv, doch gab es besonders erinnerungswürdige Momente? „Ja, davon gab es eine Menge“, bestätigt Dan. „Manchmal passiert das ganz plötzlich, da schreibt man ein Riff oder eine Textzeile und dann trifft es einen, nimmt einen gefangen – so etwa war es mit dem Anfang von ‚Death is not defeat‘. Ich habe mir den Kopf darüber zerbrochen, wie das Album beginnen könnte. Mir kam die Idee, als ich im Flugzeug saß: Man könnte den Geigenpart von ‚Memento mori‘ verwenden und neu arrangieren, um eine Verbindung zum letzten Album zu schaffen. Das war der letzte Song auf ‚All Our Gods Have Abandoned Us‘. Tom setzt sich darin mit seiner Sterblichkeit auseinander. Mit einem Motiv aus dieser endgültigen Szene ein komplett neues Album zu beginnen, unterstreicht genau unsere Message: Es geht weiter, zumindest ist es nicht hoffnungslos. Diese Verbindung war für mich einer der intensivsten Momente des Albums. Ich musste mich mit dem persönlichsten und traurigsten Lied auseinandersetzen, das mein Bruder je geschrieben hatte, und konnte es auf positive Weise weiterführen. Der gesamte Song ist wahrscheinlich mein liebster auf diesem Album.“ Wieso wurde er dann nicht als erste Single-Auskopplung gewählt, insbesondere wenn er die Fortsetzung zum Vorgängeralbum darstellt? „Wir hatten das tatsächlich überlegt, aber dann überkam uns die Angst, diesen wichtigen Song zu ruinieren, indem ihn die Leute tausende Male hören, bis endlich das Album erscheint. Er soll etwas Besonderes bleiben.“
Hymne? Vergebens
Dennoch bleibt der bedeutendste Moment für Dan ein anderer: „Er steckt im letzten Song der Platte, ‚A wasted hymn‘, wenn die Band das Spiel stoppt und nochmals das Motiv von ‚Memento mori‘ erklingt. Dieses Gitarrenspiel stammt noch von Tom. „Es ist ziemlich schlecht aufgenommen und ganz schluderig gespielt, aber es ist eben Tom“, erinnert sich Dan. „Ursprünglich hatte ich noch Gesang darübergelegt, aber ich entschied mich dagegen. Schließlich sollte mein Bruder seinen Raum bekommen, ein letztes Mal. Ein unheimlich bewegender Part, der mir immer wieder Gänsehaut beschert. Es ist Tom, der da spielt, auf unserem neuen Album, dabei ist er doch gestorben.“
Auf die erste Single „Hereafter“ erhielten sie ausschließlich positive Reaktionen. Fühlt man sich da erleichtert? „Ja, es ist sehr befreiend: Während des Entstehungsprozesses, nach millionenfachem Hören der Songs, hatte ich meine Objektivität komplett verloren. Ich konnte mir nicht mehr vorstellen, wie sie für andere klingen würden. Zum Glück mögen es die Menschen.“
Heilig statt höllisch
Nicht nur dass ihre Videos , wie etwa „Doomsday“, bei YouTube bis zu 18 Millionen Aufrufe erzielen, ARCHITECTS sorgen auch für ausverkaufte Konzertsäle, wie den legendären Alexandra Palace in London, und gewinnen Awards, zuletzt kürte das Magazin Kerrang! sie zum „Best British Live Act“. Wundern sie sich manchmal, wie eine Band aus diesem harten Genre solche Erfolge feiern kann? Dan nickt: „Ja, es ist absurd. Zu Hause habe ich meine Frau und eine kleine Tochter, gehe einkaufen, koche leckeres Essen. Es ist wie ein zweites Leben, sobald man in den Tourbus steigt und ein paar Stunden später auf einer riesigen Bühne steht, mit zahllosen Scheinwerfern und Pyrotechnik. Im Publikum warten tausende Menschen, die alle gekommen sind, um deine Musik zu hören. Merkwürdig, aber schön. Es übertrifft alles, was wir uns jemals erträumt haben. Fast peinlich, dass ich überhaupt nicht begreifen kann, wie groß meine Band geworden ist. Ich bin sehr dankbar, das Privileg zu haben, so ein Leben führen zu dürfen. Das macht mich sehr glücklich.“
Und wie sieht die Zukunft aus? Es wird wie immer sein: Touren durch Europa, Australien, die USA und danach geht das Songwriting in die nächste Runde. „Weißt du“, beginnt Dan, „es gab eine Zeit, da haben wir oft versagt, niemand kam zu unseren Shows, wir hatten kein Geld. Aber wir haben weiter unsere Songs geschrieben, sind getourt und haben fest daran geglaubt, dass irgendwann der Durchbruch gelingt. Es gibt nicht viele Bands, die dranbleiben und versuchen, immer ein Stückchen besser zu werden. Das geben wir jetzt nicht einfach wieder her. Unsere Geschichte heißt: Niemals aufgeben! Und genau das werden wir tun, wir machen weiter.“
Kurz bevor wir uns verabschieden, findet Dan weitere tröstende Worte: „Wir erfahren alle Schmerz und Qualen in unserem Leben, aber schwierige Zeiten sind eine große Chance. Wir können daran wachsen, stärker werden. Nur so können wir ein erfülltes Leben führen und glückliche Momente erleben. Aber wir müssen von ganzem Herzen daran glauben.“
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