Betrifft: Bob Stinson, Cheetah Chrome, Moe Tucker sowie wilde Geschichten voller Zerstörung, Ausschweifungen, gebrochener Herzen, gebrochener Nasen, Gefängnis, psychiatrischer Stationen, Leidenschaft und Liebe.
Also, wo waren wir? Es muss so um 1979 in NYC sein. Deine Band, die TESTORS, löst sich auf und du ziehst nach Minnesota. Warum habt ihr euch aufgelöst und warum ausgerechnet Minnesota?
Uns war es wichtig, unserer Musik treu zu bleiben, ohne irgendwelche Kompromisse einzugehen. Letztendlich haben wir uns getrennt, weil es so gut wie unmöglich wurde, die Sache am Laufen zu halten ohne ernsthafte Unterstützung. Wie gesagt, es lag hauptsächlich an der Tatsache, dass wir uns unter keinen Umständen auf Kompromisse einlassen wollten. Wir hatten zwar Angebote, allerdings waren die immer gleich mit der Bitte verbunden, unsere Musik doch ein bisschen zugänglicher zu machen. „Spielt langsamer, seid ein wenig kommerzieller.“ Ständig sollten wir langsamer werden und netter. Manchmal antworteten wir „Ja, danke, aber nein danke“, normalerweise sagten wir einfach, sie sollen sich verpissen. Einige Dinge entwickelten sich in gewisser Hinsicht gut für uns. Wir hatten Fans und es gab Menschen, die die Musik, der wir uns verschrieben hatten, für etwas Besonderes hielten. Unsere Shows gaben uns wirklich viel, allerdings kamen hinsichtlich ausbleibender Fortschritte, was Geld und Entwicklung betrifft, Fragen auf. Einige Jungs fingen an, sich mit diesen typischen Karrieresorgen rumzuplagen, die viele Leute in diesem Alter quälen.
Jeder kennt das, nicht nur Musiker ...
Manchmal kann man sich als Bandmitglied schon fragen, ob „Keine-Kompromisse“ wirklich der richtige Weg ist für einen. Man fängt an, über ein Studium oder so was wie die „Zukunft“ nachzudenken. Vielleicht auch über einen richtigen Job. Das kommt vor. Und wer kann es ihnen schon verübeln? Es ist anstrengend, sich jahrelang abzustrampeln und zu bemühen, verdammt hart. Da fängt man schon mal an, den eingeschlagenen Weg in Frage zu stellen und denkt über eine Zukunft mit Familie und Sicherheiten nach. Für mich war es eine einfachere Entscheidung, denn ich hatte klare Vorstellungen und ich war der Songwriter. Außerdem kommt manchmal der Romantiker in mir zum Vorschein und daher dachte ich, es sei richtig, den „Keine Kompromisse“-Pfad weiterzuverfolgen, auch wenn es für uns nicht mal möglich war, im Radio gespielt zu werden oder so was. Dazu kam die Tatsache, dass die Szene in NYC verweichlichte, denn einige der Bands versuchten den Plattenlabels durch einen kommerzielleren Sound in den Arsch zu kriechen. Außerdem schien es so, als wäre es den Leuten aus der Szene wichtiger, auf welche Partys sie eingeladen waren. Die Dinge veränderten sich: Drogen und Partys verdrängten diese besondere Hingabe an Musik und stetige Weiterentwicklung, die vorher wichtig war. Mich dagegen beschäftigte noch immer das Gefühl, die Welt verändern zu wollen oder sie zumindest ins Wanken zu bringen. Die Partyszene langweilte mich, zugedröhnt irgendwo abzuhängen brachte mir einfach nichts. Manchmal habe ich auch Bock gehabt, mich abzuschießen, aber die Musik war mir immer das Wichtigste. Zudem interessierte mich die Zukunft nicht wirklich. Ich dachte immer, dass dich eh jeden Moment ein Auto in deine Einzelteile zerlegen kann und dann wäre ohnehin alles vorbei. Als mir klar wurde, dass die TESTORS deutlich an Entschlossenheit verloren, entschied ich mich, die Band aufzulösen, solange sie noch lebendig war und eine Bedeutung hatte, statt sie sich totlaufen und etwas völlig anderes werden zu lassen.
War es dann ein Kulturschock für dich, als du aus der Metropole NYC ins provinzielle Minnesota gezogen bist?
Oh ja, aus New York City zu kommen und dann in Minneapolis, Minnesota zu leben, das war schon sehr bizarr für mich. Vielleicht ist ein Wort wie „bizarr“ etwas übertrieben, wenn man bloß über einen Ortswechsel spricht, passender wäre eigentlich: es war verdammt bizarr!
Was waren deine ersten Eindrücke?
Farmer-Nachrichten im Fernsehen, Leute, die auf den Highways sehr langsam fuhren, selbst ihre Art zu reden war langsam. Einfach ganz anders als NYC. „Slums“ oder „Ghettos“ in Minnesota sahen für mich aus wie nette viktorianische Holzhäuser, die nur einfach mal einen neuen Anstrich bräuchten. Das komplette Gegenteil der heruntergekommenen Gebäude auf der Lower East Side von Manhattan in den späten Siebzigern, wo ich herkam. Und da war ich plötzlich, inmitten dieser unbeschwerten Lebensart im Mittleren Westen – mit einem Springmesser in meiner Tasche!
Wie war dein erster Tag dort?
An meinem ersten Tag ging ich in ein Einkaufszentrum, dann lief ich in der Nähe des Stadtparks durch die Gegend – und die Leute zeigten mit dem Finger auf mich. Sie starrten mich an und kratzen sich am Kopf. Heute kann man sich das kaum mehr vorstellen, aber für die war ich ein Außerirdischer oder so was. Es war echt merkwürdig. Ich musste irgendjemandem von zu Hause davon erzählen, also ging ich zur nächsten Telefonzelle und rief Johnny Thunders an. Das Gespräch lief in etwa so: „Pass auf, Johnny, das ist völlig schräg hier. Ich bin heute mit meiner schwarzen Hose und den Beatle-Boots durch ein Einkaufszentrum gelaufen und die Leute riefen ,DEVO, DEVO!‘, während sie mit ihren Fingern auf mich zeigten. Was zur Hölle soll das?“ Johnny: „Ahhhh, Sonny, so was wie dich haben die noch nie zu Gesicht bekommen, und die einzige Band, deren Platten sogar dort vertrieben werden, ist DEVO, folglich ist alles, was sie nicht kennen, ,DEVO‘ für sie, haha.“ Ich: „Ja, aber DEVO tragen Müllsäcke, Astronautenanzüge und Blumentöpfe auf ihren Köpfen, so sehe ich doch nicht aus!“ Johnny: „Für sie schon! Haha!“
Wie lange hat es gedauert, bis du andere Bands in Minneapolis getroffen hast?
Na ja, ich war dabei mich niederzulassen, mir ein Haus zu kaufen und es dauerte eine Weile, bevor ich mich rauswagte. Nach einem Monat oder zwei fing ich dann doch an, alles abzuchecken, und die erste Band, die ich sah, waren HÜSKER DÜ. Ich war wirklich begeistert, also bin zu ihnen hin und habe ihnen gesagt, sie hätten die Energie und den Enthusiasmus, wie ich das vor zwei Jahren in NYC gekannt hatte und wie ich das jetzt vermisse! Sie verstanden es als Kompliment und wir wurden Freunde.
Wie sah die Freundschaft aus?
Ich zog irgendwann in ein Haus, das nur aus Künstler-Lofts bestand, und Bob Mould wohnte nebenan. Ein echt netter Typ, der mir ab und an sein Equipment geliehen hat. Später war dann Greg Norton kurz in meiner Band und wir waren zusammen auf Tour in Kanada.
Wie ist Greg Norton so?
Privat geradlinig und anständig, ein positiver, ausgeglichener Typ. Auf der Bühne ein wildes Tier!
Was für Musik habt ihr damals gemacht?
Als ich in Minnesota ankam, stellte ich eine Band zusammen, die hieß SONNY VINCENT AND THE EXTREME und bestand aus Mike Phillips, Mort Baumann und Jeff Rogers. Ich schrieb ein komplett neues Set und wir spielten auch ein paar ausgewählte TESTORS-Songs. Der Zusammenhalt war mir wichtig, und dass wir die gleichen Ziele verfolgen. Es war mit das Beste, was ich je gemacht habe, leider haben wir nicht viel aufgenommen. Trotzdem waren wir viel auf Tour.
Was ist schließlich aus der Band geworden?
Wir haben uns dann getrennt. Aus keinem bestimmten Grund, außer dass uns die fehlende Entwicklung im Musikgeschäft frustriert hat. Das Radio war schon damals so beschissen wie heute, nur mit dem Unterschied, dass es so mies war, dass es fast wieder witzig war. Unsere Shows waren gut besucht, aber die Plattenlabels nahmen einfach jeden Müll unter Vertrag, Zeug, das einfach unfassbar schlecht war. Es waren die Achtziger. Das Aufkommen der D.I.Y.-Hardcore-Szene gehört zu den wenigen erträglichen Dingen dieser Zeit, aber von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, waren wir umgeben von enttäuschender Musik und hässlichen Klamotten. Wenn ich in den Achtzigern das Radio einschaltete, brachte mich das an den Rand des Selbstmords. Und vergiss nicht, dass sich überall in Minnesota ein Haarschnitt namens Vokuhila breit machte. Ich bin mir sicher, der Teufel hat sich deswegen ins Fäustchen gelacht. Ernsthaft, es war einfach ein ganz anderer Planet für mich, verglichen mit den Straßen New Yorks, aus denen ich kam. Aber ich gab mein Bestes. Dort ging ich auch sehr oft zur Therapie. Ich werde wohl nie erfahren, ob ich das machte, weil meine eigenen seelischen Probleme jetzt plötzlich hervorbrachen oder ob das Leben in Minnesota diese erst richtig verstärkt hat.
Wo überall habt ihr damals gespielt?
Wir fuhren von Minnesota nach New York und spielten überall dazwischen – Madison, Chicago, Detroit, Cleveland ... Meistens unterwegs in einem armseligen, runtergekommenen Van. Einmal waren wir in einem Ford Econoline Van unterwegs und haben auf der George-Washington-Brücke, die New Jersey mit New York verbindet, ein Vorderrad verloren. Wir näherten uns gerade New York und das Rad löste sich, als wir die Mitte der Brücke erreicht hatten. Die Jungs taten mir leid. Das war ein nicht ganz so erregender erster Blick auf New York für sie! Es ist schon hart, da hörst du in deinem Kopf schon die Melodie von „New York, New York“ und bist auf dieser riesigen Brücke mit einem Van zugange, dem ein Rad fehlt. Aber nachdem das Problem gelöst war, haben sie sich bestens amüsiert. Ich muss betonen, dass jede Kleinigkeit in New York für sie riesig aufregend war. Sie haben beispielsweise zum ersten Mal eine richtige Pizza gegessen. In Minnesota bekam man damals so ein komisches Gebilde, das aussah wie ein großer Keks, überzogen mit Sauce und Käse, und das wurde „Pizza“ genannt. Aber eigentlich war es nur die dortige Vorstellung von Pizza. Und das war nur der Anfang. Es hat mir jedenfalls einen Heidenspaß gemacht, ihnen mein New York zu zeigen.
Habt ihr damals Drogen genommen?
Ja und nein. Wir waren zwar nicht irgend so eine zugedrogte Band, haben uns aber schon ab und zu abgeschossen. Wenn ich mich richtig erinnere, haben wir alle Whiskey getrunken, manchmal Koks geschnieft und einmal in Ohio nahmen wir alle eine Riesenladung pharmazeutisches THC, was ziemlich witzig war. Mort machte einen Kopfstand in der Ecke des Wohnzimmers des Hauses, in dem wir übernachteten, und dabei krähte er ohne Unterlass irgendwelchen Sportquatsch oder Spielergebnisse. Wir gehörten definitiv nicht zu diesen veganen Straight-Edge-Bands, aber wir machten auch nicht irgendwelche unappetitlichen Sachen, um an Heroin zu kommen. Obwohl wir also unzählige Stunden damit verbrachten, zu üben, proben und an unserer Musik zu arbeiten, bis nichts mehr ging, bestanden unsere Touren aus Sound, Frauen und eben manchmal auch, uns abzuschießen und volllaufen zu lassen. Das hab ich nie geleugnet und Leute, denen das nicht passt, ignoriere ich grundsätzlich.
Worin bestand der Unterschied zwischen dieser Band und den TESTORS?
Es gab ein paar Unterschiede, was den Stil betrifft, aber am meisten mochte ich an den Jungs in Minnesota, dass sie dasselbe Feuer hatten wie die TESTORS am Anfang. Als ich sie das erste Mal traf, waren sie alle drauf und dran, die Welt in Brand zu stecken. Ganz anders als einige der Bands heute, aber auch damals schon, denen es vor allem um eins geht: „Wir sind die Besten“ oder „Wir arbeiten hart und werden es mit unserer Musik schaffen und werden berühmte, reiche Rockstars.“ Nein, so ein Motiv hatten sie nicht. Sie wollten die Welt verändern und hatten auch die nötige Energie dazu. Und genau das war es, was meiner Meinung nach die Szene in New York City später verloren und vergessen hatte. Daher war die Begegnung mit den Minnesota-Boys für mich so was wie ein Neuanfang.
Und wie sah damals dein Privatleben aus?
Meine Freundin aus Minnesota wohnte bei mir in New York. Nachdem die TESTORS sich aufgelöst hatten, überredete sie mich, Minnesota den Rücken zu kehren. Wir wohnten dann in einer Kommune, was mir jedoch einfach zu entspannt war. Ich denke, ich brauchte einfach den Großstadtstress. Später dann, nach SONNY VINCENT AND THE EXTREME, war ich mit einer Kunstprofessorin in St. Paul verheiratet. Sie war auch eine etablierte Künstlerin, sehr talentiert. Alles hatte mit großer Leidenschaft begonnen, aber schlussendlich verlangte sie, dass ich die Musik aufgebe. Diese Sache nahm also ein ziemlich trauriges Ende.
Was kam nach SONNY VINCENT AND THE EXTREME?
Ich war damit beschäftigt, meine eigenen Filme zu drehen, Musik für Independent-Filme zu schreiben, machte Kunst. Das war alles zu der Zeit, als die Kunstprofessorin, mit der ich verheiratet war, versuchte, mich gewissermaßen zu domestizieren. Sie nahm mir mein Klappmesser ab und gab ihr Bestes, mich in ganz normale Aktivitäten einzubinden, wie Picknicks, Bötchen fahren oder gesellige Ausflüge. Das klappte nicht so besonders gut. Ich denke, zu jener Zeit war ich einfach chronisch „asozial“. Nicht als rebellische „Punk“-Attitüde, sondern im wörtlichen Sinne. Ich habe nie irgendwas von dem gemacht, was „normale“ Leute so machten. Also versuchte sie, mich zum Rollschuhlaufen, zum Reiten oder Kanufahren zu animieren ... aber wirklich, ich mag das nicht. Ich kam mir vor wie die Versuchsperson in „Clockwork Orange“. Immerhin, ich hab’s versucht. Und sie hat’s versucht. In der Zeit hatte ich mich für einige Künstlerstipendien beworben, die auch bewilligt wurden, und ich hatte ein paar große Installationen konzipiert. Dabei handelte es sich um transformative, umgebungsbedingte, räumliche Manipulationen, mit Filmprojektionen, Endlosbändern, Diaprojektoren, rotierenden Filmprojektoren, Bildkontrastverstärkern, Skulpturen sowie Bewegungsmeldern, die auslösten, dass Sachen sich an- und abschalteten, während die Leute sich durch die Installation hindurch begaben. Einige Elemente waren an Zeitschaltuhren angeschlossen. Ich war mit Leidenschaft bei der Arbeit und ich war für eine Weile ziemlich glücklich damit. Aber es war nun mal nicht Musik. Da fehlte die Unmittelbarkeit und Echtzeiterfahrung, die ich brauchte. Ich glaube, was ich vermisste, war der „Abgrund“. Der Abgrund des Chaos’, das Spannungsfeld zwischen Verzweiflung und Hoffnung, das mir der Rock’n’Roll gab.
Also ging das nicht lange gut, oder?
Schon sehr bald bekam ich Ärger mit der Polizei. Entweder verbrachte ich die Nächte im Knast oder sie brachten mich komplett lädiert nach Hause. Nach einer durchzechten Nacht kam ich heim, nachdem ich durch die Stadt getobt war und unser neues Auto zu Schrott gefahren hatte. Zu Hause angekommen, nahm ich mir einen wirklich großen schwarzen Edding und schrieb in großen Lettern ein Gedicht auf unsere Hauswand. Es war eine ausschweifende Ginsberg’sche Geschichte, die um das ganze Haus herum lief. Dann ging ich schlafen. Am nächsten Morgen war die gesamte Nachbarschaft geschockt und meine Frau war auch total angepisst. Ich erklärte ihr, es sei „Kunst“. Wie dem auch sei, es wurde übermalt. Ich glaube, diese Ausbrüche kamen alle nur daher, weil ich keine Musik machte. Es gab zu viele gewalttätige Zusammenstöße mit der Polizei und ich verlor den Verstand, also fing ich wieder mit Musik an und wir trennten uns. Als nächstes musikalisches Projekt folgte die Gründung von SHOTGUN RATIONALE. Am Anfang gehörten dazu meine Person, Mort von SONNY VINCENT AND THE EXTREME und Mike Henderson. Ich habe ein paar neue Lieder geschrieben und wir spielten einige Shows, nach einer Tour saßen die Songs und wir nahmen ein Album auf.
Das war „Who Do They Think They Are?“, richtig?
Ja, das erste Lied, das ich für diese Band geschrieben habe, war „Do what I want“! Als wir genug Songs hatten, rief ich Moe Tucker von VELVET UNDERGROUND an, und sie hatte gleich Interesse, das Album zu produzieren. Tatsächlich war es mein erstes Album, da die TESTORS ja nie wirklich eins aufgenommen hatten. Später brachten TESTORS alle Songs raus, die wir in Eigenregie aufgenommen hatten, aber zu jener Zeit hatten die TESTORS kein Album draußen. Insofern war das SHOTGUN RATIONALE-Album mein erstes. Wir fuhren runter nach Georgia und spielten das Album ein. Kurz darauf starb Mikes Vater, und fortan musste er sich um seine beiden Schwestern und seine Mutter kümmern. Mike ist ein sehr positiv denkender Mensch und dafür habe ich ihn immer bewundert. Mike war ein guter Drummer, sonst hatte er nichts gelernt, und nun musste er einen beschissenen Fabrikjob annehmen und Tag und Nacht malochen, um seine Familie zu versorgen. Ich habe ihn erst letzte Woche angerufen und vielleicht werden wir bald mal wieder zusammen spielen. Von diesem Moment an gab es bei SHOTGUN RATIONALE ständig Veränderungen im Line-up. Es gab viele verschiedene Mitglieder, einige blieben länger, andere nur kurz. Und da es sich um ein rotierendes Line-up handelte, stiegen manche ein, dann aus und dann wieder ein. In dieser Zeit müssen sicher 20 Leute in der Band gewesen sein.
Ich habe mal gelesen, dass es bei mehr als einer Gelegenheit zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der Polizei von Minneapolis kam.
Die haben ständig überreagiert. Mag schon sein, dass ich sie provoziert habe, aber die sind nur allzu schnell darauf angesprungen und haben es weiter getrieben als nötig. Du hast das sicher schon im Fernsehen oder den Nachrichten gesehen, in den Staaten sind Polizisten oft echte Schweine. Es ist so, als hätte man keine Rechte, wenn man es mit einem Bullen zu tun hat, der Vorurteile hat oder einfach ein Arsch ist. Man hat mich oft ganz schön fertig gemacht, in den Knast gesteckt und einmal haben sie mich fast umgebracht. Ich musste ins Krankenhaus gebracht werden, so schlimm haben sie mich zugerichtet. Das Krankenhauspersonal war total schockiert darüber, in welchem Zustand ich mich befand, allerdings nahmen sie an, ich hätte was echt Schlimmes getan. In Wahrheit war es niemals wirklich schlimm, es ging höchstens um zu schnelles Fahren oder dass ich die Bullen besoffen angemault habe. Vielleicht war ich einfach nur bescheuert, vielleicht habe ich aber auch einfach nur nie meinen Kampf aufgegeben gegen korrupte Autoritätspersonen. Tatsache ist, wenn du in den Vereinigten Staaten einem Bullen widersprichst, kann es passieren, dass man dir das Gesicht zermatscht oder dir die Zähne ausschlägt. Sorry, das mag sich hart anhören, ist aber eine Tatsache. Meine Narben sind der Beweis. Es war unglaublich, wie die Polizei damals abging: ungebremste Brutalität und Arroganz. Manchmal hatte ich mit der Polizei zu tun und es verlief harmlos, ohne Gewalt. Einmal haben sie uns dabei erwischt, wie wir Farbe vom Dach des Gebäudes schütteten, in dem unserer Proberaum war. Wir hatten jede Menge Farbfässer gefunden. Und am gleichen Tag haben sie mich festgenommen, weil ich mit dem Auto in der Fußgängerzone gefahren bin. Man hat mich dann in die Psychiatrie eingeliefert und eine Woche später, nach einigen Tests und Beobachtungen, wieder entlassen. Es war schon komisch da drinnen, denn ein paar der Leute waren ganz schön durchgeknallt. Da war ein alter, ausgebrannter Musiker, ein Country- und Western-Typ, später hat der mal bei einem Song Steelguitar gespielt bei mir.
Irgendwann hast du dann Bobby Stinson von THE REPLACEMENTS zu SHOTGUN RATIONALE gebracht.
Ja, Bobby kam dazu und später auch Cheetah Chrome. Ich hatte dann noch eine weitere Formation, ich nannte sie MODEL PRISONERS, meine Band zusammen mit Bobby. Einige Geschichten über mich und Bobby kennt man wohl ... Es gibt ein Album, auf dem die ganze Geschichte von mir und Bob drauf ist – die Musik und dazu das vierseitige Booklet verraten alles. Da gab es eine gegenseitige Anziehung, was Vor- und Nachteile hatte. Ich vermisse ihn ... An dem Abend, als die Polizei mich fast umgebracht hätte, stand Bobby tatsächlich die ganze Nacht auf der Straße, an der Stelle, wo es passiert war. Er wollte die Beweise bewachen. Er ist die ganze Nacht da stehen geblieben, bis zum nächsten Morgen. Stand da vor einer Blutlache mitten auf der Straße. Als die Bullen mit mir durch waren, blieb eine riesige Blutlache auf der Straße zurück, mein Blut, und Bobby wollte, dass die Presse das sieht. Leider hat die Polizei ihn verjagt und alles sauber entfernt.
Später hattest du dann beide, Bobby Stinson und Cheetah Chrome, in der Band. Kannst du dazu etwas mehr sagen?
Frag lieber nicht ... es war der totale Wahnsinn! Gute Zeiten und schlechte Zeiten. Wie im Zirkus, mit Drogen, Frauen und psychischen Störungen.
Das klingt, als hätte SHOTGUN RATIONALE einige Mitglieder verschlissen.
Ja, das ist wahr. Einige blieben länger als andere. Meistens standen Uni oder Beruf im Weg. Oder Ehefrauen, die nicht wollten, dass sie auf Tour gehen. Wie schon gesagt, der erste Schlagzeuger war Mike Henderson, in dieser Besetzung war auch mein Kumpel Mort, der ursprüngliche Bassist, dann haben Bobby Joslyn und Jeff Rogers eine kurze Schicht am Schlagzeug eingelegt. Gary Taylor von TANK war auch eine ganze Weile unser Schlagzeuger. Greg Norton, der Bassist von HÜSKER DÜ, hat eine lange Kanadatour mit uns absolviert, dann hat ein Typ von TOXIC REASONS ein paar Shows mit uns gespielt. Paul Smith hat in einigen der Besetzungen Bass und auch Gitarre gespielt. Chris Romanelli von den PLASMATICS hat auf einem Album Bass gespielt und war zusammen mit Jamie Garner auf unserer ersten Europatour dabei. Spencer P. Jones von BEASTS OF BOURBON und Tony Slug waren auch mal auf einer SHOTGUN RATIONALE-Tour dabei. Hauptsächlich ging es mir bei den Leuten um die unmittelbare Inspiration, und da die Besetzung ständig wechselte, war es überhaupt nicht nötig, lebenslange Verpflichtungen einzugehen. Auf diese Weise, denke ich, bekam ich die volle Energie, Konzentration und Einsatz – auch ohne „eheähnliche“ Langzeitbindung“, die eine Band normalerweise braucht. Ein paar der irren Bastarde, die mal in der Band waren, habe ich jetzt mit Sicherheit vergessen aufzuzählen, was mir leid tut, aber die ganze Sache war einfach ein schwindelerregender Wirbelsturm an Alben und Touren.
Und wie kam es, dass du mit Moe Tucker und Sterling Morrison von VELVET UNDERGROUND gespielt hast ...?
Alter, das kommt ins nächste Heft!
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