27 Jahre sind eine lange Zeit. So lange schon spielen MILLENCOLIN Skatepunk, der nicht zuletzt dank „Tony Hawk’s Pro Skater“ in vielen Kinder- und Jugendzimmern zu hören war. Im Februar erscheint „SOS“, ein Album, mit dem die Schweden auf die ernste Lage der Gegenwart reagieren. Wie? Mit gewohnt eingängigen Refrains, Nikola Sarcevics wiedererkennbarer Stimme und der nötigen Portion Wumms. Wir trafen Nikola und Gitarrist Mathias Färm in Berlin zum Gespräch – allzu besorgt wirkten sie da nicht.
Dem Vogel auf eurem Albumcover geht es offensichtlich schlecht, er sieht völlig zerstört aus. Muss man sich Sorgen um euch machen?
Mathias: Um den Vogel vielleicht, uns selbst geht es aber ganz gut. Wir haben all unsere Emotionen in den Vogel gesteckt.
Nikola: Er ist wie eine Voodoo-Puppe.
Was sind das für Emotionen?
Nikola: Keiner von uns beiden hat das Artwork gemacht. Das stammt von Erik, unserem Gitarristen. Er versucht, die großen Themen des Albums darzustellen. Die Zeiten sind schwierig, die Zukunft ist unberechenbar. Mag sein, dass es Menschen gibt, die es anders empfinden. Für uns aber stellt sich die Gegenwart gerade schwierig dar und das zeigen wir auf und mit dem Album.
Eure erste Single „SOS“ ist eine musikgewordene Beschwerde über die heutige Gesellschaft. Was genau macht euch so wütend?
Mathias: Es geht darum, wie Menschen miteinander umgehen. Vor allem in den sozialen Medien. Alle glauben, sie müssten sich Gehör verschaffen.
Nikola: Weil alle es können!
Mathias: Genau, weil es die Möglichkeiten gibt. Das kann gut sein, aber auch schlecht. Es hat etwas Düsteres, wie die Menschen heute denken. „SOS“ ist eine Art Hilfeschrei für die Menschheit.
Wie sehen eure eigenen Erfahrungen mit den sozialen Netzwerken aus?
Mathias: Vielem, was meine „Freunde“ dort von sich geben, stimme ich nicht zu. Man wird wütend, wenn man das liest, weil man das Gefühl bekommt, die Leute wären nicht sehr clever. Aber das ist nur mein Gefühl. Sie denken natürlich völlig anders. Es ist nicht leicht, damit umzugehen.
Im Song „Nothing“ heißt es, dass ihr davon träumt, einen Refrain und einen Vers zu schreiben, der das Universum verändern kann. Habt ihr das mit MILLENCOLIN nach all den Jahren nicht erreicht – oder hattet nicht zumindest die Chance, das zu erreichen?
Nikola: Das nehme ich als Kompliment, haha. In dem Song singe ich nicht direkt über MILLENCOLIN. Die Band hat uns und unser Leben natürlich verändert und wir hoffen sehr, dass die Band und unsere Musik auch Einfluss auf das Leben anderer Menschen hatten.
Mathias: 2019 werden es 27 Jahre mit MILLENCOLIN.
Nikola: Die Tatsache, dass es Menschen gibt, die unsere Musik hören, ist fantastisch, und man muss sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass es nicht selbstverständlich ist. Das Musikmachen ist ein toller Weg, sich auszudrücken, all die Energie rauszulassen. Wir haben die Chance bekommen, die Welt zu sehen und viele tolle Menschen kennen gelernt. Das war das Beste. Ach und das Bier! Wir haben so viel gutes Bier getrunken, an jedem Ort der Welt.
Mathias: Es ist schon krass, dass wir in so vielen unterschiedlichen Ländern zu Gast waren und überall sind tatsächlich Menschen zu unseren Shows gekommen.
Wie sieht das Publikum bei euren Shows aus?
Mathias: Es wäre schon etwas deprimierend, wenn da immer wieder die gleichen Leute stünden, die schon die letzten 27 Jahre dabei waren. Zum Glück ist das eine gute Mischung, es kommen auch viele junge Menschen.
Nikola: Es gab in den ersten Jahren schon Die-hard-Fans, die uns begleitet haben. Man hätte erwartet, dass sie dranbleiben, aber wenn man genauer hinschaut, fällt auf, dass wir sie seit zehn Jahren nicht gesehen haben. Dafür kommen immer neue Menschen hinzu. Mit jedem Album gibt es die Möglichkeit, jemand anderen mit unserer Musik zu erreichen. Oft fällt uns das aber erst auf, wenn ein Album schon fünf oder zehn Jahre lang raus ist. Dann treffen wir auf Menschen, die uns sagen: „Diese Platte hat mir damals so viel bedeutet!“ Dass es so ist, erkennt man in der Regel ja erst im Rückblick und nicht, wenn man ein Album gerade zum ersten Mal gehört hat.
Mathias: Ich finde das spannend!
Was, hofft ihr, sagen die Menschen in fünf oder zehn Jahren über „SOS“?
Mathias: Grundsätzlich geht es uns bei MILLENCOLIN darum, gute Songs zu veröffentlichen. Natürlich ist es super, eine klare Botschaft zu haben, aber in erster Linie wollen wir, dass die Melodie passt. Na gut, und der Text natürlich auch. Unsere Musik hatte aber nie eine klare Message.
Nikola: Die Motivation hinter unserer Musik ist, kreativ zu sein und gute Melodien zu schreiben. Aber dann müssen wir ja auch noch einen Text dazu verfassen, haha. Es ist etwas, das zunächst mal sein muss. Aber klar, wenn wir fertig sind, ist es am besten, wenn die Summe aus Text und Melodie stimmt, wenn etwas entsteht, das noch mehr Ausdruckskraft hat, als nur die gute Melodie für sich allein. Melodien und Texte zu schreiben sind einfach zwei unterschiedliche Prozesse. Ich würde mir wünschen, dass die Songs Menschen dazu bewegen nachzudenken. Vielleicht über etwas, worüber sie sich zuvor keine Gedanken gemacht haben.
Solange die Menschen bei euren Shows noch tanzen, ist doch erst mal alles gut.
Mathias: Das stimmt.
Nikola: Das ist dann noch die dritte Kategorie an Menschen. Die, die tanzen, sind nicht unbedingt die, die genau zuhören. Wobei ... vielleicht tun sie’s doch.
Geht ihr eigentlich noch skateboarden?
Mathias: Na klar! Okay, nicht mehr so wie früher, als ich 15 war.
Nikola: Und wir haben mittlerweile andere Hobbys, du machst scharfe Saucen!
Mathias: Ich mache scharfe Saucen!
Nikola: Und du bist Drag Racer.
Entschuldige, was bist du?
Mathias: Drag Race ist ein Beschleunigungsrennen. Mit super schnellen Autos.
Das ist aber auch nicht unbedingt ungefährlich.
Mathias: Ach ja ...
Nikola: Mathias ist einer der schnellsten Fahrer in Europa. Nein, in der Welt!
Mathias: Ja, in der Welt.
Nikola: Und ich habe eine Brauerei, ich braue Bier. Unser Schlagzeuger hat ein Plattenlabel und Erik ist ein professioneller Angler.
Mathias: Fisherman’s Friend, haha.
Nikola: Wir machen neben der Band einfach viele Dinge.
Mathias: Natürlich war das Skateboarden ein wichtiger Teil unseres Lebens. Es war der Auslöser, MILLENCOLIN zu gründen.
Nikola: So sind wir zur Musik gekommen, es war eine bedeutsame Zeit für uns damals. Aber als wir mit der Band anfingen, wurde – zumindest für mich –das Skateboarden immer weniger wichtig.
Mathias: Skateboarden kann man ohne einen Trainer machen, man merkt, dass man etwas ganz allein hinbekommen kann. Der DIY-Gedanke in der Szene ist stark. It’s a lifestyle.
Wo genau seht ihr die Verbindung zwischen Punkrock und Skaten?
Nikola: Es geht darum, zu versuchen, für sich selber zu denken und eigene Ideen abseits des Mainstreams zu entwickeln. Skateboarding ist im Sport das, was Punkrock in der Musikszene ist. Es ist eine alternative Art der körperlichen Aktivität. Punkrock war für uns eine alternative Art, Musik zu machen. Das konnte jeder einfach so.
Mathias: Für Punkrock musst du nicht wirklich wissen, wie man ein Instrument spielt, du kannst einfach so eine Band gründen und anfangen.
Nikola: In den Texten kannst du alles unterbringen, was dich gerade an der Gesellschaft nervt. Bis heute nutze ich die Musik, um das zu tun. Ich sehe Dinge in meinem Umfeld und schreibe darüber.
Ich frage das gern am Ende: Was sind eure Lieblingssongs auf dem aktuellen Album?
Mathias: Das ist schwierig.
Nikola: Ich mag „Nothing“, den du schon angesprochen hast. Ich mag die Melodie, ich mag, dass er ein bisschen traurig ist, aber trotzdem hat er eine besondere Energie. Außerdem, wenn ich das so sagen darf, finde ich den Text interessant. Na gut, ich habe ihn geschrieben, haha.
Mathias: Oha! Für mich sind die ersten drei Stücke auf dem Album am wichtigsten. Vielleicht werde ich das in einem Jahr völlig anders sehen, noch sind sie ja alle recht neu für uns. Frag mich in ein paar Jahren noch mal, dann sag ich’s dir.
Abgemacht.
Nikola: Es kann ja auch passieren, dass ich es hasse, „Nothing“ live zu spielen.
Mathias: Das wirst du, vermutlich. Er ist nicht leicht.
Nikola: Wir müssen noch ein bisschen proben, bevor wir auf Tour gehen.
Mathias: Damit sollten wir tatsächlich mal anfangen.
© by - Ausgabe # und 15. Mai 2023
© by - Ausgabe # und 5. Juli 2021
© by - Ausgabe # und 3. Februar 2019
© by - Ausgabe # und 20. Mai 2014
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #39 Juni/Juli/August 2000 und Ox
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #46 März/April/Mai 2002 und Timbo Jones
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #59 April/Mai 2005 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #77 April/Mai 2008 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #99 Dezember 2011/Januar 2012 und Matin Nawabi
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #100 Februar/März 2012 und Alex Schlage & Bianca Hartmann
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #142 Februar/März 2019 und Julia Brummert
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #27 II 1997 und
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #46 März/April/Mai 2002 und Tim Tilgner
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #59 April/Mai 2005 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #22 I 1996 und Thomas Hähnel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #77 April/Mai 2008 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #38 März/April/Mai 2000 und Randy Flame
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #142 Februar/März 2019 und Julia Brummert
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #102 Juni/Juli 2012 und Lauri Wessel
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #119 April/Mai 2015 und Joachim Hiller