Völlig ohne Vorankündigung hat Laura Jane Grace, die Frontfrau von AGAINST ME!, Anfang Oktober ihr erstes Soloalbum veröffentlicht. „Stay Alive“ heißt es und aufgenommen hat sie es komplett ohne Bandunterstützung. Der Sound ist also extrem reduziert. Nur Gesang, Akustikgitarre und ein bisschen Drumcomputer. Sie droht aber jedem Journalisten im Scherz, der es als „Akustikalbum“ bezeichnen sollte, dass er und seine Familie über Generationen hinweg von ihrem sechs Saiten-spielenden Geist heimgesucht und jede Nacht beschallt wird. Denn eigentlich waren die Songs für ein neues Album von AGAINST ME! gedacht, wie Laura uns erzählt.
Dein neues Album kam ja völlig aus dem Nichts. War das eine spontane Idee?
Ja, es ist wirklich ein Überraschungs-Release. In Amerika erscheint das Album bei Polyvinyl Records und die haben schon mehrere solcher Überraschungs-Releases auf die Beine gestellt. Zum Beispiel das neue Album von Jeff Rosenstock und noch ein paar andere. Es gab keinen Grund, gerade in dieser speziellen Zeit, das Album auf herkömmlichem Weg herauszubringen. Normalerweise nimmst du die Platte auf, dann wird sie gemischt, gemastert und zwei oder drei Monate vorher angekündigt. Parallel zum Release werden eine Tour und Interviews geplant und all das. Zur Zeit gibt es aber keine Möglichkeiten, Konzerte zu spielen und auf Tour zu gehen. Ich hoffe deshalb, dass meine Musik auf diesem Weg ein paar Leute glücklich macht und ihnen Freude nach Hause bringt. Denn es gibt gerade so viel Dunkelheit überall. Warum also warten? Das Album gibt’s zuerst nur in digitaler Form, als Stream oder Download. Vinyl, CDs und Kassetten kommen dann im Dezember. Und sobald es möglich ist, werde ich natürlich rausgehen und Konzerte spielen. Nichts würde ich lieber machen. Das ist gerade die schlimmste Zeit für einen Musiker, die man sich vorstellen kann. Ich habe das Album im Juli eingespielt. Wir haben alle Songs binnen vier Tagen aufgenommen und abgemischt. Ich habe das Studio mit den fertigen Mixes verlassen. Ende August war es fertig gemastert, dann konnte es schon losgehen. Für mich fühlt es sich momentan an, als wäre das Ende der Welt erreicht. Ich will gar nicht wissen, was als Nächstes passiert. Deshalb wollte ich die Songs jetzt mit anderen Menschen teilen und nicht warten.
Die Songs waren doch eigentlich für ein neues AGAINST ME!-Album gedacht, oder?
Ein Soloalbum zu veröffentlichen, war überhaupt nicht der Plan. Ich würde jetzt viel lieber hier sitzen und mit dir über ein neues Album von AGAINST ME! plaudern. Aber so sind eben gerade die Umstände. Ich habe schon die vergangenen zwei Jahre neue Songs für AGAINST ME! geschrieben. Da sind jede Menge zusammengekommen. Es sind immer noch Unmengen von Stücken übrig, die ich nicht verwendet habe. Ende letzten Jahres hatten wir uns schon im Studio getroffen und gemeinsam an Demos gearbeitet. In den ersten beiden Monaten des Jahres haben wir uns immer wieder für ein Wochenende getroffen, um an den Songs zu feilen. Im März waren wir eine ganze Woche im Studio und hatten gerade eine kurze Tour gestartet, als die Corona-Pandemie mit voller Wucht zuschlug. Wir mussten alle Konzerte absagen und heimfahren. Dann wurden erst mal alle weiteren Pläne auf Eis gelegt, denn wir leben alle in unterschiedlichen Städten. Wir leben alle nicht einmal im gleichen Bundesstaat. Es gab also keine Möglichkeit für uns, gleichzeitig in einem Raum zu sein. Drei von vier in der Band sind Eltern, deshalb müssen wir einfach da bleiben, wo wir sind. Es ist völlig unsicher, wann sich die Situation wieder ändern wird. Hätten wir zwei Jahre warten sollen und da weitermachen, wo wir aufgehört haben? Außerdem haben viele der Songs genau in die jetzige Zeit gepasst. Die Tracks, die ich ausgesucht und aufgenommen habe, passen als Album gut zusammen. Dazu kommt, dass ich zwar in einer großen Stadt lebe, aber weil ich die letzten zwanzig Jahre auf Tour verbracht habe, habe ich hier nur wenige soziale Kontakte. Ich lebe sehr isoliert gerade. Ich saß also in meiner Wohnung und wusste nicht, was ich tun sollte. Auf den Tod warten? Musik macht mir einfach Spaß und ich fühle mich dadurch lebendig. Ich habe einen Monat lang gewartet und dann gesagt: Scheiß drauf! Ich nehme jetzt eine Platte hier in Chicago auf. Ich habe zwar noch nie im Electrical Audio Studio aufgenommen, aber ich wollte schon immer eine Platte mit Steve Albini machen. Also habe ich ihn angerufen und ein paar Studiotage bei ihm gebucht. Nur ich, keine Band, immer mit Mund-Nase-Maske. Nur wenn ich am Mikrofon war, habe ich sie abgenommen.
Du bist seit Mitte März zu Hause. Eine ganz schön lange Zeit für jemanden, der viel unterwegs ist. Wie kommst du damit zurecht?
Es fühlt sich ziemlich apokalyptisch an. Es gab in Chicago ja auch jede Menge Proteste nach dem Tod von George Floyd. Alle stehen total unter Spannung. Wenn ich in den Gemüseladen zum Einkaufen gehe, fühlt es sich an, als wäre niemand mehr nett zueinander. Meine Tochter pendelt zwischen mir und ihrer Mutter hin und her. Wenn sie bei mir ist, hat sie ihren Schulalltag und ich muss auch meine täglichen Aufgaben erledigen. Ich hatte zum Glück nie Probleme, mich selbst zu motivieren. Als Songwriter muss man sich immer dazu aufraffen, kreativ zu werden. Als Künstler hat man keinen Chef, man macht es einfach, weil man Spaß daran hat. Ich war sehr produktiv in den vergangenen Monaten. Ich habe ein Album aufgenommen und veröffentlicht, ich habe ein Fanzine namens „The Inescapable Karma of Owning a Cage“ mit Gedichten und Songtexten geschrieben, selbst gebastelt und ein paar hundert Kopien übers Internet verkauft. Ich habe in meiner Wohnung, in der ich erst seit Dezember wohne, einen neuen Fußboden verlegt und mir dort eine Art Gesangskabine gebaut, in der ich Vocals für Demos aufnehmen kann. Und ich habe viele Dinge erledigt, die schon lange liegen geblieben sind. Normalerweise bin ich immer einen Monat auf Tour und nur kurz zu Hause, da hat man kaum Zeit zum Überlegen, weil die nächsten Konzerte schon wieder anstehen. Dazwischen geht man ins Studio und nimmt neue Songs auf. Ich habe jetzt gerade zum ersten Mal seit zwanzig Jahren richtig viel Zeit für mich. In all den Jahren habe ich so viele Dinge immer wieder aufgeschoben. Zeitschriftenstapel sichten oder Umzugskartons aussortieren. Mir war also nie langweilig. Ich wollte ganz einfache Dinge machen, wie eben das Fanzine mit Kleber und Schere oder das Album nur mit Akustikgitarre. Ich hatte das Bedürfnis, alles zu vereinfachen, wenn alles andere in der Welt gerade zu viel und zu kompliziert ist. Mein Motto war also: So einfach wie möglich!
Die Proteste der „Black Lives Matter“-Bewegung haben mit dem Tod von George Floyd begonnen und thematisieren immer wieder Polizeigewalt. Du hast ja auch schon Erfahrungen mit Polizeigewalt gemacht. Hat dich das deshalb besonders berührt?
Für alle, die in der Punk-Szene aufgewachsen sind, ist es keine Überraschung, dass Rassismus existiert. Alle, vor allem in der politischen Punk-Szene, sind sich dessen bewusst. Das hat mich schon immer beschäftigt, seit den ersten antirassistischen Aktionen, an denen ich mich beteiligt habe. Als ich 14 Jahre alt war, hat mir eine Gruppe Polizisten die Scheiße aus dem Leib geprügelt. Ich habe also eine Heidenangst vor denen. Der Grund, warum sie mich damals nicht umgebracht haben, war einzig und allein die Farbe meiner Haut. Ich hatte das Privileg, weiß zu sein. Wenn einer meiner schwarzen Mitschüler damals erwischt worden wäre, wäre er jetzt nicht mehr am Leben oder er wäre im Knast gelandet. Deshalb finde ich es gerade sehr wichtig, dass sich das Bewusstsein dieser „Black Lives Matter“-Demos weiter verbreitet. Ich stehe zu 100% hinter dieser Bewegung. Ich konnte leider an vielen Protesten nicht teilnehmen, weil ich Rücksicht auf meine Tochter nehmen muss. Es fühlt sich einfach nicht sicher an, mit einer Zehnjährigen auf so eine Demo zu gehen. Wir haben aber eine kinderfreundliche Demo in einem Vorort besucht, die ein Freund von mir organisiert hat. Es gibt hier in der Nachbarschaft auch Menschen, die einfach Schilder hochhalten, da sind wir oft dabei. Und natürlich nutze ich auch meine eigenen Plattformen, um mich gegen Polizeigewalt und Rassismus auszusprechen. Ich singe Songs darüber oder poste Kommentare und Bilder in sozialen Netzwerken. Dabei werde ich immer wieder überrascht. Als ich neulich ein Foto von einem „Black Lives Matter“-Schild auf Instagram hochgeladen habe, kamen unzählige negative Kommentare. Das bestärkt mich darin, mich weiter zu engagieren.
Im Song „Hanging tree“ setzt du dich mit der ganzen Situation in Amerika auseinander. Was ist dir dabei durch den Kopf gegangen?
Diesen Song habe ich schon vor zwei Jahren geschrieben. Den gibt es also schon eine ganze Weile. Es fühlt sich gerade an, als würde er mehr und mehr an Relevanz gewinnen. Viele der Songs auf dem neuen Album fühlen sich an, als wäre es falsch, sie noch zurückzuhalten. In „Hanging tree“ geht es um religiöse Heuchelei, die in Amerika weit verbreitet ist. Es geht um die Geschichte von Sklaverei und Rassismus in diesem Land und wie viele Menschen Religion als Waffe verwenden. Menschen, die Jesus als Sinnbild für Brüderlichkeit und Freundlichkeit bezeichnen und dann zuschlagen. Oder all diese Nationalisten, die Amerika als Land der Freiheit abfeiern und dann eine Mauer bauen, um Immigranten abzuhalten. Damit wird man hier tagtäglich konfrontiert. Ich finde diese Doppelmoral einfach schrecklich.
Bei anderen Songs auf dem Album hat man fast den Eindruck, dass du dich auf eine virtuelle Reise machst. Du singst von Marbella oder von Glasgow. Plagt dich das Fernweh?
Ich habe für diese Platte vor allem Songs ausgesucht, in denen es um andere Orte geht. Damit ich auf Reisen gehen kann, wenn man gerade nirgendwohin kann. Nach zwanzig Jahren, in denen ich auf Tour war, habe ich viel über all die Orte nachgedacht, an denen ich schon war. Viele dieser Songs sind in Europa entstanden, als ich zum Beispiel mit den DEVOURING MOTHERS Frank Iero von MY CHEMICAL ROMANCE begleitet habe. An diese Tour habe ich jede Menge gute Erinnerungen. Jeden Morgen bin ich früh aufgestanden und durch die Stadt gejoggt, in der wir gespielt haben. Ich habe alle Erfahrungen in mich aufgesogen, davon zehre ich immer noch. Gerade jetzt, wenn man nicht reisen kann.
Warum hast du dich entschieden, die Songs mit einem so reduzierten Sound aufzunehmen? Das klingt fast wie in den frühen Tagen von AGAINST ME! Nur du und die Gitarre.
Ich weiß, dass sich viele Fans schon lange gewünscht haben, dass ich mal wieder ein Akustikalbum mache. Jetzt war einfach genau der richtige Zeitpunkt dafür. Der Minimalismus der Platte ist aber auch ein Statement. In einer Zeit, in der so viele Menschen in den USA ihren Job verlieren und nicht wissen, wie sie ihre Miete bezahlen sollen, hätte es sich nicht richtig angefühlt, etwas Exzessives oder Bombastisches zu veröffentlichen. Das hätte einen bitteren Beigeschmack gehabt. Ein analoges Album ist für mich wie ein Dokument dieser merkwürdigen Zeit, in der sich alle nur noch in Videokonferenzen und Livestreams herumtreiben. Mir war es wichtig, etwas zu schaffen, was nicht mehr bearbeitet wird. Ich habe die Songs lange geübt und mir wirklich Mühe gegeben, dass sie so klingen, wie sie jetzt klingen. Ich wollte nicht, dass im Nachhinein mit Hilfe von Pro Tools alle Fehler ausgebessert werden und es danach perfekt klingt. So hat es einen viel größeren Wert für mich.
Wie war es, mit Steve Albini zu arbeiten? Soweit ich weiß, war es deine erste Erfahrung mit dem berühmten Produzenten von PIXIES oder NIRVANA.
Ich habe großen Respekt vor seiner Geschichte als Produzent, aber auch vor seinen eigenen Bands wie BIG BLACK oder SHELLAC. Vor drei Jahren haben wir beim Primavera Sound Festival in Barcelona gespielt, da habe ich ihn mit SHELLAC gesehen und sie waren großartig. Ich bin also schon lange Fan von ihm. Ich mag seine Ästhetik, seine Arbeitsweise und seine Ansichten. Aber letztendlich war der entscheidende Grund, mit ihm zu arbeiten, seine Verfügbarkeit. Ich habe ihn angerufen, ein paar Tage in seinem Studio gebucht, bin aufgetaucht, wir haben zu zweit das Album aufgenommen, am Ende habe ich ihn bezahlt und bin mit meinen Aufnahmen wieder gegangen. Kein Manager und kein Label war involviert. Ich behaupte, mit den meisten anderen Menschen mit diesem Renommee hätte das nicht so funktioniert. Vor allem in so einer schwierigen Situation wie diese Corona-Pandemie. Dafür war ich sehr dankbar. Außerdem wollte ich niemanden haben, der seinen Senf zu meinen Songs gibt. Ich wusste ganz genau, was ich wollte. Sicher hätte man die Songs auch anders aufnehmen oder Teile verändern können. Das war mir aber völlig egal. Ich wollte diese Songs einfach genauso aufnehmen, weil mich das glücklich gemacht hat. Und ich hoffe, die Songs machen andere Menschen auch glücklich.
Wie geht es jetzt mit AGAINST ME! weiter? Du hast ja jetzt all diese Songs für dein Soloalbum verwendet.
Da ist gerade totaler Stillstand. Ich schreibe natürlich weiter Songs, bleibe optimistisch und bereite mich darauf vor, dass sich die Dinge irgendwann wieder normalisieren. Aber solange wir nicht wieder zusammen in einem Raum sein dürfen, können wir nicht viel machen. Außer vielleicht über die Vergangenheit zu quatschen. Ich habe kein Interesse daran, dass jeder seine Spuren zu Hause aufnimmt und wir dann alles am Computer zusammenfügen. Das fühlt sich für mich nicht echt an. Deshalb hoffe ich weiter, dass meine Tochter irgendwann wieder zur Schule gehen kann und wir uns auch als Band wieder treffen können. Aber erst dann können wir darüber nachdenken, eine neue AGAINST ME!-Platte zu machen. Bis dahin sitze ich zu Hause und versuche, am Leben zu bleiben.
Vor vier Jahren hast du ja deine Biografie „Tranny. Confessions of Punk Rock’s Most Infamous Anarchist Sellout“ veröffentlicht. Wird es denn irgendwann ein neues Buchprojekt geben?
Das war natürlich ein sehr emotionales Projekt für mich. Dadurch kam einfach mein ganzes Leben bis dahin noch einmal auf den Tisch. Und ich bin ja noch jung und habe hoffentlich noch ein paar Jahre zu leben, das hat dem Ganzen noch mehr Gewicht verliehen. Man sieht die Fehler, die man gemacht hat, und sieht, was man hätte besser machen können. Ich schreibe jeden Tag und ich kann mir gut vorstellen, irgendwann wieder ein Buch herauszubringen.
Wird deine Biografie auch in andere Sprache übersetzt, vielleicht auf Deutsch?
Es wurde schon ins Finnische, Italienische, Spanische und ins Portugiesische übersetzt. Demnächst kommt die polnische Übersetzung heraus. Und ich hoffe, dass eine deutsche Übersetzung auch bald folgen wird. Ich würde es ja gerne selbst machen, aber ich bin Amerikanerin, wir beherrschen nur eine Sprache.
© by - Ausgabe # und 14. August 2024
© by - Ausgabe # und 8. November 2023
© by - Ausgabe # und 22. September 2021
© by - Ausgabe # und 15. Januar 2021
© by - Ausgabe # und 30. November 2020
© by - Ausgabe # und 30. November 2020
© by - Ausgabe # und 1. Oktober 2020
© by Fuze - Ausgabe #85 Dezember/Januar 2020 und Dennis Müller
© by Fuze - Ausgabe #105 April/Mai 2024 und Christian Heinemann
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #153 Dezember/Januar 2020 und Wolfram Hanke
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #162 Juni/Juli 2022 und Laura Jane Grace
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #173 April/Mai 2024 und Roman Eisner
© by Fuze - Ausgabe #104 Februar/März 2024 und Christian Heinemann
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #172 Februar/März 2024 und Roman Eisner
© by Fuze - Ausgabe #85 Dezember/Januar 2020 und Arne Kupetz
© by Ox-Fanzine - Ausgabe #153 Dezember/Januar 2020 und Wolfram Hanke