Über HOT WATER MUSIC lässt sich eigentlich nicht streiten. Seit dreißig Jahren prägt das Quintett aus Gainesville, Florida mit seinem rauhen Punkrock ein ganzes Genre. Dabei sind es gerade ihre Bodenständigkeit und Aufrichtigkeit, die sie zu einer der authentischsten Bands der gesamten Szene machen. Zur großen Freude steht nun mit „Vows“ das zehnte Studioalbum in den Startlöchern. Chuck Ragan, ihr charismatischer Sänger und Frontmann, steht mir via Zoom Rede und Antwort und entpuppt sich dabei wie immer als tiefsinniger und außerordentlich empathischer Gesprächspartner.
Chuck, wie geht es dir und was machst du gerade?
Danke, alles bestens hier! Wie du siehst, sitze ich in meinem Homestudio zwischen meinen Gitarren und bin gedanklich gerade wieder voll bei der Musik. Wie sollte es auch anders sein.
Das wundert mich überhaupt nicht – schließlich ist 2024 für euch ja ein ganz besonderes Jahr: Unglaubliche drei Jahrzehnte Bandgeschichte und zehn Studioalben sind doch ein echter Grund zum Feiern. Wie fühlt sich das an?
Es ist immer wieder seltsam, wenn man das so von außen gesagt bekommt. Für uns ist das alles sehr, sehr aufregend. Gleichzeitig sind wir aber auch völlig demütig und überwältigt. Wir haben in letzter Zeit viel darüber nachgedacht und davon geredet, dass sich der Aufnahmeprozess zum neuen Album total nostalgisch angefühlt hat. Da kamen unzählige alte Geschichten und Erinnerungen hoch – kein Wunder, nach drei Dekaden HOT WATER MUSIC. Aber ja, wir sind einfach alt geworden und haben begriffen, was das für ein unglaublicher Meilenstein ist. Wir haben verstanden, wie besonders es für jede Band oder jeden Einzelnen ist, über eine solch lange Zeit einer künstlerischen Leidenschaft nachgehen zu können. Es ist einfach nur großartig!
Gibt es dabei auch so etwas wie eine zentrale Erkenntnis?
Oh ja, definitiv! Am wichtigsten ist es für mich, verstanden zu haben, dass wir das alles nicht alleine geschafft haben und als Individuen auch niemals geschafft hätten. Das war eine Teamleistung. Es war wie eine Familie. Und je länger wir dabei sind, desto mehr sind wir uns der Tatsache bewusst, dass wir ohne die Unterstützung der Musikszene und der Gemeinschaft heute einfach nicht hier wären. Sie waren immer für uns da, wenn wir schwach waren, und wir waren für sie da, als sie schwach waren. Das ist der wahre Grund, warum wir das alles überhaupt erst gemacht haben und es unsere Band gibt. Und es gibt mir ein verdammt gutes Gefühl tief in meinem Herzen. Wenn ich so darüber nachdenke, dann spüre ich, dass sich in dieser Hinsicht auch bis heute nichts geändert hat. Dass wir es immer noch aus denselben Gründen tun, aus denen wir als Jugendliche damit angefangen haben. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich einfach das Glück hatte, in einem Bereich zu landen, in dem man sich gegenseitig unterstützt und füreinander da ist, so wie hier in der Punkrock-Szene.
Wo wir gerade dabei sind, in die Vergangenheit zu blicken: Wenn du dem jungen Chuck von 1994 aus heutiger Perspektive einen guten Ratschlag mitgeben könntest, was würdest du ihm sagen?
Oh, das ist einfach! Ich würde wahrscheinlich sagen: „Schreibe mehr Lieder, trinke weniger und mache mehr Yoga!“
Aber bei zehn Studioalben, unzähligen EPs und neun Soloalben in dreißig Jahren kann man dir Faulheit doch nicht wirklich unterstellen.
Das stimmt natürlich. Andererseits kann aber man auch einfach nie genug gute Songs haben!
Wohl wahr. Das rückt natürlich auch wieder die Teamleistung in den Fokus, von der du eben sprachst. In diesem Kontext erwähnte euer Bassist Jason im letzten Ox-Interview, wie wichtig gerade auch die Zusammenarbeit mit Brian McTernan und Ryan Williams war. Ihr habt ja bei dem neuen Album „Vows“, das am 10. Mai dieses Jahres erscheint, erneut mit den beiden zusammengearbeitet.
Genau. Aber dennoch war diesmal alles anders. Als wir für „Feel The Void“ ins Studio gingen, war das eine verdammt herausfordernde Zeit. Während der Pandemie kamen wir als Band nicht wirklich oft zusammen. Wir haben uns aus der Ferne geschrieben und hatten Zoom-Meetings. Klar, so etwas hat natürlich auch Vorteile – es ist schon cool, dass du und ich gerade so weit voneinander entfernt sind und wir dennoch so intensiv plaudern können und gefühlt irgendwie zusammensitzen. Aber es wäre dennoch etwas ganz anderes, wenn wir uns in einem Café treffen würden und ich dir die Hand schütteln oder dich umarmen könnte und sagen würde: „Also gut, Sid, dann bis zum nächsten Mal.“ Und genau deswegen gibt es auch einfach eine andere, eine menschliche Verbindung, wenn du mit deinen Bandkollegen im selben Raum bist. Somit war der Anfang von „Feel The Void“ sehr steinig und hart. Jeder kämpfte mit seinem eigenen verdammten Zeitplan. Ich bin mir auch darüber im Klaren, dass ich zu dieser Zeit wahrscheinlich eines der kompliziertesten Puzzleteile war.
Hattest du damals eine schwierige Zeit?
Es war extrem stressig. Ich war gerade von einer Wohnung in eine andere gezogen. Mein damals fünfjähriger Sohn sprang zu Hause herum, aber ich hatte leider wenig Zeit für ihn. Währenddessen ging mein Stresspegel durch die Decke. Und gleichzeitig gab es wegen der Pandemie viel weniger Arbeit als sonst – ich musste mich also wirklich abrackern, um mein Geld zu verdienen. Es ging ja allen Menschen irgendwie beschissen und jeder hatte seine Sorgen und Nöte – bei mir war das eben nicht anders. Mein Arbeitspensum war extrem hoch. Und es fiel mir sehr, sehr schwer, mich hinzusetzen und die ganze Welt um mich herum auszuschalten, um mich auf etwas Kreatives zu konzentrieren. Vor allem, weil ich so erschöpft war und es so schien, als würde ich jedes Mal einfach einschlafen, wenn ich mich nur hinsetzte. Andererseits war ich aber oft auch komplett aufgedreht, obwohl ich es langsamer angehen ließ und versuchte, mein Gehirn für einen Moment zur Ruhe zu bringen. Ich war komplett am Ende und das war wirklich hart. Doch viel härter war es wiederum für den Rest der Band, weil ich mich nicht mehr in dem Maß einbringen konnte, wie ich es wollte. Aber ich hatte keine andere Wahl. Ich saß hier und arbeitete, versuchte meiner Familie ein neues Zuhause zu schaffen, finanziell über die Runden zu kommen und trotzdem noch irgendwie präsent zu sein.
In solchen Zeiten wird einem wieder bewusst, was es doch für ein Luxus ist, der eigenen Kunst nachgehen zu können und dafür auch die nötigen Ressourcen zu haben.
Da triffst du den Nagel auf den Kopf. Gerade in solchen Zeiten ist das wie ein Augenöffner. Der Entstehungsprozess von „Feel The Void“ fiel also genau in solch eine dunkle Phase und ich war froh, als wir irgendwann aus dem Studio kamen und es überstanden hatten. Trotzdem denke ich, dass wir damals ein großartiges Album gemacht haben, das mir rückblickend sehr am Herzen liegt. Ich liebe diese Songs und jedes Mal wenn ich sie spiele, erinnere ich mich, wie hart dieser Prozess war und dass wir ihn als Band, als Familie gemeinsam durchgestanden haben.
Das klingt nach einem wirklich kathartischen Effekt. Hat das neue Album einen ähnlichen Werdegang?
Das ist wirklich seltsam, denn die Entstehung von „Vows“ hätte sich nicht gegensätzlicher anfühlen können. Und dieses Gefühl hatte ich bereits ab dem Moment, als wir das Studio betraten. Ich war wahrscheinlich noch niemals zuvor so gut vorbereitet – egal, ob es um Texte, Strukturen oder Arrangements ging. Und das fühlte sich großartig an. Weißt du, bei HOT WATER MUSIC kommt es nur selten vor, dass wir ins Studio gehen und genau wissen, was wir tun werden oder wie die Dinge ablaufen sollen. Klar, das ändert sich natürlich immer, wenn die kreativen Säfte zu fließen beginnen, wenn jeder aufgeregt ist und man merkt, wie sich die Songs zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Aber dieses Mal fühlte sich ab der ersten Sekunde einfach alles viel positiver an, viel energiegeladener. Obwohl natürlich auch hier eine gewisse Katharsis dahinter steckt, denn es gibt eine Menge Dunkelheit in unseren Liedern – das gilt auch für „Vows“. Schließlich haben wir Musik schon immer als eine Art Therapie benutzt, um mit unseren Emotionen umzugehen und unsere Probleme und Unzulänglichkeiten zu erkennen. Aber dieses Mal war es etwas leichter als sonst, jeder war die ganze Zeit in bester Stimmung. Wir haben uns alte Geschichten erzählt, wir haben gelacht, wir haben Kontakte geknüpft. Da war einfach wieder so eine magische Energie. Ja, für mich war es definitiv eine wunderschöne Zeit.
Liegt das vielleicht auch daran, dass ihr mittlerweile mit eurem dritten Gitarristen Chris Cresswell perfekt harmoniert und er sich zum vollwertigen Mitglied entwickelt hat?
Ich denke, dass es definitiv eine Menge damit zu tun hatte. Wir verbrachten in den vergangenen Jahren viel Zeit auf Tour und im Studio zusammen. Chris Cresswell war und ist einfach so unglaublich wichtig für die Bandfamilie. In der Tat hat es eine Weile gedauert, ihm das bewusst zu machen. Es hat etwas gedauert, bis er sich wohl genug gefühlt hat, um auch eigene Songs für HOT WATER MUSIC zu schreiben und sich ganz als Teil der Band zu fühlen. Wahrscheinlich solltest du ihn an dieser Stelle besser selbst fragen, aber ich erkenne einen klaren Unterschied, wenn ich das neue Album mit „Feel The Void“ vergleiche. Obwohl Chris ja schon viel länger mit uns spielt und ich ihn sowohl bei „Light It Up“ 2017 und „Shake Up The Shadows“ 2019 schon gerne mit dabeigehabt hätte. Für mich bedeutet es einfach immer: „Willkommen, du bist jetzt in der Band!“ Aber ich glaube, er hatte hingegen lange Zeit das Gefühl, er wäre bloß ein Aushilfsgitarrist, der einfach nur seine Freunde unterstützt. Als wir dann „Feel The Void“ aufnahmen, war es mir wichtig, dass auch er endlich einen eigenen Song schreibt und singt.
Stichwort: Bandfamilie!
Exakt. Allein schon seine Stimme! Wir sind seit Jahren mit seiner Stimme durch die ganze Welt getourt, also hat er es verdient, dabei zu sein und etwas beizutragen. Und ich glaube, da haben sich die Dinge für ihn ein wenig geändert. Alleine schon „Turn the dial“ auf „Feel The Void“ ist solch ein fantastischer Song! Ich liebe ihn! Und so war es nur konsequent, dass er auch für „Vows“ seine Ideen beigesteuert hat. Einige seiner Songs haben wir zwar noch nicht aufgenommen, aber das werden wir gewiss noch tun. Ich habe das Gefühl, dass dies eine große Veränderung bei ihm bewirkte und er erkannte, wie sehr wir ihn schätzen, ihm vertrauen und ihn als Teil dieser Band brauchen. Gerade er und Chris Wollard haben beim neuen Album wieder perfekt zusammengearbeitet und gemeinsam unfassbar gute Ideen eingebracht. Das war uns sehr wichtig, denn die beiden verbringen ja nicht viel Zeit miteinander – wie du weißt, kann Chris Wollard ja leider aus persönlichen Gründen nicht mehr mit uns auf Tour gehen, wohingegen wir anderen vier immer gemeinsam unterwegs sind. Das Wichtigste für uns war also genau diese Schnittstelle, dass auch er und Cresswell zusammen zu HOT WATER MUSIC beitragen. Und das haben sie meiner Meinung nach damals bei „Feel The Void“ schon großartig hinbekommen und jetzt auf „Vows“ noch einmal perfektioniert.
Ist es aber nicht auch etwas schwierig mit gleich drei renommierten Songwritern und Frontmännern in einer Band? Gibt es da auch mal kreativen Dissens?
Wir toppen das Ganze sogar noch: Es sind sogar fünf Songwriter! Das weiß wahrscheinlich nur keiner, aber unser Drummer George ist ein absolut begnadeter Gitarrist und er ist wahrscheinlich sogar der beste Sänger von uns allen. Aber er würde das niemals zugeben. Tatsächlich ist es so, dass bei HOT WATER MUSIC nie das ganze Gewicht auf den Schultern von nur einer Person lastet. Jeder von uns schreibt Songs und je älter wir werden, desto aufgeschlossener sind wir für die Ideen der anderen. Ganz im Gegensatz zu früher. Wenn da jemand mit einer neuen Idee ankam, hat sie ein anderer sofort abgeschmettert, noch bevor sie überhaupt ausprobiert wurde. Dann hieß es sofort: Nein, das ist Mist, das geht auf keinen Fall so. Wir machen das anders! Mittlerweile habe ich hingegen das Gefühl, dass wir alle viel offener für neue Ideen geworden sind. Denn beim Songwriting ist es selten, dass jemand mit einem Vorschlag kommt, der auf Anhieb perfekt funktioniert. Ja, natürlich kommt so etwas schon mal vor und das ist dann auch echt magisch. Aber meistens passiert das nicht. Ideen kommen vor allem dann, wenn man als Kollektiv spielt. Sie müssen wachsen und sich entwickeln und vor allem müssen sie organisch wachsen. Du kannst sie nicht erzwingen. Und im Laufe der Zeit habe ich gemerkt, dass es gerade diese kreativen Prozesse sind, die mir am meisten Spaß machen.
Ihr müsst also am Ende sogar Songs aussortieren, weil ihr alle so produktiv seid?
Ja, leider, haha. Wir haben normalerweise zu viel Material und arbeiten einfach immer an zu vielen Dingen gleichzeitig. Der eigentliche Trick ist also, dass wir im Laufe der Jahre ein Abstimmungsverfahren entwickelt haben, bei dem wir uns auf gut dreißig Songs konzentrieren, die vielleicht noch nicht ganz fertig sind. Dann heißt es: Okay, lasst uns diese auf zwanzig reduzieren. Und dann: Jetzt lasst uns davon die besten fünfzehn auswählen und aufnehmen. Wenn das Album schließlich herauskommt, sind es dann vielleicht nur noch zehn Songs. Wir stimmen immer gemeinsam über die Auswahl ab und meist entstehen dabei ohnehin auch viele witzige und schräge Diskussionen. Und wenn wir ganz am Ende tatsächlich einmal zwei Songs haben, die sich zu sehr ähneln, entscheiden wir wieder im Kollektiv – hier hat jeder ein Mitspracherecht. Generell habe ich jedoch das Gefühl, dass sich gute Songs irgendwann von selbst offenbaren, denn wenn wir einmal anfangen, unsere Energie in sie hineinzustecken, dann entwickeln sie sich von alleine und kommen quasi zu uns. Das ist wirklich perfekt und natürlich machen wir es immer so gut, wie wir nur können.
Wählt ihr euer Songmaterial auch nach konzeptionellen Aspekten aus, also ob sie zur jeweiligen Stimmung des Albums passen oder zur inhaltlichen Ausrichtung?
Ja, manchmal auch das. Hin und wieder taucht ein Song auf, der sich unglaublich stark vom Rest des Materials unterscheidet. Und das kann natürlich etwas Gutes sein. Oder aber auch etwas Schlechtes, zum Beispiel wenn man merkt, dass die Abweichung einfach zu groß ist und das Album nicht mehr wie aus einem Guss wirken würde. Solche Lieder schieben wir beiseite und manchmal lassen wir sie einfach ein paar Monate oder Jahre liegen, bis wir wieder darüber stolpern und sie sich zu gegebener Zeit dann organisch anfühlen.
Dann lass uns doch direkt über die neuen Songs auf „Vows“ – auf Deutsch: Gelübde – sprechen. Welches Versprechen legt ihr darauf ab?
In „Vows“ steckt unglaublich viel Reflexion, es gibt einfach so viel Selbsterkenntnis in den Geschichten dieser Songs. Unser großes Thema war es von Anfang an, in dunklen Zeiten ein Licht am Ende des Tunnels zu finden. Wir sind mit Rock’n’Roll aufgewachsen, wir sind mit Punkrock aufgewachsen. Und das war ein bisschen anders als heute. Die Szene, wie wir sie damals kannten, war nicht so sehr Mainstream. In meiner Kindheit waren Tattoos und schwarz lackierte Fingernägel auf dem Fußballplatz nicht so akzeptiert wie heute. Man hat sich ständig über uns lustig gemacht, wir wurden damals einfach anders behandelt. Nicht nur von unseren Mitschülern, sondern auch von den Lehrern. Von Autoritäten, von den Eltern unserer Freunde. Wenn ich so zurückblicke, kann ich noch immer genau nachfühlen, wie es ist, ein Kind zu sein, ein Außenseiter. Und das ist natürlich auch gerade für mich als Vater ziemlich entmutigend, wenn ich daran denke, dass es Menschen gibt, die einen Teenager so behandeln. Aber auf der anderen Seite blicke ich auch zurück und komme zu der Erkenntnis, dass ich andernfalls nicht der Mensch geworden wäre, der ich heute bin. Wenn mich mein Mathelehrer damals nicht vor die gesamte Klasse zitiert und vorgeführt hätte. Wenn sich meine Klassenkameraden nicht über meine Schuhe oder meine Frisur lustig gemacht hätten. Das hat mich damals sehr geärgert und natürlich auch verletzt. Im Nachhinein ist mir klar geworden, dass es etwas Traumatisches an sich hatte. Genau das ist mir letztendlich im Gedächtnis geblieben, aber gleichzeitig war das ein Teil dessen, was meinen inneren Rebellen und mein Selbstvertrauen beflügelt hat.
Aus der Not eine Tugend machen ist natürlich die beste Strategie, da hast du vollkommen recht. Traurig ist nur, dass es leider nicht jedem jungen Menschen gelingt, dieses Vertrauen in sich selbst zu finden.
Stimmt, und genau dieses Gefühl bedrückt und beschäftigt mich. Deswegen hatte es auch einen Einfluss auf die Texte auf „Vows“. Darin steckt eine Menge Schmerz und viele alte Erinnerungen an das Erwachsenwerden. Und nun haben wir unser dreißigjähriges Bandjubiläum und die Erfahrungen beschäftigen uns nach wie vor, weil sie uns einfach so sehr prägten. Wir alle haben viel über die Jahre nachgedacht, über die Kämpfe, die Dinge, die wir durchgemacht haben, um dahin zu kommen, wo wir heute sind. Aber wir sind uns sehr wohl bewusst, dass wir hier über Erste-Welt-Probleme sprechen. Letztendlich sind wir bloß fünf weiße Männer in einer modernen Gesellschaft. Es gibt viele, viele Menschen auf diesem Planeten, denen es weitaus schlimmer ergeht als uns jemals. In unseren Liedern verarbeiten wir nur unsere ganz eigenen Erfahrungen und wie wir damit umgehen. Viele der Songs auf „Vows“ handeln von psychischer Gesundheit, vom Umgang mit unseren Ängsten und Unsicherheiten oder von den Dingen, die wir als Familie, als Gemeinschaft oder auch als Individuen tun müssen, um über die Runden zu kommen. Insbesondere natürlich auch, um genau das Leben zu leben, das wir als Künstler führen. Also Reisen, Schreiben, Aufnehmen und gleichzeitig eine Familie zu Hause zu haben, während wir parallel noch unseren anderen Jobs nachgehen. Das ist ein Balanceakt. Um aber noch mal auf deine Frage nach dem inhaltlichen Konzept von „Vows“ zurückzukommen: Ich weiß vorab wirklich nie, ob es ein bestimmtes Thema oder Konzept hinter einem neuen Album geben wird. Aber ich weiß, dass es letztlich ein ganz natürlicher Prozess war, dass die Platte diese Themen behandeln soll. Wir waren einfach sehr offen und ehrlich und haben gemeinsam Songs geschrieben. Es hat sich so ergeben und mündete am Ende in einem kohärenten Ganzen. Alles ergab plötzlich einen Sinn.
Nun habt ihr auf dem neuen Album eine ganze Menge renommierter Gäste. Wie kam es dazu?
Auch dies war ein ganz organischer Prozess, der sich im Laufe der Aufnahmen wie von alleine ergab. Nimm zum Beispiel Brian McTernan und Ryan Williams, die schon seit Ewigkeiten unsere Freunde sind und auch so manche unserer vorherigen Alben produziert haben. Sie sind genau wie wir auch seit Jahrzehnten im Musikgeschäft tätig, sind getourt und haben mehr als die Hälfte ihres Lebens in Bands gespielt. Die Mehrheit der Leute, die wir kennen und mit denen wir kommunizieren – insbesondere auch unsere Freunde und Familien –, kennen wir durch die Musik. Wir teilen die gleiche Leidenschaft. Und Brian kannte wiederum die Jungs von TURNSTILE, da er deren Alben ebenfalls produziert hatte. Ich liebe diese Band einfach. Sie sind übrigens auch die Lieblingsband meines Sohnes.
Und was ist mit der Band seines Vaters?
Haha, ja, das kann ich natürlich nicht leugnen. Natürlich liebt er auch HOT WATER MUSIC und das bedeutet mir unglaublich viel. Aber neben TURNSTILE haben wir auf „Vows“ auch noch THE INTERRUPTERS mit dabei, mit denen ich erst vor kurzem eine gemeinsame Tour absolviert habe. Wir haben uns sofort prima verstanden und ich habe mich direkt als Teil ihrer Bandfamilie gefühlt. Sie sind absolut wunderbare Menschen, vor allem sind sie aber eine fantastische Live-Band und so voller positiver Energie – ich liebe sie. Ebenfalls ein echtes Herzensprojekt war die Zusammenarbeit mit den Jungs von THRICE. Wir haben sie damals dreimal mit auf Tour genommen, als sie noch sehr, sehr jung waren. Na ja, wir waren nur unwesentlich älter, aber waren ihnen bandmäßig ein paar Jahre voraus. Und zu guter Letzt sind da natürlich noch die Gastauftritte von Popeye Vogelsang und Dallas Green, die mir ebenfalls unglaublich viel bedeuten, weil es einfach gute Freunde sind. Es war etwas ganz Besonderes, dass das alles geklappt hat, obwohl wir nie wirklich etwas davon geplant hatten. Es hat sich einfach so ergeben und ich fühle mich sehr geehrt, dass sie bereit waren, uns zu unterstützten, und dass ihr Name nun ebenfalls die Platte ziert.
Daneben hast du mit „Echo the halls“ nahezu zeitgleich auch noch deinen ersten neuen Solo-Song seit sechs Jahren aufgenommen und warst dafür ebenfalls mit Ryan Williams in den Black Bear Studios in Gainesville, wo ja auch „Vows“ entstanden ist. Stehst du noch immer in Kontakt mit den Leuten vor Ort, zum Beispiel No Idea Records?
Na ja, ich habe noch immer viele Freunde in Gainesville und auch ein Teil meiner Familie lebt dort. Insofern wird das natürlich immer auch irgendwie meine Heimat bleiben. Was No Idea Records betrifft – keine Ahnung was sie machen, mit ihnen habe ich nichts mehr zu tun.
Kommt also bald ein neues Soloalbum?
Ja, jetzt kann ich die Katze ja aus dem Sack lassen. Ich habe mit Ryan Williams ein ganzes Album aufgenommen, das hoffentlich Ende 2024 veröffentlicht wird. Ihr müsst euch also noch ein klein wenig gedulden.
Das dürfte viele Fans freuen, denn dein letztes Soloalbum liegt bereits sechs Jahre zurück.
Das ist in der Tat eine verdammt lange Zeit und, klar, ich kann es kaum erwarten, dass die Platte rauskommt. Natürlich steigt da die Spannung und ich bin tatsächlich ziemlich aufgeregt. Eigentlich sollte das Album bereits 2023 veröffentlicht werden, aber wir hatten viele Verzögerungen und auch so einige Durchhänger während des Aufnahmeprozesses. Wenn ich dir jetzt aber die ganze Geschichte dazu erzählen würde, wäre das genug Stoff für ein zweites Interview, haha. Es ist eine Platte, von der ich fast dachte, dass sie nie mehr erscheinen würde. Aber Daumen drücken, dass es nun so klappt, wie wir uns es vorgestellt haben. Das Ganze wird übrigens auf Rise Records erscheinen, wo ja vor kurzem auch „Echo the halls“ rauskam. Und wenn ich ehrlich bin, freue ich mich auch schon darauf, noch mehr Solo-Songs zu schreiben und mal zu sehen, was damit passiert.
Ohnehin warst du gerade erst mit THE CAMARADERIE auf Europatour. Wie lief es?
Fantastisch! Wir schlossen die Tour mit zwei Shows im Vorprogramm der BROILERS ab. Das war echt eine große Ehre! Riesige Shows in Düsseldorf vor 15.000 Zuschauern. Wir hatten eine wunderbare Zeit mit den Jungs und Mädels. Mann, glaube mir, ich bin einfach nur dankbar, von solch großartigen Musikern und lieben Menschen umgeben zu sein – es ist ein Segen. Ich genieße diese Solo-Shows genauso sehr, wie die mit HOT WATER MUSIC. Das Besondere daran ist, dass da von jung bis alt wirklich jeder im Publikum steht. Omas und Opas, Eltern, die mit ihren Kids gemeinsam zum Konzert kommen, alte Punkrocker und HOT WATER MUSIC-Fans. Und natürlich auch Leute, die zum allerersten Mal mit meiner Musik in Berührung kommen, was es natürlich noch viel reizvoller macht.
Dann wird 2024 für dich wahrscheinlich ein sehr, sehr volles und vielversprechendes Jahr, oder?
Ich kann es gar nicht mehr erwarten. Ja, es steht verdammt viel auf dem Programm und unser Terminplan ist bereits vollgepackt bis oben hin. Im Mai ist die Veröffentlichung von „Vows“, und im Herbst kommen wir auf Anniversary-Tournee auch zu euch nach Deutschland.
Du kannst dir sicher sein, dass die Vorfreude riesig ist. Allein eure Vorab-Single „Menace“ hat nach nur vier Tagen die Marke von 100.000 Klicks gesprengt, und wenn man sich so umhört, wird die November-Tour förmlich ein Punkrock-Klassentreffen werden.
Das ist total verrückt und wir als Band sind einfach nur dankbar für diesen Zuspruch und die Unterstützung seit nunmehr dreißig Jahren! Ohne euch wären wir nicht hier. Ich hoffe, ihr spendiert uns dann auch Feuerwerk und einen großen Kuchen!
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25 Jahre später
HOT WATER MUSIC
No Division (LP, Some Records, 1999)
Guten Tag. Hätten Sie einen Moment Zeit, um mit mir über Genres und Schubladen zu sprechen? Das ist schön. Sehr gerne, für mich bitte mit Milch, zwei Stück Zucker und einem Schuss Whiskey, danke! Post-Hardcore? Nun, hier wäre ein mehr oder weniger festgelegter Zeitpunkt nötig, hinter dem sich versammelt und neu aufgestellt wird, damit das Präfix Sinn macht. Als HOT WATER MUSIC 1994 in Gainesville gegründet werden, käme man je nach Rechenart schon auf Post-Post-Hardcore oder Post-Post-Post-Hardcore. Emo(-core)? Natürlich ist es erwähnenswert, dass Hardcore gefühlsmäßig irgendwann aufgebrochen ist, sogar aus eigenem Antrieb heraus. Auf der anderen Seite sind auch Wut und Aggression Emotionen. Nach innen gekehrt ist das bestenfalls reflektiert, im schlimmsten Fall übermäßig nachdenklich oder fast schon depressiv. Passt hier, wenn überhaupt, nur bedingt. Einfach nur Punkrock – ein zu weites Feld für wirklich erhellende Koordinaten, ich weiß auch nicht. Was ich weiß, ist, dass „No Divison“ der Moment ist, in dem Jason Black, George Rebelo, Chuck Ragan und Chris Wollard stilistisch zur eigenen Hausmarke werden. Produziert von Walter Schreifels und auf dessen Label Some Records veröffentlicht, enthält das bis dato dritte Album („Finding The Rhythms“ von 1995 war eine Zusammenstellung von frühen 7“s und Sampler-Beiträgen) der Band fokussierteres Material im Vergleich zu „Fuel For The Hate Game“ und „Forever And Counting“. Beide erschienen 1997 und ihr Charme lag in ihrem teils zerfaserten Charakter. Dagegen kommen die elf Songs auf „No Division“ direkter auf den Punkt. Mehr LEATHERFACE (mit denen sie sich nicht nur die Bühne auf gemeinsamen Touren teilten, sondern auch „Volume 1“ der „BYO Split Series“) und weniger FUGAZI. Die Namen AVAIL, SAMIAM und JAWBREAKER würde ich noch ins Spiel bringen wollen, weil diese zusammen mit HOT WATER MUSIC prägend für eine Spielart waren (beziehungsweise immer noch sind), die im Midtempo-Bereich literweise Herzblut und Alkohol verschüttet. Dafür gibt es zig dumme Namen und es hat spätestens in den letzten 25 Jahren für eine scheinbar endlose Fülle an Bands und Veröffentlichungen gesorgt. Irgendwo zwischen Lyricsheet und Liveshow kann aussortiert werden, nicht zuletzt aufgrund von Inhalten. Auf „No Division“ finden sich gleich mehrere Sätze für die Ewigkeit. „A culture that says we are better/or worse than anyone that’s not like us/That’s not like us“, „Hey world are you listening/Listening to me, I’m here and I’m hurting/To begin again“ oder einfach nur „Live your heart and never follow“. Wer das plakativ nennen will, dem ist wahrscheinlich nur kurzzeitig das Wort „ergreifend“ entfallen.
Lars Koch
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