Geoff Berner ist ein Phänomen. Wie ein einzelner Mensch, bewaffnet nur mit einem Akkordeon, seiner zugegebenermaßen tollen Stimme und einer, nun ja, betrunkenen Aura, es schafft, eine ganze Kneipe zu fesseln, ist schon beeindruckend. Auch wenn es äußerlich und stimmlich sicherlich überhaupt nicht zutrifft, hat der Kanadier etwas von Tom Waits. Das verschmitzte Grinsen, die Art, Geschichten zu erzählen und eine leichte Verrücktheit. Wenn man ihm einmal begegnet ist und ihn auf dem Weg zum Konzertort gesehen hat, mit Anzug, Mantel und Hut, den Akkordeonkoffer in der Hand, noch nüchtern, aber schon leicht schwankend einen seiner Songs singend, weiß man vielleicht, was ich meine. Hinzu kommt, dass seine Interpretation von traditioneller Musik, in seinem Fall die jüdische Variante namens Klezmer, eine sehr wilde, leidenschaftliche und somit absolut hörenswerte ist. Da Geoff in Deutschland bisher nicht allzu bekannt ist, gibt es hier jetzt die Möglichkeit, ihn etwas genauer kennen zu lernen.
Wie bist du zur Musik gekommen und was hat dich dazu inspiriert? Und was sind deine musikalischen Wurzeln, beziehungsweise was war die erste Musik, die du mochtest?
Die erste Musik, die ich viel gesungen hab, war heilige jüdische Musik in der Synagoge. Meine Eltern hatten LPs vom Folkmusik-Revival aus den 60ern, wie PETER, PAUL & MARY und dem KINGSTON TRIO. Ich hatte ein Pete Seeger-Album, das ich liebte. Es ist toll zu sehen, dass ein Superstar wie Bruce Springsteen ihn wieder prominent macht. Ich war ein merkwürdiges kleines Kind und ich mochte die dunklen, satirischen Songs von Tom Lehrer wie "Poisoning pigeons in the park" und Shel Silverstein, beispielsweise "Boy named Sue". Ich kam nicht wirklich mit Punkrock in Berührung, bis ich als Teenager begriff, dass Leute wie Jello Biafra eigentlich in der politischen, satirischen Folktradition schreiben, bloß mit verzerrten Gitarren und schnellen Drums. Als ich die Musik von Billy Bragg und Shane McGowan und den POGUES entdeckte, hörte ich, wie man die Energie und die Power von Punkrock wieder mit der Folktradition verbinden kann. Auf eine bestimmte Art zeigten sie auf, wie die Dunkelheit, die es schon immer in der Folkmusik gab, von Leuten beschönigt und versüßt wurde, die Folkmusik vermarktbarer und anständiger machen wollten. Die Band, in der ich während der 90er gespielt hatte, TERROR OF TINY TOWN, war sehr eklektisch. Ich experimentierte als Songwriter, versuchte zu verstehen, welche Elemente einen Song zu einem bestimmten Stil machen. Wie viel braucht es, um einen Ska-Song zu einem Lounge Jazz-Song oder einem Metal-Rocker zu machen? Als ich anfing, Musik zu machen, waren eine Menge Leute, mit denen ich zusammen spielte, in Bands, die die Musikpresse "Alternative Country" nennt. Sie nahmen die Musik ihres eigenen Erbes und brachten sie mit den Ideen des Punkrocks zusammen. Nach einer Weile wurde mir klar, dass ich die gleiche Sache mit der Musik meines eigenen Erbes machen wollte, nämlich Klezmer. Als Songwriter ist es für mich das Wichtigste, Lieder zu schreiben, die nicht schon einmal geschrieben worden sind. Besonders regen mich Klischees in Texten auf.
Wie bist du auf die Idee gekommen, Akkordeon zu lernen und seit wann spielst du? Ist das Akkordeon generell beliebt in Kanada oder wird es auf einer Bühne eher skeptisch beäugt?
Ich spiele jetzt 13 Jahre Akkordeon. Eigentlich war ich Klavierspieler. Dann war ich besoffen auf einer Party und verkündete im Scherz, dass ich ein Akkordeonist werden wollte. Also gab mir da jemand eins in die Hand. Danach hat es mein Gehirn eingenommen. Einer der Gründe, warum ich es am Anfang so gerne gespielt hab, war, dass die meisten Leute in Kanada das Akkordeon nicht mochten. Der Punkrocker in mir schloss daraus: Wenn es die meisten Leute nicht mögen, dann ist es bestimmt eine gute Idee. In den letzten paar Jahren aber wurde es immer beliebter. Die Leute verstanden, dass all die Witze und schlechten Meinungen über das Akkordeon bloß ein Manifest des ethnischen Selbsthass waren. Heutzutage sind die Leute eher empfänglich für die Idee, traditionelle Musik zu machen und traditionelle Instrumente sind wieder lebendig. Im Spätsommer werde ich übrigens ein Buch veröffentlichen namens "Wie wird man Akkordeonspieler". Es ist ein unkonventionelles Lehrbuch. Ich hoffe, alle, die daran interessiert sind, werden es mal antesten
Worum geht es dir bei deinen Songs und deiner Musik?
Wie gesagt, versuche ich, Songs zu schreiben, die es noch nicht gibt. Das ist mein größtes Ziel. Was ich meine, ist, was auch immer du schreibst, es ist dein Job, kleine Stücke der Welt aufzuzeigen, die du bemerkt hast, die aber der Aufmerksamkeit anderer Leute entgangen sind. Und du solltest über Aspekte der Welt nachdenken, die die Menschen vielleicht bemerkt haben, denen sie aber nicht die passende Aufmerksamkeit entgegengebracht haben. Denn wenn du über irgendwas schreibst, dann verherrlichst beziehungsweise glorifizierst du diese Sache, denn jeder Song ist ein Gebet, und indem man etwas in ein Gebet packt, preist man es, auch wenn es eine schlechte Sache ist. Zum Beispiel, wenn THE WEAKERTHANS darüber singen, wie schlecht sich die Stadtplanung der Stadt Winnipeg entwickelt hat, verunglimpfen sie die Stadt natürlich, aber gleichzeitig wird sie auch glorifiziert, weil es impliziert, dass die Stadt Winnipeg es wert ist, in einem Lied aufzutauchen. Das ist etwas, was eine Menge aufstrebender Rockbands aus Winnipeg niemals geglaubt hätten, bevor THE WEAKERTHANS das gemacht haben. Sie dachten, man kann über New York schreiben, über Los Angeles, London und vielleicht das Mississippi-Delta, aber nicht über die eigene Heimatstadt. Also glaube ich auch an den Versuch, Lieder zu schreiben, die die Leute benutzen können. Das heißt, Songs, die Menschen vor sich hersummen können, um ihre eigene Lage irgendwie zu verbessern. In letzter Zeit schreibe ich hauptsächlich Lieder, die ich "New Jewish Drinking Songs" nenne. Nicht, dass sie nur für Juden oder Trinker zu verstehen wären. Aber ich versuche, mit Aspekten meiner eigenen Identität als ein halb integrierter kanadischer Jude zu arbeiten und herumzuspielen. Für mich selbst, um sinnvolle Songs zu schreiben, die es noch nicht gab, und um besser fähig zu sein, darüber zu grübeln, wer ich sein mag, was ich mit meinem Leben tun sollte, und wie ich mich damit fühlen sollte, am Leben zu sein.
Du sagtest etwas von wegen: die Energie des Punkrock mit Folkmusik zu verbinden ... Ist die traditionelle Klezmermusik zu leblos für dich, vielleicht eher was fürs Museum? Ich hab mal irgendwo gelesen, dass du Sex, Alkohol und so weiter zurück in den Klezmer bringen willst ...
Für mich kann es mit "Revivals" traditioneller Musik Probleme geben. Ein Problem ist, dass Musiker ihren Lebensunterhalt bestreiten wollen, und um dies zu tun, verändern sie manchmal ihre Art zu spielen, um einem Publikum zu gefallen, das sie bezahlen kann. Oder, um auf den Punkt zu kommen, bestimmte Gruppen in der Gesellschaft haben mehr Geld als andere, und deshalb geht es Musikern, die diesen Gruppen gefallen, finanziell besser als anderen. Kulturfestivals, die von staatlichen Mitteln oder Unternehmensstiftungen unterstützt werden, reiche, ehrbare Leute, die Geld haben, eine "traditionelle" Liveband für ihre Hochzeit oder Feier zu buchen, oder sogar Universitäten - sie wollen auf ihren Veranstaltungen keine Songs übers Ficken, sich besaufen oder die Kehlen deiner Feinde aufschlitzen. Sie wollen anständige Lieder. Eine gewisse Menge dieser Inhalte ist akzeptabel, wenn es sich um eine fast tote Sprache handelt, die das Publikum nicht verstehen kann. Aber Gott verbietet es, dass irgendwer etwas klar Verständliches und Triftiges über die aktuelle Situation der Leute sagt. Und Gott verbietet, dass sich irgendwer von dem Inhalt angegriffen fühlen darf, obwohl es eine lange Liste etwa von Klemzer-Songs übers Ficken, sich besaufen und bestimmte Führer tot sehen wollen gibt. Das ist also das eine Problem. Ein anderes ist, dass Klezmer fast von den Deutschen ausgerottet worden ist, und dann auch von dem Druck der Amerikaner, sich der Kultur anzupassen. So mussten die Revivalisten des Klezmer sehr hart arbeiten, um zu versuchen, Klezmer zu bewahren, besonders um herauszufinden, wie er gespielt wurde. Sie mussten viel Wissenschaft und kreative Mutmaßungen betreiben, um dieses lobenswerte Ziel zu erreichen. Es ist wirklich großartig, dass sie das getan haben. Das einzige Problem damit ist, und das ist nicht nur der Fehler dieser Musiker und Wissenschaftler, dass es zu der Idee führt, es gäbe eine Art "pure" oder "echte" Klezmermusik. Und natürlich tötet diese Idee die lebendige Kultur ab. Das Großartige an Klezmer - und an Jazz, an Blues, an Rembetika und an allem anderen Guten - ist, dass es eine blubbernde, merkwürdige Steinzeitsuppe von einem Bastard war, mit geliehenen und gestohlenen Einflüssen, die im Laufe der Jahre mutierte. Der Klezmer, den die meisten Leute als Klezmer kennen, ist wie Blues, Jazz oder Rembetika nicht besonders alt, weniger als hundert Jahre. Ich bin froh, dass diese Leute ihre Hausaufgaben gemacht haben und Klezmer vor dem Vergessen bewahrt haben. Aber jetzt ist es mein Job, so wie ich es sehe, ihn nach vorne zu bringen, ihn für das Leben der Menschen wichtig zu machen, auf die Art und Weise, wie es 1928 war. Das beinhaltet zum Beispiel, dass er mit neuen Worten gesungen wird, in einer für Klezmer neuen Sprache - Englisch. Alan Bern, ein großartiger Klezmer-Revival-Akkordeonist, fragte mich vor kurzem: "Wie kannst du deine Musik ?Klezmer' nennen, wenn sie nicht auf Yiddish ist?" Das veranschaulicht den Unterschied zwischen Typen wie ihm und mir. Meine Antwort war: "Shane McGowan singt nicht auf Irisch-Gälisch. Macht er deshalb keine irische Musik?"
Wer sind die beiden Musiker, mit denen du deine CDs aufgenommen hast? Bei deiner letzten Tour waren sie nicht dabei, sind sie normalerweise mit dir zusammen unterwegs?
Die beiden Musiker sind Wayne Adams, der Percussionist, und Diona Davies, die Violinistin. Sie kommen beide von der Westküste Kanadas, wie ich auch. Aber ich brachte sie auf meiner Forschungsreise mit nach Rumänien, und sie stehen sehr auf Klezmer und Zigeunermusik. Sie sind beide verrückt und wunderbar. Diona ist besonders verrückt, du musst sie einfach mal treffen. Ich würde sie gerne mit mir auf Tour nehmen, aber ich möchte sie auch bezahlen können, so dass ich sie erst mitnehme, wenn die Tour genug Geld bringt. Ich bin mit ihnen aber auch schon dreimal durch Europa und ebenso oft durch Kanada getourt.
Im April und Mai warst du mal wieder quer durch Europa unterwegs. Wie war die Tour? Gab es irgendwelche besonders Erlebnisse?
Meine letzte Tour war in vielen Punkten die beste. Letzten Herbst habe ich die großartige norwegische Band KAIZERS ORCHESTRA durch ganz Europa supportet. Das lief verdammt gut. Also war der Plan, nach Musikbusinessüberlegungen, fast nur in den Orten zu spielen, wo ich auch schon im Herbst gespielt hatte. Ich wollte schauen, ob irgendwelche Leute, die mich mit den Kaizers gesehen hatten, wiederkommen würden, um mich allein zu sehen. Ein Experiment. Und das Experiment gelang. Nicht überall, aber an vielen Orten. Ich habe jetzt ein echtes Publikum in Dänemark, in der Schweiz, Österreich, Holland und teilweise in Deutschland und im Vereinigten Königreich. Plus Norwegen, wo die Dinge schon vorher gut gelaufen waren. Bars voller Leute, die wirklich zuhören und verstehen, worum es in den Songs geht. Verrückt! Jeder Musiker träumt von so was. Natürlich können Gigs immer noch auf die unterschiedlichsten Arten ablaufen. In Haarlem habe ich die fantastische Erfahrung gemacht, wie ein kleiner Rockstar behandelt zu werden, wobei am Abend zuvor im SOMA in Hannover nur vier Leute aufkreuzten und die Bar versuchte, mir die Gage zu kürzen und den Opening-Act, Kersten Flenter, gar nicht zu bezahlen. Bis ich dabei war, mit einem 600 Euro teuren Stereomikrofon aus der Bar zu latschen, da haben sie mich bezahlt. Situationen wie diese sind es, in denen die Erfahrungen von zehn Jahren auf der gefrorenen Straße der kanadischen Bar-Welt verdammt nützlich sein können.
Wie organisierst du so eine Tour? Ich meine, sie geht über einen Monat, viele verschiedene Länder, du bist allein unterwegs ... Wie reist du und wo übernachtest du? Hast du dafür eine Booking-Agentur oder so was?
Es ist ein Netzwerk von Freunden und regionalen Agenten. In der Schweiz habe ich einen Schweizer Agenten, in Österreich einen aus Österreich. In Norwegen bucht meine Konzerte das Label CCAP. Es sieht so aus, dass ich für die nächste Tour einen deutschen Agenten haben werde. Diese letzte Tour war ziemlich hektisch. Ich bin in fünf Wochen neunmal geflogen. Alles sauste irgendwie vorbei, in einem logistischen Durcheinander. Als ich mit dem Touren anfing, hab ich meistens kein Geld für die Gigs bekommen und es stand bestimmt kein Hotelzimmer bereit. Meistens hab ich dann bei Leuten geschlafen, die ich abends beim Konzert kennen gelernt hatte. Auf diese Art hab ich ein paar gute Freunde gefunden. Heute bekomme ich in über der Hälfte der Orte, an denen ich spiele, ein Hotelzimmer. Aber von den früheren Touren hab ich gute Freunde überall auf der Welt, also lasse ich das Hotelzimmer oft irgendwie ausfallen und bleibe bei ihnen. Touren ist eine gute Sache, wenn es darum geht, alte Freunde wieder zu sehen.
Wie steht es derzeit um die Underground-Musikszene in Kanada?
Es ist schwer, diese Unterscheidung zwischen Underground und allem anderen zu machen. Am Ende versucht jeder, Platten zu verkaufen. Aber derzeit sind die Majorlabels so getrieben davon, auf kurze Sicht Gewinn zu machen, dass sie hier in Kanada neuerdings etwas verloren gehen, mit ihren Boybands und ihren Bemühungen, Wegwerf-Popstars zu vermarkten. Unterdessen läuft es für Bands auf den Indielabels ziemlich gut. Sie mögen ein paar weniger CDs verkaufen als die Majors, aber sie geben soviel weniger für Promotion, Werbung und anderen Schwachsinn aus, dass sie eigentlich viel bessere Profite machen.
Du machst ja nun schon etliche Jahre Musik. Kannst du mittlerweile davon leben?
Ich kann vom Musikmachen leben. Ich habe keinen anderen Job oder so. Ich habe mein Auskommen, wenn auch kein besonders großes. Ich würde aber auch nichts anderes tun wollen. Ich hab das, was man eine Fangemeinde nennt, am meisten in Kanada und Nordeuropa. Es gibt eine Werbung für eine Biersorte hier in Kanada, deren Slogan lautet "Die, die es mögen, mögen es sehr". Ich würde sagen, das beschreibt meine Fans sehr gut.
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