ENVY

Foto© by Ota Yoshiharu

Hoffnungsschimmer in Moll

ENVY ist eine Band der Ambivalenz. Sie sind Meister der triumphalen Untergangsstimmung, denn ihr Zugriff auf wütenden Hardcore einerseits und Post-Rock als Ruhepuls andererseits ist in seiner Intensität herausragend. Die Musiker um Sänger Tetsuya Fukagawa sind in den 1990er Jahren zunächst Pioniere von rasendem Hardcore, der von Thrash Metal beeinflusst ist. Mit einem mitreißenden Punk-Furor ist es ENVY nach und nach gelungen, die Grenzen von Hardcore zu verwischen. Ihre ikonischen japanischsprachigen Spoken-Word-Passagen wie die Hinwendung zum Post-Rock bei weiterhin ungezügelter Härte verhalfen dem Quintett bis heute zu einer Ausnahmestellung. Auch auf ihrem achten Album „Eunoia“ lassen sich ENVY schwer fassen. Die beiden Gründungsmitglieder, Sänger Tetsu und Gitarrist Nobukata Kawai, geben darüber Auskunft.

Eunoia“ ist griechisch und derart schwierig zu übersetzen, dass eine kanadische Autorin ihr Online-Lexikon, das sich genau mit dem Phänomen beschäftigt, eunoia.world genannt hat: „Words that don’t translate.“ Gibt man dort „Eunoia“ ein, wird folgende annäherungsweise Übersetzung vorgeschlagen: „A well-mind; beautiful thinking.“ Was hat euch zu diesem positiven Albumtitel bewogen und inwieweit verhandeln die Texte Ideen eines guten Willens und von schönem Denken?

Tetsu: Vielleicht hatte ich die Absicht, den Zuhörer:innen durch meinen Text gute Energie und positive Gedanken zu vermitteln. Die Songs enthalten eine Botschaft, die von Hoffnung, Liebe und von innerem Frieden handelt, die zu Empathie ermutigt und dazu anregt, Verständnis für andere aufzubringen. Insbesondere geht es darum, negative Situationen und Gefühle zu überwinden und eine positivere Perspektive einzunehmen. Durch diese Texte hoffe ich, die Hörer:innen dazu zu bringen, positive Gedanken und Wohlwollen für sich selbst und die Welt um sich herum zu hegen. Das ganze Album hat ein durchgängiges Thema, das mit dem Titel „Eunoia“ zusammenhängt.

In der griechischen Mythologie und Philosophie ist auch die Bedeutung eures Bandnamens, der Neid, eingehend beleuchtet worden. Führte die Hinwendung ins Griechische zu einer erneuten Auseinandersetzung mit eurem Bandnamen und mit dem Konzept des Neids?
Tetsu: „Envy“ ist ein Wort mit einer emotionalen und komplexen Bedeutung. Neid zu verspüren ist eine destruktive und negative Emotion und gleichzeitig ein wesentlicher Teil davon, ein Mensch zu sein. Die Band wählte diesen Namen aus, um sich auf die dunkle Seite des menschlichen Innenlebens und der Emotionen zu fokussieren und das in Form von Musik auszudrücken.

Würdet ihr eurem Bandnamen heute eine andere Bedeutung beimessen als damals?
Tetsu: In der Anfangsphase drückte er das Gefühl des Neids wohl deutlich unmittelbarer aus, aber im Laufe der Zeit erweiterten sich die Bedeutung und Interpretation. Als sich die Band weiterentwickelte, änderte sich meiner Meinung nach auch die symbolische Bedeutung des Namens ENVY von der direkten Bedeutung in den Anfangstagen hin zu einer tieferen, eher philosophischen Fragestellung. Mit uns hat sich im Laufe der Zeit also vermutlich auch Bedeutung und Konzept geändert.

Auf „Eunoia“ habt ihr euch so weit wie nie von Hardcore und Screamo entfernt. Der Sound ist für eure Verhältnisse ziemlich relaxt. Außerdem ist das Album ungewöhnlich kurz. Was hat zu dieser Entwicklung geführt? Gibt es einen Zusammenhang zwischen der stilistischen Veränderung, der Stimmung und der Albumlänge oder sind das separate Eindrücke?
Tetsu: Der Wandel in der Musik von ENVY von der intensiven Energie der Vergangenheit zu etwas Introspektivem mag zu der kompakten und verdichteten Form des gesamten Albums geführt haben. Es war eine bewusste Entscheidung, das Album kurz zu halten, um deutlich zu machen, welchen Schwerpunkt die Musik hat, und um für die Hörer:innen den Inhalt der Lyrics stimmig und konsequent zum Ausdruck zu bringen.
Nobu: Dass wir uns auf den ruhigen Aspekt konzentrieren, liegt meiner Meinung nach einfach daran, dass wir älter geworden sind. Das Konzept, das ich mir vor dem Songwriting-Prozess überlegt habe, war, eine Weltanschauung auszudrücken, die die häufige Verwendung von Moll-Tonarten erlaubt. Ich wollte mich selbst herauszufordern und ein kompaktes Album schreiben. Es war für uns nicht selbstverständlich, Musik zu machen, in der Moll-Tonarten eine so große Rolle spielen. Ich hatte eigentlich geplant, mehr Songs für das Album zu berücksichtigen, aber ich denke, einer der Gründe für die relative Kürze von „Eunoia“ ist, dass ich alles, das sich zu offensichtlich von den vorliegenden Songs unterscheidet, von dem Album entfernt habe.

Das Album enthält einen schönen Spannungsbogen. Hat dieser sich organisch ergeben oder erzählt „Eunoia“ eine zusammenhängende Geschichte?
Nobu: Wir haben unsere Songs nicht komponiert, um eine kohärente, albumübergreifende Geschichte zu erzählen. Unser Kompositionsstil ist jedoch einheitlich. Wir folgen nur den emotionalen Schwankungen, die im Alltag vorkommen.

Nachdem ENVY 2016 mit dem endgültigen Ausscheiden von Gitarrist Masahiro Tobita und Schlagzeuger Dairoku Seki und des kurzzeitigen Austritts von dir, Tetsu, fast vor der Auflösung standen, wirkte der Vorgänger „The Fallen Crimson“ 2020 wie ein künstlerischer Befreiungsschlag. Ist seitdem ein stärkeres Bewusstsein dafür entstanden, dass von nun an, im vierten Jahrzehnt eures Bestehens, jede musikalische Richtung möglich ist?
Tetsu: „The Fallen Crimson“ war ein Wendepunkt für ENVY. Dieses Album markiert die Ankunft der Band in einer neuen Phase, und ich denke, es ist das Ergebnis des Loslassens früherer musikalischer Zwänge und selbst auferlegter Grenzen auf der Suche nach größerer kreativer Freiheit. Im Zuge der Entstehung dieses Albums waren wir in der Lage, uns selbst zu entdecken und diesen Prozess als musikalische Evolution und Veränderung zu begreifen. Diese Erfahrung hat ENVY die Freiheit eröffnet, ein breiteres Spektrum an musikalischen Richtungen als je zuvor zu verfolgen. Wir sind höchst interessiert daran, weiterhin innovative und unvorhersehbare Musik kreieren zu können, ohne an vergangene Veröffentlichungen gebunden zu sein.
Nobu: Wir versuchen immer, unsere früheren Bemühungen und Arbeiten zu respektieren. Denn Menschen neigen dazu, auch wichtige Dinge schnell zu vergessen. Denkt daran, das Erreichte wertzuschätzen! Ein Werk kann nur mit Unterstützung der Familie und der Freunde und als Kooperation der gesamten Gruppe vollendet werden. Durch wiederholtes Ausprobieren Schritt für Schritt voranzukommen, ist ein unersetzlicher Prozess. Erst nach dieser Erfahrung ist das Werk vollendet. Unsere alten Alben sind kostbar, angefüllt mit Prozessen, Emotionen und schönen Momenten, die nur zur damaligen Zeit möglich waren. Das wird sich nicht mehr ändern. Wir wollen vermitteln, was wir jetzt fühlen, ohne die Dankbarkeit und Liebe zu vergessen.

Meine Frage zielt dahin, dass ich es mir sehr kompliziert vorstelle, eine der Bands zu sein, anhand derer musikgeschichtlich ganze Hardcore-Strömungen definiert werden. Beeinflusst die Vielzahl der eigenen Veröffentlichungen im Laufe eurer Historie heute den Songwriting-Prozess?
Nobu: Unsere vergangenen Werke haben uns zu dem gemacht, wer wir jetzt sind. Die Leute sagen uns oft, wir sollten zum aggressiven Sound der frühen ENVY zurückkehren, aber das ist unmöglich. Ich kann nicht mit der Kraft der Jugend mithalten, mit der wir damals gegen alles rebelliert haben. Es gibt Zeiten im Leben, in denen man sehr verletzt wird, und es gab Zeiten, in denen ich mit der Musik aufhören wollte. Diese negativen Gedanken und Gefühle überwunden zu haben, hat auch zu einem künstlerischen Wachstum geführt.

Möchtet ihr noch etwas mitteilen, das euch an der neuen Platte besonders wichtig ist?
Tetsu: Wir fordern uns selbst immer wieder heraus, um unsere Grenzen zu erweitern und neue musikalische Territorien zu erkunden. Wir hoffen, dass auch dieses Album mit Klängen und Stimmungen gefüllt ist, die für die Hörer:innen neue Erfahrungen bereithalten. Unsere Arbeit wird von der aktuellen gesellschaftlichen Situation und persönlichen Erfahrungen beeinflusst, und diese Gedanken spiegeln sich in dem Album wider. Alle Lieder und Texte geben Zeugnis ab über die Gegenwart und beinhalten individuelle Emotionen. Das gesamte Album erzählt eine Geschichte. Dieses neue Album ist das Resultat unserer eigenen Entwicklung und Teil eines neuen Dialogs mit unseren Hörer:innen.