Seit mehr als dreißig Jahren sind die Japaner ENVY nun schon unterwegs, gelten unter Liebhabern als absolute Institution im Post- und Screamo-Bereich. Nun steht das neunte Studiowerk in den Startlöchern. Es ist eine ausgesprochen persönliche Scheibe geworden, wie uns Gitarrist und Gründungsmitglied Nobukata Kawai erklärt.
Eunoia“ ist eure erste Platte seit vier Jahren. Kannst du den Entstehungsprozess zeitlich kurz skizzieren?
Kurz nach der Veröffentlichung unseres vorangegangenen Albums „The Fallen Crimson“ ist die Pandemie ausgebrochen und alle unsere geplanten Touren wurden abgesagt. Inmitten der Angst, dass wir vielleicht nie wieder vor Menschen auftreten könnten, dachte ich mir, ehe ich zu Hause sitze und gar nichts mache, kann ich auch was schreiben. Also nahm ich meine Gitarre und begann zu komponieren. Ich glaube, ich habe im Sommer 2020 damit angefangen. Das Ganze fühlte sich allerdings nicht wirklich wie Schreiben an. Eher habe ich Part nach Part nach Part zu einem großen Vorrat zusammengeworfen. Mitte 2023, als ein normales Leben halbwegs wieder möglich war, haben wir uns dann ernsthafter damit auseinandergesetzt. Wir haben uns eine Frist gesetzt, sind die gesammelten Ideen durchgegangen, haben die guten genommen und daraus neue Songs komponiert. Gedauert hat das etwa drei Monate. Der letzte Monat war dann wirklich nicht einfach. Aber wir alle haben unsere Ansichten fair ausgetauscht und hatten bis zum Abgabetermin alle Songs fertiggestellt.
Ihr habt im Vorfeld erklärt, dass es beim Schreiben auch darum ging, euch eurer eigenen „Machtlosigkeit“ zu stellen. Was hat es damit auf sich?
Im April 2020, als die Pandemie anlief, hatte meine kleine Tochter einen Verkehrsunfall, als sie an einem Ferientag in der Nachbarschaft spielte. Es war ein schwerer Unfall, bei dem es um Leben und Tod ging. Ich konnte nicht helfen, nur noch mit meiner Frau zum Mond beten. Ich wünschte mir so sehr, dass ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Dass es mein Leben gewesen wäre und nicht ihres, das in Gefahr war. Wie durch ein Wunder überlebte sie, und als ihr Arzt uns ein Jahr später bei einer Kontrolluntersuchung mitteilte, dass wir uns keine Sorgen um irgendwelche Nachwirkungen machen müssen, wurde mir klar, dass ich noch so viele Tränen in mir hatte. Ich erinnere mich noch immer an die Schönheit der Sonne, die schien, als ich auf dem Heimweg vom Krankenhaus war. Die Songs „Piecemeal“, „The night and the void“ und „January’s dusk“ sind angefüllt mit meinen Gedanken aus dieser Zeit.
Wie fühlst du dich heute?
Wie gesagt, es war für uns alle keine leichte Zeit, während der die Songs entstanden sind. Ich fühle mich jetzt ein wenig erleichtert, weil ich den damaligen Schmerz hinter mir gelassen habe und gleichzeitig alle Mitglieder mit dem fertigen Album zufrieden sind. Wenn wir irgendwann auf Tour gehen und die Menschen da draußen die neuen Songs mögen, könnte es das erste Mal sein, dass ich mich wirklich glücklich fühle.
Was schätzt du selbst am meisten an „Eunoia“?
Es steckt sehr viel Persönliches von uns in den Songs. Aber natürlich wollen wir auch die Leute da draußen unterhalten. Die Band würde ohne die Menschen, die unsere Musik hören, nicht existieren. Mir fällt es schwer, es am Ende auf eine Sache herunterzubrechen, aber ich schätze, es ist die Tatsache, dass es ein Album ist, das man immer wieder anhören kann.
Ihr habt Anfang der 1990er Jahre zu fünft angefangen. Vor sechs Jahren haben euch dann zwei Gründungsmitglieder verlassen. Auch euer Sänger Tetsuya Fukagawa hatte sich zwischenzeitlich eine Auszeit genommen. Mittlerweile seid ihr seit 2018 zu sechst unterwegs. Hat sich das neue Line-up schon gefunden?
Jahrelang zu fünft um die Welt reisen zu dürfen, ist bis heute für uns alle ein großer Gewinn. Damals, am Anfang, war die Situation nicht leicht für uns. Wir hatten kaum Geld, aber es war eine wirklich lustige Zeit. Masahiro Tobita, unser Gitarrist, und Drummer Dairoku Seki sind dann irgendwann ausgestiegen. Wir können die Zeit nun nicht mehr zurückdrehen und haben uns jetzt dazu entschlossen, zu sechst weiterzumachen. Nicht zuletzt, um nicht immer an der Vergangenheit gemessen zu werden. Wir wollten als Band neugeboren werden. Die neuen Mitglieder, also die beiden Gitarristen Yoshimitsu Taki und Tsuyoshi Yoshitake sowie Schlagzeuger Hiroki Watanabe, sind der Grund dafür, dass wir heute immer noch da sind und auch immer weiter vorankommen.
Über einen so langen Zeitraum eine Band am Laufen zu halten, erfordert viel Hingabe, Opfer und harte Arbeit. Wie erschöpfend ist das? Und was gibt euch die Motivation weiterzumachen?
Natürlich gibt es immer wieder Schwierigkeiten, aber ich fühle mich nicht müde. Wir kommen sehr gut miteinander aus. Wir sind einfach ein paar Freunde, die weiterhin die Musik spielen, die wir mögen. Eine Motivation, die uns weitermachen lässt, ist vor allem unsere Dankbarkeit gegenüber unseren Fans, Freunden und der Familie, die uns schon so lange unterstützen. Aber ich denke, das Wichtigste ist, dass wir es einfach lieben, Musik zu machen.
Gibt es bestimmte Rituale, die ihr in der Band seit Anfang an pflegt?
Tatsächlich ja. Ein Ritual, das immer gleich geblieben ist, ist eine Jahresendfeier mit allen Mitarbeitern und Freunden, die uns geholfen haben. Wir gehen dann seit jeher immer in dasselbe Restaurant. Das ist jedes Mal aufs Neue sehr schön.
Wie werdet ihr in eurer Heimat wahrgenommen? Und gibt es Unterschiede zu Reaktionen außerhalb Japans?
In letzter Zeit haben wir in Japan eine Zunahme des weiblichen Publikums erlebt, es kommen mehr Frauen zu unseren Shows. Das ist schön. Und ich habe generell das Gefühl, dass unsere Musik allmählich besser verstanden wird. Die Sprache und die Kultur sind in jedem Land anders und so sind auch die Reaktionen unterschiedlich. Aber egal in welchem Land wir spielen: Die Leute genießen in der Regel die ruhigen Teile und explodieren wie verrückt, wenn es spannend wird. Ich bin einfach froh, dass sie uns verstehen.
Welche konkreten Pläne habt ihr für die nahe Zukunft?
Wir haben eine Menge Ziele und Pläne. Aber unser unmittelbares Ziel ist es natürlich, mit dem neuen Album auf Tour zu gehen. Ich freue mich darauf, euch alle da draußen zu sehen!
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