Sie sind eine jener Institutionen des Punks hierzulande, die einfach da sind. Ohne sie würde etwas fehlen. Aber gleichzeitig fliegen sie eben immer noch unter dem Radar der großen Öffentlichkeit. Woran das liegt? Vielleicht daran, dass EMSCHERKURVE 77 ganz einfach nur ihr Ding machen wollen, wie uns Daniel als Gitarrist und einer von zwei Sängern erklärt. Und vielleicht auch daran, dass sie diesen eher regionalen Bezug haben: Die Bandmitglieder kommen allesamt aus dem Ruhrpott. Sie schreiben – wenn auch nicht ausschließlich – Songs über den Pott. Und sie haben mit „Stimmen der Stadt“ jetzt ein neues Album am Start, das diese Liebe zum Pott einmal mehr im Titel sowie im einen oder anderen Song ausdrückt.
Daniel, „Stimmen der Stadt“ heißt euer neues Album. Das Cover zeigt eine düstere Stadtansicht im Regen – vorne eine Straße, im Hintergrund eine Industrieanlage. Typisch Ruhrpott. Typisch EMSCHERKURVE 77 aus Oberhausen. Ist Oberhausen auch deine Stadt?
Nein. In meinem Fall – und im Falle des Covers – ist das nicht Oberhausen, sondern Duisburg. Deswegen werde ich bei Konzerten auch regelmäßig ausgebuht, haha. Dabei haben wir unsere Bandfotos eigentlich immer schon in Duisburg gemacht. Da gibt es einfach die besten Locations und Motive.
Dort habt ihr auch euren Proberaum, oder?
Genau. Der liegt in einem Bunker in der Altstadt. Und die ist eben nicht so das beste Pflaster der Stadt. Gleich auf der gegenüberliegenden Straßenseite lag zum Beispiel dieses Bandidos-Hauptquartier, wo sie damals jemandem in den Kopf geschossen haben. Direkt daneben ist wiederum die Vulkanstraße, also die Duisburger Puffstraße. Aber das passt ja irgendwie auch alles zu uns. Dieses Schmuddelige.
Klingt die Stimme der Stadt also schmuddelig und dreckig?
Sagen wir so: Der Plattentitel hat verschiedene Bedeutungen. Zum einen bezieht er sich auf die Tatsache, dass wir ja alle aus verschiedenen Städten kommen: Oberhausen, Duisburg, Spiller wurde ja sogar in Delmenhorst geboren. Da kommen viele Stimmen zusammen. Und er sagt auf der anderen Seite natürlich auch aus, dass die Stadt an sich – etwa Duisburg – irgendwie auch dreckig klingt, wenn man so will. Und das ist aus meiner Sicht auch die Grundstimmung dieses Albums. Wohlgemerkt: thematisch und textlich. Musikalisch nicht. Da hat „Stimmen der Stadt“ ja eine ganz andere Qualität, basierend auf der Produktion. Da ist nichts dreckig.
Der Begriff „Heimat“ ist nicht zuletzt in Punk-Kreisen ziemlich verpönt und umstritten – wenn auch vor allem aufgrund seiner nationalistischen Konnotation. Ist der Ruhrpott für dich nun Heimat im positiven Sinne?
Ja, so sehe ich das. Zu 100%. Ich glaube, ohne diesen Bezug zu unserer Heimat Ruhrpott würde es uns als EMSCHERKURVE 77 in der Form nicht geben. Dann würden wir eine andere Art von Musik machen. Wir sind schon extrem getrieben von dem, was wir hier so um uns herum haben. Das thematisieren wir die ganze Zeit. Einerseits geht es um die Stadt. Aber es geht auch um die Erlebnisse, die wir in dieser Stadt haben. Gerade auf der neuen Platte befinden sich auch viele Songs, die genau das beschreiben und die vielleicht gar nicht so typisch für EMSCHERKURVE 77 sind. In denen geht es um Beziehungen und Erfahrungen – gerade in den vergangenen Jahren. Weißt du, ich bin in der Corona-Zeit zum ersten Mal Vater geworden. Und das ist natürlich krass, total einschneidend. Und auch das hat natürlich Einfluss genommen aufs Songwriting.
Aber frotzeln deine Kollegen bei derlei romantischen Anflügen nicht auch mal, so von wegen: „Das ist kein Punk! Das geht nicht!“?
Ich habe echt Angst gehabt, dass genau das kommt, haha. Aber es war wirklich nicht so. Ganz im Gegenteil. Gerade von demjenigen, von dem ich das am wenigsten erwartet hätte, gab es Zuspruch, von Spiller, haha. Wir hatten weit über zwanzig Songs. Aber du kannst ja kein Album mit zwanzig Songs rausbringen. Also haben wir gesagt, wir müssen aussieben. Und ich hatte, als es an die Entscheidung ging, schon so ein bisschen Sorge gehabt, dass eben dieser Song wegfällt. Aber Spiller meinte sofort: „Nee, der Daniel hat einen Song über seine Frau geschrieben. Den müssen wir auf jeden Fall auf dem Album lassen. Das ist cool.“
Ist Spiller als einer von zwei Frontmännern und Sängern, der ja auch häufig andere Bands bei deren Touren als Mercher oder Roadie begleitet, derjenige bei euch, der den Punkrock am meisten lebt?
Klar. Durch und durch. Sammy von den BROILERS hat mal gesagt: „Der Spiller ist eure Galionsfigur.“ Und das trifft es genau! Insofern ist es natürlich auch klar, dass in dem Moment, in dem Spiller sagt, ein Song ist schlecht, dieser Song auf den Prüfstand kommt.
Aus welcher Zeit stammen eure neuen Songs?
Die ersten Stücke, die von mir und Marcel komponiert wurden, standen schon relativ kurz nach dem letzten Album „Brandgefährlich“, also 2017. Dann kam Corona, die Aufnahmesituation änderte sich völlig. Und ich bin froh, dass wir das unter den Bedingungen dann trotzdem alles so unter einen Hut bekommen und umsetzen konnten. Denn wir haben natürlich gestiegene Ansprüche an uns. Die konnten wir umsetzen. Darauf bin ich wirklich stolz.
Markiert „Stimmen der Stadt“ als Album einen Meilenstein für euch? Ist es mehr als nur ein neues Album?
Darüber haben wir uns ehrlich gesagt gar keine Gedanken gemacht. Wir klingen einfach, wie wir klingen. Und genau das ist das Geile an dieser Band: Es passiert eben einfach. Wir nehmen uns nie irgendetwas vor. Wir sind oftmals wirklich völlig planlos unterwegs. Und das ist am Ende des Tages gar nichts Schlimmes. Im Gegenteil, gerade deshalb entstehen Dinge von alleine. Und wenn sie von alleine entstehen, sind sie meist viel schöner, als wenn du sie minutiös geplant hast – und womöglich doch scheiterst.
Was auffällt an „Stimmen der Stadt“: Die Platte klingt so melodisch wie keine eurer Platten zuvor.
Wir wollten irgendwie mehr Schönheit reinbringen. Ich habe während des Aufnahmeprozesses schon viel Wert darauf gelegt, sehr viel in die Songs reinzupacken. Sie sollten sehr vielschichtig sein. Und daraus resultiert auch diese Konzentration aufs Melodische.
Düster. Hässlich. Dreckig. So wirkt das Cover. Haben Düsternis und Dreck etwas Schönes an sich?
Ja. Und das Cover hat beides: Die Schönheit der Schönheit. Und die Schönheit der Hässlichkeit. Genau diesen Kontrast findest du ja hier. Da hast du natürlich – egal, ob Oberhausen, Essen oder Duisburg – eine Industriestadt, die sicherlich keine Schönheit ist, die aber trotzdem ein großes Herz hat, weil die Menschen in ihr ein großes Herz haben. Und das ist genau der Punkt: Wir wollten ein Album machen, das sich musikalisch schon ein Stück weit von dem absetzt, was wir bisher gemacht haben. Aber auf der anderen Seite wollten wir natürlich nicht, dass es nicht mehr nach EMSCHERKURVE 77 klingt.
Ein Song heißt „Glück auf“ und handelt natürlich von den früheren Gruben im Ruhrpott. Das ist ein Klischee, mit dem gerne gespielt wird, von dem aber kaum mehr etwas übrig geblieben ist.
Marcel hat diesen Song geschrieben, als die letzte Zeche im Ruhrgebiet plattgemacht wurde. Das ist noch gar nicht so lange her. 2017, 2018 herum. Das bedeutet, wir hatten einen relativ aktuellen Bezug. Und das Stück dreht sich ja auch darum, dass man heutzutage vom Bergbau nichts mehr sieht. Es ist ja alles dicht. Dennoch haben die Gruben die Region sehr geprägt und sie überhaupt erst zu dem gemacht hat, was sie heute ist. Und wir berichten ja auch davon, wie es heute aussieht. Das ist, denke ich, in Ordnung. Und man darf auch nicht vergessen: Dieses Thema hat ja irgendwie auch eine Tradition für uns als Band. Nur hätten wir jetzt eine Platte gemacht, auf der zehn Songs zu diesem Thema wären, dann wäre das in der Tat lächerlich gewesen.
Viele Institutionen des Ruhrgebiets kokettieren ja gerne mit mit der früheren Zechenkultur. Und das mitunter übertrieben. Beim FC Schalke 04 etwa laufen Fußballer durch einen auf Kohleschacht getrimmten Tunnel aufs Spielfeld, die keine Ahnung von der Materie haben. Der Club verpasst sich das nostalgische Image des Arbeitervereins, obwohl es um Millionen geht. Fragwürdig, oder?
Ich denke auch, dass man genau schauen muss, wer was macht. Und ich finde das Beispiel mit Schalke und den Jungs, die durch den Tunnel laufen und keinen Bezug zu der Region haben, keinen Bezug zu den Menschen haben, schon passend. Da muss man ganz klar sagen: Da wird mit einer Attitüde PR und Geschäft gemacht. Und das finde ich in gewisser Weise ganz schon ekelerregend. Das macht für mich vieles kaputt.
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