Das Punk-Triumvirat des Ruhrpotts besteht aus LOKALMATADORE, KASSIERER und EISENPIMMEL. Ohne Zweifel! Ohne Zweifel? Nein. Denn mit EMSCHERKURVE 77 ist seit 15 Jahren eine Band aktiv, die – bei allem Respekt – mittlerweile die geschmeidigere, stärker im Punk verwurzelte Musik spielt. Das beweist auch die neue Platte „Buch des Lebens“, die zuletzt zu den „Top of the Ox“ gehörte. Wir trafen die Band im Proberaum zum ersten Interview über das neue Album überhaupt. Die Gitarristen Marcel und Daniel und allen voran Frontmann Spiller berichten über den Status quo des Quintetts.
Einer der ersten Songs auf eurem neuen Album heißt „Alte Zeiten“. Das hört sich intensiv nach „Früher war alles besser“ an. Warum trauert ihr der Vergangenheit nach?
Marcel: Das tun wir gar nicht. Mir ist der Text auf dem Weg zur Arbeit eingefallen, als ich mit dem Fahrrad durch die Stadt fuhr. Da kam ich – wie immer – an vielen Plätzen vorbei, an denen ich als Jugendlicher tolle Sachen erlebt und an die ich eine entsprechend schöne Erinnerung habe. Das war also eine eher angenehme Sache. So nach dem Motto: „Genieße die Erinnerung an damals, denn jetzt ist eine andere Zeit. Aber auch die ist schön.“
Wie lange habt ihr an „Buch des Lebens“ gearbeitet?
Spiller: Im März 2014 haben wir angefangen, die ersten Stücke aufzunehmen. Aber viele der Lieder sind älter. Das reicht über Jahre zurück.
Marcel: Und gerade vor diesem Hintergrund ist es für mich erstaunlich, wie gut sich diese Songs auch nach so langer Zeit noch anhören. Sie gehen mir noch nicht auf die Nerven, haha.
Ist das denn sonst der Fall, also könnt ihr eure eigenen Lieder nach einer gewissen Zeit nicht mehr hören?
Spiller: Das ist immer so eine Sache ... Als ich neulich mit meiner Freundin nach Dortmund fuhr, war „Lieder aus der Kurve“ von 2008 die einzige CD, die im Auto lag. Ich habe sie mir also gezwungenermaßen zum ersten Mal seit Jahren wieder angehört. Und ich muss sagen: Das ist ganz schön schlecht, dieses Album, haha.
Eine ehrliche Meinung zur eigenen Musik ist das. Aber eure 2011 veröffentlichte Platte „Dat soll Punkrock sein?!“ habt ihr ja selbst als musikalischen Wendepunkt bezeichnet. Sie klingt anders, professioneller als alles zuvor. „Buch des Lebens“ setzt diesen Trend jetzt fort, ohne den schnellen, harten EMSCHERKURVE 77-Sound zu verlieren. Könnte man sagen: Ihr entwickelt euch weiter, ohne euch zu verändern?
Marcel: Hört sich seltsam an, aber genau so empfinden wir das auch. „Dat soll Punkrock sein?!“ war damals die erste Platte, die wir ohne unseren alten Sänger Böhle aufgenommen hatten. Es war also die erste Platte, bei deren Aufnahme wir wirklich frei waren ...
Spiller: Man muss dieses Thema jetzt nicht noch einmal breittreten. Aber man kann ruhig noch mal sagen: Vorher wurde immer alles unterbunden. Da durfte man keine Musik und keine Texte einreichen. Da wurde alles von Böhle entschieden.
Und das hat die Kreativität gekillt?
Marcel: Ja. „Dat soll Punkrock sein?!“ und nun „Buch des Lebens“ sind viel homogener entstanden. Bei „Lieder aus der Kurve“, die Platte vor dem Bruch, lief das anders. Da standen wir schon im Studio – und ständig hatte Böhle plötzlich noch irgendwelche Songteile parat, die unbedingt noch auf die Platte sollten und für die wir dann schnell etwas Halbgares zusammenbasteln mussten. Das war Flickschusterei. Mittlerweile sind wir sehr gut vorbereitet, wenn es an die Aufnahmen geht. Bei „Buch des Lebens“ waren 95% der Songs vor der Studiozeit fertig. Und das ist der Idealfall.
Musikalisch hat das neue Album einen sehr amerikanischen Punk-Einschlag.
Daniel: Richtig. Und das ist gewollt. Damit stechen wir aus der Masse raus. Das ist nicht nur Oi! – in diese Schublade werden wir ja gerne gesteckt –, das ist abwechslungsreicher.
Im Song „Von Null auf Hundert“ singt ihr von Metal, Hardcore und Punk in einem Satz. Das zeigt ja schon: Ihr sprecht mehrere Arten von Rock und Rockfans an.
Marcel: Wir wollen eben niemanden von unserer Musik ausschließen.
Und das seit nunmehr 15 Jahren ...
Spiller: Richtig. Wir feiern das aber nicht. Das sind nur Zahlen.
Das ist vor allem ein kleines Jubiläum – und ihr habt nichts geplant?
Spiller: Nein. Haben wir noch nie gemacht. Wir halten ja auch nichts von Record-Release-Shows. Die Leute sollen einfach die Platte hören.
Warum so einfallslos?
Spiller: Das hat nichts mit Einfallslosigkeit zu tun. Es wird heutzutage einfach nur zu viel Bohei veranstaltet. Da wird die Musik zum Nebenprodukt. Platten in Pizzakartons, Platten mit T-Shirts und Fahnen und Kunstdrucken? Nein!
In eurem neuen Stück „Harte Jungs“ geht es um ein altes Thema: Die Glaubwürdigkeit, die man in der Punk-Szene haben sollte. Wie wichtig ist die heutzutage?
Daniel: Sehr wichtig. Du hast so viele Poser in der Szene. Schau dir mal die Videos an, in denen brave Leute gangmäßig in Bomberjacke über die Straße laufen und aggressiv gucken. Das nervt!
Marcel: Ich hatte beim Schreiben des Textes diese bescheuerte Onkelz-Schiene im Kopf, auf der jetzt alle fahren: Auf einmal gibt es so viele Bands, deren Musiker alle eine schwere Kindheit hatten und durch die Hölle gegangen sind ... Das ist doch lächerlich!
Spiller: Wir wollen uns da bewusst abgrenzen und hantieren daher bislang nicht mit Schusswaffen. Ein Beispiel: Als wir unser aktuelles Musikvideo zu „Bei uns im Revier“ drehten, sollten wir auf die Kamera zulaufen und böse gucken. Aber: Keine Chance! Wenn das AGNOSTIC FRONT machen, habe ich Verständnis dafür. Aber sonst geht das gar nicht. Das ist eben nicht authentisch.
Im Song „Eure Szene“ haut ihr auf die Grauzonen-Wächter der Oire Szene-Website ein.
Spiller: Aus gutem Grund. Als die Leute von Oire Szene mit ihrem ersten Blog anfingen und Verbindungen aufdeckten, von denen man mitunter gar nichts wusste, war das noch gut und sinnvoll. Aber irgendwann scheinen denen die Themen ausgegangen zu sein. Da reichte dann schon ein falscher Facebook- oder MySpace-Freund, um eine Band in eine Schubladen zu stecken, in die sie gar nicht reingehört. Das ging klar über das Ziel hinaus. Hätten die Verantwortlichen richtig recherchiert, mit der Angabe von Quellen und einer Kommentarfunktion, dann okay. Aber so stellen die sich seitdem hin und sagen: „Wir bestimmen, was gut und böse ist!“ Sie biegen sich die Wahrheit zurecht. Und man hat keine Möglichkeit, Einfluss zu nehmen.
Wie sehen eure eigenen Erfahrungen mit Oire Szene aus?
Spiller: Da war lange nichts und wir haben uns schon gefragt, wann wir da wohl zum ersten Mal auftauchen, haha. Immerhin sind wir ja gut mit einer Band wie STOMPER 98 befreundet, die bei denen lächerlicherweise ins Visier geriet. Wir mussten tatsächlich erst mit RANCID spielen, um bei Oire Szene aufzutauchen. Und darüber waren wir regelrecht enttäuscht, haha. Jeder Punk in Deutschland würde seinen Arm dafür geben, um mit RANCID zu spielen. Und was bekommen wir? Einen Eintrag bei Oire Szene!
Ein Versprechen auf „Buch des Lebens“ lautet: „Wir werden immer Punkrock sein“. Was macht Punkrock aus?
Marcel: Dass wir das tun, auf das wir Bock haben.
Spiller: Und dass wir nicht in die Deutschrock-Ecke abdriften.
Ich möchte behaupten, dagegen seid ihr musikalisch gefeit.
Spiller: Sind wir das? Ich hoffe es. Aber in dem einen oder anderen Review über uns habe ich so was schon gelesen. Wenn du etwas mit metallastigen Gitarren machst, dann landest du schnell in dieser Ecke.
Was tut ihr gegen die Vereinnahmung als Deutschrockband?
Spiller: Wir haben klare Vorstellungen, in welchem Rahmen wir auftreten. Wir würden etwa zum Beispiel niemals beim „Ehrlich und laut“-Festival auftreten. Da wurden wir mal angefragt – und haben abgesagt. Da sind Leute im Publikum, mit denen wir nichts anfangen könne. Die sollen ihr Ding machen. Wir machen unseres.
Hand aufs Herz: Schielt ihr manchmal auch rüber zu einer Band wie den BROILERS, die aus eurer Szene kommt und plötzlich im Mainstream Erfolg hat?
Spiller: Nein. Natürlich läuft bei den BROILERS gerade so, dass angesichts dessen viele kleine Bands sagen: Das wollen wir auch! Aber für uns ist das nichts. Wenn’s klappen sollte – gerne! Aber wir legen es nicht drauf an. Außerdem muss man ja auch sagen: Bei den BROILERS stimmt das Gesamtkonzept.
Das soll heißen?
Spiller: Dicke alte Männer aus Oberhausen verkaufen sich nicht so gut wie eine hübsche junge Band aus Düsseldorf, haha.
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