Es ist gewiss nicht übertrieben, von einem höchst ereignisreichen Jahr für Chuck Ragan zu sprechen. So veröffentlichte er erst kürzlich ein neues Album mit seiner Hauptband HOT WATER MUSIC und legt nun direkt mit seinem sechsten und von den Fans heiß ersehnten Solo-Album „Love And Lore“ nach. Doch was auf den ersten Blick wie Fließbandarbeit wirken könnte, war vielmehr ein langer, und äußerst schmerzhafter Prozess. Fast, so schildert es Chuck ganz offen, wäre die Veröffentlichung des Albums komplett gescheitert. Wie er dafür Kraft aus dem Rhythmus der Natur schöpfte, lest ihr im nachfolgenden Interview.
Chuck, erst kürzlich sprachen wir miteinander, als das neue HOT WATER MUSIC-Album „Vows“ veröffentlicht wurde, und jetzt kommt schon dein neues Solo-Album „Love And Lore“ raus.
Ja, die Ereignisse überschlagen sich förmlich. Ich schreibe eigentlich immer an neuem Material und sammle Ideen, egal, ob für die Band oder mein Solo-Projekt. Die größte Herausforderung ist es jedoch, Zeit für die Fertigstellung der Songs zu finden, und dafür müssen wir lange im Voraus planen.
Fühlen sich deine mehr als drei Dekaden im Musikgeschäft retrospektiv so an wie eine große, zusammenhängende Reise oder eher wie einzelne Stationen und Phasen deines Lebens?
Ich fühle mich sehr geehrt und demütig, dass nicht nur die Band diesen Meilenstein erreicht hat, sondern auch unsere Freunde, Familien und Unterstützer. Wir haben das alle gemeinsam geschafft. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit, um irgendetwas zu tun, und die Veränderungen und Phasen oder Kapitel des Lebens, wenn man so will, ändern sich in dieser Zeit drastisch. Ich bin jedoch dankbar, dass sich das grundlegende Thema und der Zweck von HOT WATER MUSIC sowie meiner eigenen Musik nie geändert haben. Es ist also wie eine große Reise mit vielen Zwischenstopps.
Dein letztes Solo-Album „The Flame In The Flood“ wurde vor acht Jahren veröffentlicht. Wie kam es zu dieser langen Pause?
Diese lange Zeitspanne hatte viele Gründe. Ein großer Teil davon war eine Kombination aus der Tatsache, dass HOT WATER MUSIC anfangs sehr beschäftigt waren, gefolgt von der Pandemie. Viele von uns in der Musikbranche mussten ziemlich kreativ werden, um einen Weg zu finden, unsere Familien zu ernähren. Unser Lebensunterhalt steht an erster Stelle – erst danach folgt das Musikmachen. Während der Pandemie habe ich mich mehr als alles andere auf mein Geschäft mit Fliegenfischer-Chartertouren und -Unterricht konzentriert. Natürlich habe ich hier und da ein bisschen geschrieben, aber wir konnten uns nicht mehrere Wochen am Stück frei nehmen, um uns auf die Aufnahmen zu konzentrieren.
Du hast in unserem letzten Gespräch auch erwähnt, dass du „Love And Lore“ eigentlich schon 2023 veröffentlichen wolltest. Da steckte also der Wurm drin, oder?
Das ist richtig. Rückblickend fühlte es sich so an, als ob „Love And Lore“ ein Album ist, das irgendwie niemals mehr erscheinen würde. Wenn also irgendetwas passieren konnte, was uns aufzuhalten oder die Veröffentlichung zu verhindern drohte, dann war es genau das – wir waren es selbst. Es war wie verhext. Und als wir nach Abschluss des Produktionsprozesses endlich alle bereit für die Veröffentlichung waren, überschnitt sich das mit dem dreißigjährigen Jubiläum von HOT WATER MUSIC. Also haben wir kollektiv beschlossen, noch etwas zu warten.
Sind die neuen Songs also schon vor etwas längerer Zeit entstanden?
Viele wurden zwischen 2015 und 2021 geschrieben oder zumindest begonnen. Natürlich hält man andauernd irgendwelche Ideen und Fragmente fest, aber bis sich daraus ein fertiger Song entwickelt, dauert es oft Jahre. Manchmal muss ich Dinge einfach erst mal liegen lassen, um mich ihnen später wieder mit neuer Muße und Aufmerksamkeit widmen zu können. Zeitlich fällt „Love And Lore“ also in die Zeit vor, während und nach der Pandemie. Das waren mitunter harte Jahre für mich und meine Familie. Und das ist natürlich auch ein Grund, warum das Album erst heute das Licht der Welt erblickt.
Gibt es eine bestimmte Kernbotschaft, die sich durch die neuen Songs zieht?
Ich würde sagen, viele von ihnen sind Lieder der Reflexion. Der Blick zurück auf vergangene Fehler oder Hindernisse. Wir erkennen unseren gegenwärtigen mentalen Zustand und tun unser Bestes, um bei einer positiven Geisteshaltung zu bleiben. Ja, das beschreibt die Message von „Love And Lore“ ganz treffend glaube ich.
Und liegen dir bestimmte Songs ganz besonders am Herzen?
Das tun sie alle, mein Freund! Wenn es jemals einen Tag gibt, an dem ich einen Song schreibe, der mir nicht am Herzen liegt, dann ist das der Tag, an dem ich aufhören muss.
Nun sprichst du ja auch von deinem Solo-Projekt immer in der Wir-Form. Die Bandfamilie steht also auch hier ganz klar im Mittelpunkt. Wer ist diesmal als Gastmusiker:in mit dabei?
Richtig, ich sehe das absolut als Familiending und ohne meine Freunde und Mitmusiker:innen wäre es einfach nicht dasselbe. Auf „Love And Lore“ dabei ist zum Beispiel Spencer Duncan am Bass, mit dem ich vorher bislang noch nicht zusammengespielt habe. Ein unglaublicher, großartiger Mensch und Musiker. Todd Beene natürlich auch, der Pedal-Steel gespielt hat. Dann selbstverständlich noch George Rebelo von HOT WATER MUSIC und eine ganze Reihe weiterer Freunde. Es ist immer ein Abenteuer, diese ganzen talentierten Leute in unserem Umfeld in gemeinsame Projekte einzubinden. Und das soll auch so bleiben.
In „One more shot“ singst du ein wunderschönes Duett mit einer Sängerin. Um wen handelt es sich und worum geht es in diesem Song?
Das ist Paige Anderson, eine wunderbare Songwriterin und Sängerin aus Las Vegas. Sie ist einfach unglaublich begabt und hat eine absolut fantastische Stimme! Der Titel des Songs verrät eigentlich schon alles: Es geht um den letzten Versuch, die letzte Chance, etwas ganz Bestimmtes im Leben zu erreichen. Und ich denke, das ist etwas, mit dem sich jeder irgendwie identifizieren kann. Jeder kennt diesen Moment, in dem man spürt: Jetzt oder nie.
Du sagtest einmal in einem älteren Interview, dass das Albumcover ein ganz wesentlicher und untrennbarer Teil einer Platte ist. Das Artwork für „Love And Lore“ zeigt ein kleines, selbstgebasteltes Segelboot, das auf einem See schwimmt. Sind also Liebe und Weisheit, so die Übersetzung des Albumtitels, als Kompass zu interpretieren, der unserem Schiff auf hoher See die richtige Richtung weist?
Ja, genau so ist es! Und die Geschichte hinter dem Cover ist wunderschön. Mein Sohn, der damals sieben Jahre alt war, hat dieses kleine Boot in der Schule gebastelt. Er war sehr stolz darauf und wollte es unbedingt in unseren Teich setzen, um zu sehen, ob es seetüchtig ist. Er tat es, und eine Windböe blies es aus seiner Reichweite. Er hatte Angst, dass es sinken würde, und war sehr aufgeregt. Ich erklärte ihm, dass es entweder den Weg zum Ufer oder nach Hause finden würde, oder es würde mit einem anderen Schiff in Kontakt kommen, welches es wieder sicher zu uns nach Hause geleitet. Als wir dabei zusahen, wie das Boot erfolgreich schwamm und über den Teich segelte, machte ich zufällig ein schnelles Foto von diesem Moment, der uns beide irgendwie mit großem Stolz erfüllte. Später sah Scott Prior, ein Künstler und guter Freund von uns, das Foto und malte ein Bild davon für meinen Sohn und mich. Es passt perfekt als Cover von „Love And Lore“ und steht synonym für die Bedeutung und die Lektion, die wir beide an diesem Tag lernten. Es liegt mir wirklich ganz besonders am Herzen.
Mit den Jubiläumstouren von HOT WATER MUSIC bist du 2024 ohnehin schon sehr stark eingespannt. Wie passt hier dein Solo-Programm noch dazwischen, vor allem als Familienvater?
Alles, was ich heute mache – abgesehen von diesem Interview –, war schon vor einem Jahr geplant. Das ist der einzige Weg, wie ich mich durch all das durchschlagen kann. Solange ich dabei einen kühlen Kopf bewahre und gut plane, läuft alles glatt. Wenn ich das nicht tue, kann es sehr chaotisch und schwierig für die Familie werden. Insofern ist es schon ein regelrechter Spagat für mich.
Du bist vor kurzem schon mit THE CAMARADERIE durch Europa getourt. Da waren auch einige sehr große Shows dabei, richtig?
Ich genieße es immer sehr, nach Europa zu kommen. Wir touren dort schon so viele Jahre, dass wir gewissermaßen zusammen mit unseren mit Freunden dort groß geworden sind. Es ist für uns immer etwas Besonderes, egal, ob es sich um kleine, intime Shows handelt oder um die Möglichkeit, vor einem riesigen Publikum aufzutreten, das uns zum ersten Mal sieht. Kurz vor Weihnachten 2023 spielten wir gemeinsam mit den BROILERS in Düsseldorf zwei „Santa’s Action Club“-Shows. Das war schon toll, vor 15.000 Menschen auf der Bühne zu stehen. Und es war wunderbar, Zeit mit all unseren großartigen Freunden und Bekannten zu verbringen. Daher kann ich es kaum erwarten zurückzukehren. Ich möchte „Love And Lore“ so gut wie möglich repräsentieren und auch wenn es eine Menge Arbeit und einen großen logistischen Aufwand darstellt, würde ich die Band sehr gerne wieder mitbringen.
Ist die Solo-Arbeit auch eine willkommene Abwechslung, bei der du dich irgendwie freier fühlst, oder bilden du und deine Bandkollegen da ebenfalls eine Symbiose?
Ich liebe es, Songs zu schreiben und dabei mit anderen zusammenzuarbeiten und Ideen auszutauschen. Todd Beene und ich haben für „Love And Lore“ wirklich ziemlich viel zusammen gemacht. Sicherlich ist es in gewisser Weise etwas freier als bei HOT WATER MUSIC, wo wir ja fünf gleichberechtigte Songwriter sind, die sich alle zu gleichen Teilen einbringen. Aber alles hat seine Vor- und Nachteile. Grundsätzlich empfinde ich aber das Schreiben und die Zusammenarbeit mit anderen als sehr angenehm und befreiend, solange man aufgeschlossen bleibt und kreative Kompromisse eingehen kann. Und das gelingt mir schon immer ziemlich gut.
Nun bist du ja ein begeisterter Naturliebhaber und passionierter Angler. Inwieweit gibt es da Parallelen oder Unterschiede zum Musikmachen? Ist das für dich wie Yin und Yang?
Der Aufenthalt am Wasser und in der Natur ist ein wichtiger Teil meines Lebens, er ist wichtig für mein mentales Gleichgewicht. Es geht dabei um so viel mehr als nur um Fische. Es verbindet mich mit Mutter Natur und dem, was ich „die wirkliche Welt“ nenne. Ich brauche einfach beide Welten und sie gehören definitiv zusammen. Viele meiner Lieder und Melodien schreibe ich in der freien Natur. Wenn man der Natur genau zuhört, findet man in ihr Rhythmus und Harmonie.
Das ist doch gewiss auch eine gute Möglichkeit, Familie und Musik unter einen Hut zu bringen, oder?
Genauso ist es, ja. Wo wir leben, sind wir von Natur umgeben. So oft es geht nehme ich also meinen Sohn mit und wir verbringen Zeit zusammen. Er wächst somit in einem gesunden Mikrokosmos auf und erlebt die Lebenszyklen von Käfern, Pflanzen und Tieren mit. Er liebt angeln und das Bogenschießen, an manchen Tagen spielen wir Fußball, tanzen oder liefern uns einen kleinen Schwertkampf. Er ist für alles zu haben. Und meine Gitarre habe ich ohnehin dabei, so dass ich auch immer spontane Ideen festhalten kann. Insofern ist das tatsächlich ideal für den Spagat zwischen Familienleben und Musik.
Lass uns zu guter Letzt noch einen Blick in die Zukunft werfen. Wie sehen deine Pläne für die kommenden Monate aus?
Das wird sich zeigen. Auf jeden Fall werde ich noch mehr Musik schreiben und will noch mehr Songs und Alben veröffentlichen. Mit HOT WATER MUSIC haben wir gerade auch ein sehr cooles Projekt in Planung, an dem wir mit Freunden arbeiten und das 2025 spruchreif werden soll. Aber da müsst ihr euch noch gedulden, ich möchte noch nicht allzu viel verraten. Im Moment bereite ich mich erst einmal darauf vor, nach Alabama zu fahren, um ein paar Videos für „Love And Lore“ zu drehen. Euch allen möchte ich zum Schluss noch einmal herzlichen Dank sagen für eure langjährige, treue Unterstützung – ich weiß das wirklich zu schätzen und ich erachte es nicht als selbstverständlich! Für uns seid ihr alle Teil der Familie.
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